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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 20.07.2021, Az.: XIII ZB 106/19
Haftanordnung gegen einen in die Bundesrepublik eingereisten algerischen Staatsangehörigen aufgrund Stellens eines Asylantrags unter Angaben falscher Personalien; Entziehen der Ausweisung durch Selbstverletzung
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 20.07.2021
Referenz: JurionRS 2021, 40202
Aktenzeichen: XIII ZB 106/19
ECLI: ECLI:DE:BGH:2021:200721BXIIIZB106.19.0

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Dresden - 22.05.2019 - AZ: 470 XIV 288/19 B

LG Dresden - 28.06.2019 - AZ: 2 T 424/19

BGH, 20.07.2021 - XIII ZB 106/19

Redaktioneller Leitsatz:

  1. 1.

    Beantragt der Betroffene Einsicht in die Ausländerakte und kündigt er an, die Beschwerde nach Akteneinsicht zu begründen, darf das Beschwerdegericht die Beschwerde erst zurückweisen, wenn es die Einsicht in die Ausländerakte gewährt hat.

  2. 2.

    Einer näheren Erläuterung der erforderlichen Dauer einer beantragten Haft bedarf es nicht, wenn - wie hier - eine Abschiebung mit Sicherheitsbegleitung vorgesehen ist und sich die Behörde auf eine Auskunft der zuständigen Stelle oder entsprechende eigene Erfahrungswerte beruft, wonach dieser Zeitraum bis zu sechs Wochen beträgt.

  3. 3.

    Zwar sind Ausführungen in einem Haftantrag zum Vorliegen oder zur Entbehrlichkeit eines etwa erforderlichen staatsanwaltschaftlichen Einvernehmens geboten, wenn sich aus dem Antrag oder den ihm beigefügten Unterlagen ein laufendes und nicht offensichtlich zustimmungsfreies Ermittlungsverfahren ergibt. Da das Haftgericht bei seiner Prognose nur zu prüfen hat, ob aus einem etwa fehlenden Einvernehmen der Staatsanwaltschaft ein Abschiebungshindernis entsteht, ist es in einem solchen Fall jedoch in der Regel ausreichend, wenn die Behörde darlegt, das erforderliche Einvernehmen liege vor, sei entbehrlich oder werde bis zum vorgesehenen Abschiebungstermin voraussichtlich vorliegen oder entbehrlich geworden sein.

Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 20. Juli 2021 durch den Richter Prof. Dr. Kirchhoff als Vorsitzenden sowie die Richterinnen Prof. Dr. Schmidt-Räntsch, Dr. Roloff, Dr. Picker und Dr. Rombach
beschlossen:

Tenor:

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 2. Zivilkammer des Landgerichts Dresden vom 28. Juni 2019 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe

1

I. Der Betroffene, ein algerischer Staatsangehöriger, reiste am 16. August 2017 nach Deutschland ein. Er stellte unter Angabe falscher Personalien einen Asylantrag, der von dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (fortan: Bundesamt) als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde. Das Bundesamt teilte am 17. Mai 2019 mit, die Voraussetzungen für die Abschiebung lägen vor. Die für den 22. Mai 2019 geplante Abschiebung des Betroffenen scheiterte, weil er sich mit einer Rasierklinge am Bauch verletzte.

2

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht am 23. Mai 2019 Abschiebungshaft bis einschließlich 5. Juli 2019 angeordnet. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen. Nach seiner am 2. Juli 2019 erfolgten Abschiebung nach Algerien möchte der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde festgestellt wissen, dass die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts ihn in seinen Rechten verletzt haben.

3

II. Die gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG mit dem Feststellungsantrag nach § 62 FamFG statthafte und auch im Übrigen (§ 71 FamFG) zulässige Rechtsbeschwerde hat im Ergebnis keinen Erfolg.

4

1. Nach Ansicht des Beschwerdegerichts lagen die Voraussetzungen für die Anordnung der Haft vor. Der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig. Da er sich der Abschiebung entzogen habe, liege der Haftgrund der Fluchtgefahr vor. Das staatsanwaltliche Einvernehmen in Bezug auf die gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren sei erteilt oder nicht erforderlich.

5

2. Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung im Ergebnis stand.

