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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 10.06.2021, Az.: StB 23/21
Haftbefehl gegen Beschuldigten Syrer wegen des Verdachts einer Mitgliedschaft in der Terrororganisation "Jabhat al-Nusra"
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 10.06.2021
Referenz: JurionRS 2021, 26178
Aktenzeichen: StB 23/21
ECLI: ECLI:DE:BGH:2021:100621BSTB23.21.0

Verfahrensgegenstand:

Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung

BGH, 10.06.2021 - StB 23/21

Redaktioneller Leitsatz:

Hat sich der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen Beteiligung als Mitglied an einer terroristischen Vereinigung im Ausland strafbar gemacht hat und liegen Haftgründe vor, rechtfertigt dies den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft.

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers am 10. Juni 2021 gemäß § 304 Abs. 5 StPO beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Die Beschwerde des Beschuldigten gegen den Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 15. Januar 2020 wird verworfen.

  2. 2.

    Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

1

Der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs erließ am 15. Januar 2020 Haftbefehl (2 BGs 15/20) gegen den Beschuldigten wegen des Verdachts, dieser habe sich zumindest in der Zeit von Oktober 2013 bis März 2014 in Syrien als Mitglied an der terroristischen Vereinigung im Ausland "Jabhat al-Nusra" beteiligt, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord oder Totschlag zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB. Er legte die Haftgründe der Fluchtgefahr und der Schwerkriminalität zugrunde (§ 112 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 StPO). Im Folgenden wurde der Beschuldigte am 13. September 2020 aufgrund internationaler Ausschreibung in D. (S. ) festgenommen und war bis zum 5. Mai 2021 in Auslieferungshaft. Seit dem Folgetag befindet er sich auf der Grundlage des Haftbefehls in Deutschland in Untersuchungshaft.

2

Der Beschuldigte hat mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 20. Mai 2021 Beschwerde gegen den Haftbefehl eingelegt. Zur Begründung hat er unter näheren Darlegungen ausgeführt, dass kein dringender Tatverdacht und unter Berücksichtigung der anzurechnenden Auslieferungshaft kein Fluchtanreiz bestünden. Er begehrt, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise außer Vollzug zu setzen.

3

Der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

II.

4

Die gemäß § 304 Abs. 5 StPO zulässige Beschwerde bleibt ohne Erfolg.

5

1. In Bezug auf den im Haftbefehl genannten Tatvorwurf besteht dringender Tatverdacht gemäß § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO.

6

a) Im Sinne eines solchen Verdachts ist von folgendem Sachverhalt auszugehen:

7

aa) Die "Jabhat al-Nusra" ("Jabhat al-nusra li-ahli ash-sham" [Hilfsfront für das Volk Großsyriens]) wurde Ende 2011 von Abu Muhammad al-Jawlani und anderen syrischen Mitgliedern der seinerzeitigen Organisation "Islamischer Staat im Irak" (ISI) im Auftrag deren Anführers Abu Bakr al-Baghdadi in Syrien gegründet und sollte als Ableger der irakischen Organisation im Nachbarland operieren. Die Gründung wurde im Januar 2012 in einem im Internet veröffentlichten Video bekannt gegeben. Zwischen den zwei Gruppierungen kam es im April 2013 zum Bruch, als al-Baghdadi die Vereinigung der Teilorganisationen ISI und Jabhat al-Nusra im neu ausgerufenen "Islamischen Staat im Irak und Großsyrien" (ISIG) verkündete. Al-Jawlani wies dies als Anführer der Jabhat al-Nusra zurück, betonte die Eigenständigkeit seiner Gruppierung und legte den Treueeid auf den Emir der Kern-al-Qaida, Ayman al-Zawahiri, ab; die Jabhat al-Nusra fungierte danach als Regionalorganisation von al-Qaida in Syrien.

8

Ziel der Jabhat al-Nusra war der Sturz des Assad-Regimes in Syrien, das sie durch einen islamischen Staat auf der Grundlage ihrer eigenen Interpretation der Scharia ersetzen wollte. Darüber hinaus erstrebte sie die "Befreiung" des historischen Großsyrien, das heißt Syriens einschließlich von Teilen der südlichen Türkei, des Libanon, Jordaniens, Israels und der palästinensischen Gebiete. Diese Ziele verfolgte die Vereinigung mittels militärischer Operationen, aber auch durch Sprengstoffanschläge, Selbstmordattentate, Entführungen, gezielte Tötungen von Angehörigen des syrischen Militär- und Sicherheitsapparats und nicht am Konflikt beteiligten Zivilisten. Insgesamt werden der Gruppierung mehr als 2.000 Anschläge zugerechnet, bei denen mindestens 10.000 Menschen getötet wurden.