6

a) Allerdings rügt die Rechtsbeschwerde zu Recht, dass über die Beschwerde nicht vor Gewährung der Einsicht in die Ausländerakte und vor Eingang der nach Akteneinsicht angekündigten Beschwerdebegründung hätte entschieden werden dürfen.

7

aa) Beantragt der Betroffene Einsicht in die Ausländerakte und kündigt er an, die Beschwerde nach Akteneinsicht zu begründen, darf das Beschwerdegericht die Beschwerde erst zurückweisen, wenn es die Einsicht in die Ausländerakte gewährt hat (BGH, Beschluss vom 19. Juli 2018 - V ZB 223/17, NVwZ-RR 2019, 122 Rn. 7). Dies folgt aus dem Verfassungsgebot der Gewährung rechtlichen Gehörs (BGH, NVwZ-RR 2019, 122 Rn. 6).

8

bb) Das hat das Beschwerdegericht verfahrensfehlerhaft unterlassen. Der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen hat in der Beschwerdeschrift Einsichtnahme in die Gerichts- und Ausländerakte beantragt und angekündigt, nach Akteneinsicht die Beschwerde zu begründen. Die begehrte Akteneinsicht hat das Beschwerdegericht nicht gewährt.

9

b) Gleichwohl ist die Rechtsbeschwerde nicht begründet. Sie legt zwar nach Einsichtnahme in die im Rechtsbeschwerdeverfahren vorgelegte Ausländerakte dar, was der Betroffene im Fall einer im Beschwerdeverfahren erteilten Einsicht in die Akte vorgetragen hätte. Auf den gerügten Mängeln beruht die Beschwerdeentscheidung jedoch nicht (vgl. BGH, NVwZ-RR 2019, 122 Rn. 11; BGH, Beschluss vom 22. Juni 2021 - XIII ZB 59/20, z. Veröff. best.).

10

aa) Der Haftanordnung liegt ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde zugrunde.

11

(1) Ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungs- oder Überstellungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung oder Überstellung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Zwar dürfen die Ausführungen zur Begründung des Haftantrags knapp gehalten sein; sie müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte ansprechen. Sind diese Anforderungen nicht erfüllt, darf die beantragte Sicherungshaft nicht angeordnet werden (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 15. September 2011 - V ZB 123/11, InfAuslR 2012, 25 Rn. 8; vom 12. November 2019 - XIII ZB 5/19, InfAuslR 2020, 165 Rn. 8; vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 74/19, juris Rn. 7, und vom 23. März 2021 - XIII ZB 6/20, juris Rn. 6).

12

(2) Diesen Anforderungen wird der trotz fehlender Unterschrift formgerechte (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 20. April 2021 - XIII ZB 47/20, juris Rn. 12) Haftantrag gerecht. Das gilt insbesondere für die Ausführungen der beteiligten Behörde zur erforderlichen Dauer der Haft und zur Erforderlichkeit oder Entbehrlichkeit des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft, die der Betroffene für unzureichend hält.

13

(a) Die erforderliche Dauer der Haft musste die beteiligte Behörde nicht näher erläutern. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bedarf es dessen nicht, wenn - wie hier - eine Abschiebung mit Sicherheitsbegleitung vorgesehen ist und sich die Behörde auf eine Auskunft der zuständigen Stelle oder entsprechende eigene Erfahrungswerte beruft, wonach dieser Zeitraum bis zu sechs Wochen beträgt (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 20. September 2018 - V ZB 4/17, InfAuslR 2019, 23 Rn. 11; vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 74/19, juris Rn. 7, und vom 23. März 2021 - XIII ZB 6/20, juris Rn. 8). Die beteiligte Behörde hat sich im Haftantrag auf ihre bisherigen Erfahrungen berufen, wonach eine sicherheitsbegleitete Rückführung nach Algerien innerhalb von sechs Wochen möglich sei. Unter Berücksichtigung des im Haftantrag dargelegten Puffers für allfällige Verzögerungen von zwei Tagen, der auch in der Sache nicht zu beanstanden ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. Oktober 2016 - V ZB 167/14, juris Rn. 13, und vom 24. Juni 2020 - XIII ZB 6/19, juris Rn. 12), ist die Haftdauer nachvollziehbar dargelegt.