9

Die Jabhat al-Nusra war militärisch-hierarchisch organisiert. Dem Anführer al-Jawlani war ein aus fünf bis sechs Personen gebildeter Schura-Rat zugeordnet. Unterhalb dieser Führungsebene standen die Kommandeure der insgesamt aus mehreren Tausend Personen bestehenden kämpfenden Einheiten, die ihrerseits in die vor Ort agierenden Kampfgruppen untergliedert waren. Ihre militärische Ausbildung erhielten die Kämpfer in einem verzweigten Netz von Trainingslagern. Daneben gab es Hinweise auf sogenannte "Scharia-Komitees" in den von der Organisation kontrollierten Gebieten, die religiöse Angelegenheiten regelten und den Aufbau eines eigenen Justiz- und Verwaltungssystems vorantrieben. Für ihre Öffentlichkeitsarbeit bediente sie sich einer eigenen Medienstelle, über die sie im Internet Verlautbarungen, Operationsberichte und Anschlagsvideos verbreitete. Darüber hinaus unterhielt sie ein Netzwerk von "Korrespondenten" in Syrien, die ihre Berichte über Twitter-Kanäle veröffentlichten.

10

bb) Der zum Islam konvertierte Beschuldigte beschäftigte sich im Jahr 2013 zunehmend mit Berichterstattung über den Syrienkonflikt und fasste den Entschluss, sich nach Syrien zu begeben und das Assad-Regime zu bekämpfen. Dazu reiste er Mitte Oktober 2013 über die Türkei aus. Er gliederte sich in Nordsyrien in die Jabhat al-Nusra ein, erhielt dort eine rund einmonatige Kampfausbildung, stand der Organisation vor Ort zur Verfügung und nahm an Kampfeinsätzen teil. Zu Beginn des Jahres 2014 befand er sich einige Tage in R. (Türkei) und ließ sich dort Geld auszahlen, das ihm aus Deutschland zur eigenen Verwendung und Beschaffung eines Nachtsichtgerätes übermittelt worden war. Zudem nahm er in zeitlichem Zusammenhang damit einen Betrag entgegen, der für ein anderes Organisationsmitglied bestimmt war und den er entsprechend weiterleitete. Im ersten Quartal des Jahres 2014 verließ er das syrisch-türkische Grenzgebiet und reiste zu seinen Eltern nach K. .

11

b) Der dringende Verdacht gründet sich in Bezug auf die Jabhat al-Nusra - senatsbekannt - auf entsprechende Strukturermittlungen des Generalbundesanwalts, die sich insbesondere auf islamwissenschaftliche Gutachten, umfangreiche Auswerteberichte des Bundeskriminalamtes und Behördenerklärungen stützen (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 3. März 2021 - AK 1 und 2/21, juris Rn. 12).

12

Der Beschuldigte hat sich nicht zur Sache eingelassen. Dafür, dass er Mitte Oktober 2013 seinen damaligen Studienort Kl. verließ und zunächst nach R. reiste, sprechen zum einen verschiedene Zeugenaussagen, zum anderen Urkunden wie ein sein Studentenzimmer betreffendes Kündigungsschreiben und Abbuchungen zugunsten einer Fluggesellschaft sowie für Kreditkarteneinsätze in R. . Ein ehemaliger Mitbewohner des Beschuldigten hat zudem ausgesagt, dass dieser ihm über internetbasierte Videotelefonie mitgeteilt habe, bei der Nusra-Front zu sein und eine waffenmäßige Ausbildung absolviert zu haben. Ferner habe er um Geld für Nahrung, Getränke und ein Nachtsichtgerät gebeten. Ein weiterer damaliger Bekannter des Beschuldigten hat dessen Absicht bestätigt, in Syrien "helfen" zu wollen, und bekundet, seinerzeit sei die Jabhat al-Nusra "ein Thema" gewesen.

13

Für einen entsprechenden Bezug des Beschuldigten zu einer in Nordsyrien gegen das Assad-Regime kämpfenden islamistischen Gruppierung lassen sich - etwa aus australischen Urteilen folgende - Erkenntnisse heranziehen, nach denen der Beschuldigte am 2. Januar 2014 Geld für einen US-amerikanischen Staatsbürger entgegennahm, der sich ebenfalls im Syrienkonflikt engagierte und von seinem Geldgeber entweder der Jabhat al-Nusrah oder dem ISIG zugerechnet wurde. Nach einer US-amerikanischen Behördenmitteilung deuteten Informationen auf eine Zugehörigkeit zur Nusra-Front und einen Zusammenhang mit dem Beschuldigten hin. Dies wird durch vom Generalbundesanwalt nachgereichte Unterlagen konkretisiert und bestätigt. Danach sollen die Eltern des US-amerikanischen Staatsbürgers bei einer Vernehmung Mitte Januar 2014 bestätigt haben, dass ihr Sohn für die Nusra-Front kämpfe, sich Anfang Januar 2014 drei Tage lang in der Türkei mit zwei weiteren Kämpfern aufgehalten habe und einer von diesen Deutscher sei.

14

Eine Beteiligung an Kampfeinsätzen lässt sich den Angaben des früheren Mitbewohners sowie der Eltern des amerikanischen Kämpfers entnehmen und fügt sich in die Gesamtumstände ein. So hat der Mitbewohner bezeugt, der Beschuldigte sei nach eigenen Erzählungen in einen Kampf verwickelt gewesen, bei dem entweder die Hisbollah oder das Regime angegriffen habe und eine Bombe oder Granate ein Haus zerstört habe, in dem sich der Beschuldigte befunden habe. Die Zeugen in den Vereinigten Staaten haben von Kampfeinsätzen ihres Sohnes berichtet.