14

(b) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde enthielt der Haftantrag hinreichende Angaben zum Vorliegen oder zur Entbehrlichkeit eines staatsanwaltschaftlichen Einvernehmens.

15

(aa) Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind in einem Haftantrag Ausführungen zum Vorliegen oder zur Entbehrlichkeit eines etwa erforderlichen staatsanwaltschaftlichen Einvernehmens geboten, wenn sich aus dem Antrag oder den ihm beigefügten Unterlagen ein laufendes und nicht offensichtlich zustimmungsfreies Ermittlungsverfahren ergibt. Da das Haftgericht bei seiner Prognose nur zu prüfen hat, ob aus einem etwa fehlenden Einvernehmen der Staatsanwaltschaft ein Abschiebungshindernis entsteht, ist es in einem solchen Fall jedoch in der Regel ausreichend, wenn die Behörde darlegt, das erforderliche Einvernehmen liege vor, sei entbehrlich oder werde bis zum vorgesehenen Abschiebungstermin voraussichtlich vorliegen oder entbehrlich geworden sein (BGH, Beschluss vom 12. Februar 2020 - XIII ZB 15/19, InfAuslR 2020, 242 Rn. 9 und Rn. 19).

16

(bb) Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Aus dem Haftantrag ergeben sich vier laufende Ermittlungsverfahren. Es wird ausgeführt, dass das Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaften hinsichtlich der wegen Diebstahls und wegen Missbrauchs von Notrufen geführten Ermittlungsverfahren vorliege und dass das Einvernehmen hinsichtlich des Delikts nach § 95 AufenthG entbehrlich sei.

17

Ohne Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde die Angaben im Haftantrag im Hinblick auf das wegen § 265a StGB geführte Ermittlungsverfahren als unzureichend. Nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG bedarf es des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft nicht, wenn nur ein geringes Strafverfolgungsinteresse besteht. Nach § 72 Abs. 4 Satz 5 AufenthG in der bis zum 20. August 2019 geltenden Fassung (nachfolgend: AufenthG aF) war dies u.a. bei "begleitenden" Straftaten gemäß § 265a StGB zu bejahen, es sei denn, das Strafgesetz war durch verschiedene Handlungen mehrmals verletzt worden oder es war ein Strafantrag gestellt. Dass letzteres der Fall ist, ergibt sich weder aus dem Haftantrag noch den ihm beigefügten Unterlagen.

18

Die beteiligte Behörde hat in ausreichender Weise dargelegt, dass es sich um eine "begleitende" Straftat im Sinne des § 72 Abs. 4 Satz 4 AufenthG aF handelt. Die Formulierung im Haftantrag, "das staatsanwaltschaftliche Einvernehmen zu den Ermittlungsverfahren wegen § 95 AufenthG (...) und wegen § 265a StGB ist nach § 72 Abs. 4 AufenthG entbehrlich, da es sich um ein Delikt nach § 95 AufenthG sowie um eine begleitende Straftat handelt", bringt hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass die beteiligte Behörde davon ausgeht, dass zwischen den beiden Delikten der nach alter Rechtslage erforderliche inhaltliche Zusammenhang besteht (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Juli 2018 - V ZB 179/15, InfAuslR 2018, 415 Rn. 10). Einer weiteren Begründung bedurfte es schon deshalb nicht, weil sich der im Haftantrag durch Angabe der Vorgangnummer in Bezug genommenen und in der dem Amtsgericht vorgelegten Ausländerakte enthaltenen Strafanzeige entnehmen lässt, dass der Tatvorwurf nach § 265a StGB die Einreise des Betroffenen mit dem Zug ohne gültigen Fahrausweis betraf, so dass der unerlaubte Aufenthalt gemäß § 95 AuslG erst durch die Tat nach § 265a StGB ermöglicht wurde. Dies genügt jedenfalls zur Darlegung des inhaltlichen Zusammenhangs der beiden Delikte.

19

bb) Die Haftanordnung war auch in der Sache rechtmäßig. Das Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaften war hier - soweit erforderlich - erteilt (Rn. 16) oder nach der inhaltlich zutreffenden Darlegung der beteiligten Behörde (Rn. 18) entbehrlich.

20

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

Kirchhoff

Schmidt-Räntsch

Roloff

Picker

Rombach

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