15

Angesichts der zuvor dargelegten Gesichtspunkte kommt es für die Annahme eines dringenden Verdachts nicht mehr entscheidend darauf an, dass Behördenzeugnisse des Bundesamtes für Verfassungsschutz sowie des Bundesnachrichtendienstes ebenfalls einen Anschluss des Beschuldigten an die Jabhat al-Nusra nahelegen und inwieweit die Erklärungen möglicherweise letztlich auf denselben Quellen beruhen. Ebenso wenig bedarf hier die in der Beschwerdebegründung vertiefte Frage näherer Erörterung, ob und gegebenenfalls ab welchem Zeitpunkt einzelne Zeugen als Beschuldigte nach § 136 Abs. 1 Satz 2, § 163a Abs. 4 Satz 2 StPO hätten belehrt werden müssen (vgl. zu den Maßstäben im Einzelnen BGH, Beschluss vom 6. Juni 2019 - StB 14/19, BGHSt 64, 89 Rn. 29 ff.); denn die Rechte des Beschuldigten werden hierdurch nicht berührt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 5. Februar 2002 - 5 StR 588/01, BGHSt 47, 233, 234 mwN; vom 9. August 2016 - 4 StR 195/16, NStZ-RR 2016, 377). Schließlich ist eine ins Einzelne gehende Glaubhaftigkeitsanalyse der verschiedenen Zeugenaussagen in diesem Stadium des Verfahrens weder rechtlich geboten noch tatsächlich möglich (vgl. BGH, Beschluss vom 22. August 2019 - StB 21/19, juris Rn. 17 mwN).

16

Auf den subjektiven Tatbestand lässt sich aus dem äußeren Geschehen schließen. So haben etwa mehrere Zeugen bestätigt, dass sich der Beschuldigte vor seiner Ausreise intensiv mit dem Syrienkonflikt befasst habe.

17

c) In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass sich der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen Beteiligung als Mitglied an einer terroristischen Vereinigung im Ausland gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB strafbar gemacht hat. Für die mitgliedschaftliche Beteiligung als solche ist ohne Belang, ob er aktiv an Kampfhandlungen teilnahm.

18

Die gemäß § 129b Abs. 1 Satz 3 StGB erforderliche Verfolgungsermächtigung ist gegeben. Deutsches Strafrecht gilt zumindest nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB (vgl. näher BGH, Beschluss vom 30. Juni 2020 - AK 14/20, juris Rn. 27 mwN).

19

2. Es bestehen die Haftgründe der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO und - auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (s. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 ff.) - der Schwerkriminalität.

20

Nach einer Gesamtwürdigung ist es wahrscheinlicher, dass sich der Beschuldigte - sollte er auf freien Fuß gelangen - dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm stellen wird. Wie sich aus den bereits vorliegenden Ermittlungsergebnissen unabhängig von den nachgereichten Angaben des Beschuldigten gegenüber einem FBI-Attaché ergibt, hielt sich der Beschuldigte seit Abbruch seines Studiums lediglich kurzfristig in Deutschland auf und verfügt dort über keine fluchthemmenden Bindungen. Vor seiner Festnahme befand er sich ohne dauerhaften Wohnsitz in unterschiedlichen Staaten auf verschiedenen Kontinenten, zuletzt in Afrika. In Kenntnis der gegen ihn geführten Ermittlungen teilte er mit, er wolle nicht nach Deutschland kommen, verstehe den Tatvorwurf nicht und wolle seine Ruhe haben. Vor diesem Hintergrund ist im Ergebnis nicht ausschlaggebend, dass der von der drohenden Strafe ausgehende Fluchtanreiz insoweit reduziert ist, als auf eine etwaige Strafe die in S. vollzogene Auslieferungshaft anzurechnen ist.

21

Im Übrigen ist der Beschuldigte einer der in § 112 Abs. 3 StPO genannten Taten dringend verdächtig, bei der es genügen würde, dass Flucht- und Verdunkelungsgefahr nicht auszuschließen sind (BVerfG, Beschluss vom 9. März 2020 - 2 BvR 103/20, EuGRZ 2020, 365 Rn. 74 mwN).

22

Der Zweck der Untersuchungshaft kann nach den dargelegten Umständen nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden (§ 116 StPO).

23

3. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Fall einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Insbesondere ist selbst bei Berücksichtigung des bereits im Ausland erlittenen Freiheitsentzugs, dem lange zurückliegenden Tatzeitraum, einer etwaigen Deradikalisierung und den Möglichkeiten, einen Strafrest zur Bewährung auszusetzen (§ 57 StGB), nicht ersichtlich, dass die bisherige Untersuchungshaft eine voraussichtlich zu verbüßende Haftzeit überschritte.

Berg

Wimmer

Anstötz

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