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Bundesgerichtshof
Urt. v. 13.03.1991, Az.: IV ZR 218/90

Rücktrittsausschluß; Formularkenntnisnahme; Durchsichtsvorlage; Eigenmächtiges Ausfüllen des Agenten

Bibliographie

Gericht
BGH
Datum
13.03.1991
Aktenzeichen
IV ZR 218/90
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1991, 14278
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Fundstellen

  • JurBüro 1991, 453 (Kurzinformation)
  • MDR 1991, 732 (Volltext mit amtl. LS)
  • NJ 1991, 330 (amtl. Leitsatz)
  • NJW 1991, 1891-1892 (Volltext mit amtl. LS)
  • VersR 1991, 575-576 (Volltext mit amtl. LS)
  • ZIP 1991, A46-A47 (Kurzinformation)

Amtlicher Leitsatz

Hat im Zuge der Antragstellung auf Abschluß eines Versicherungsvertrags der Versicherungsagent das Formular, in dem der Versicherer Fragen nach Gefahrumständen stellt, eigenmächtig ohne Rückfragen an den VN ausgefüllt und ihm das Formular anschließend lediglich zur Unterschrift und nicht auch zur Durchsicht vorgelegt, so sind die Formularfragen nicht zur Kenntnis des VN gelangt. Es fehlt damit zugleich an den Tatbestandsvoraussetzungen der Vermutung des § 16 Abs. 1 S. 3 VVG.

Tatbestand:

1

Die Parteien streiten um Restzahlungen aus zwei Lebensversicherungsverträgen. Die Klägerin ist Bezugsberechtigte aus diesen Verträgen, die ihr geschiedener Ehemann im Jahre 1980 bei der Beklagten abgeschlossen hat. Auf seine Anträge vom 2. und 13. März 1983 sind die bisherigen Versicherungssummen von 20.000 DM und 14.470 DM auf 52.005 DM bzw. 20.700 DM erhöht worden. Der Versicherungsnehmer ist am 14. Mai 1985 im Zustand krankhafter Depression durch Selbsttötung aus dem Leben geschieden.

2

Die Beklagte hat die ursprünglich vereinbarten Versicherungssummen an die Klägerin ausgezahlt und ihr mit Schreiben vom 8. und 9. August 1985 den Rücktritt von den geänderten Versicherungsverträgen erklärt mit der Begründung, der Versicherungsnehmer habe bei Antragstellung im März 1983 seine vertragliche Anzeigeobliegenheit verletzt. Sie verweigert weitere Zahlung.

3

Bei den Antragstellungen des Versicherungsnehmers auf Erhöhung der Versicherungssummen sind Formulare der Beklagten verwendet worden, in denen zu den nachstehenden Fragen jeweils das Nein-Kästchen angekreuzt worden ist.

4

"2. Sind Sie in den letzten 10 Jahren von Ärzten oder Heilpraktikern beraten, behandelt oder operiert worden wegen Krankheiten, Störungen oder Beschwerden

5

a. des Kreislaufs, z.B. Atemnot beim Treppensteigen, Schmerzen in der Herzgegend, Herzkrankheiten, Durchblutungsstörungen, Schlaganfalls, Venenentzündung, Thrombose?

6

...

7

f. des Gehirns, des Rückenmarks oder der Nerven, z.B. epileptischer Anfälle, Krämpfen, Ohnmachten, Schwindelanfälle, Lähmungen, Geistesstörungen, Gemütskrankheiten?...

8

3. Erhielten Sie in den letzten 10 Jahren...eine Kur oder ein Heilverfahren unter ärztlicher Kontrolle?"

9

Diese Antworten sind objektiv unrichtig. Der Versicherungsnehmer hatte sich von 1979 bis jedenfalls Ende 1981 und im November 1982 wiederholt in ambulanter und stationärer Behandlung befunden. 1979 wurden bei ihm eine nervöse Erschöpfung, eine Arbeitsneurose sowie Merk- und Konzentrationsschwäche diagnostiziert; vom 17. März bis 23. Juni 1981 behandelte ihn sein damaliger Hausarzt wegen nervösen Erschöpfungs- und Spannungszuständen; der Versicherungsnehmer erlitt in diesem Zeitraum einen Kollaps. Während eines vom Hausarzt veranlaßten Krankenhausaufenthalts vom 23. Juni bis 11. Juli 1980 klagte der Versicherungsnehmer über Blutdruckschwankungen, Schwindel und Schwächegefühle, Konzentrationsstörungen, Schweißausbrüche, Schlaflosigkeit und wiederholte Kollapszustände; er wurde mit Lexotanil und Transicor behandelt. Am 4. und 10. September 1980 verordnete ihm sein Hausarzt im Rahmen nächtlicher Hausbesuche wegen eines Kollapses mit Erregungszustand bzw. eines psychomotorischen Erregungszustandes jeweils Valium 5, ferner am 7. Juni 1981 im Rahmen erneuter ambulanter Behandlung Lexotanil wegen hypertoner Kreislaufdysregulation. Vom 2. bis 7. August 1981 befand sich der Versicherungsnehmer wieder in stationärer Behandlung und klagte diesmal über ein reißendes Gefühl in der Magengrube bis ins Herz ausstrahlend, über einen Ohnmachtsanfall, hastiges Atmen, Zittern und Schweißausbrüche. Es wurden bei ihm Hyperventilationsstörungen mit vegetativer Labilität diagnostiziert. Dem Versicherungsnehmer wurde unter anderem Lexotanil verordnet. Diese Behandlung setzte der Hausarzt in der Zeit vom 10. August bis zum 7. Dezember 1981 fort - unterbrochen von einem Aufenthalt des Versicherungsnehmers in einem Kursanatorium vom 17. September bis 15. Oktober 1981. Als Beschwerden gab er in dieser stationären Behandlung neben starker Nervosität eine innere Unruhe, Schlafstörungen, Schwächezustände, Schweißausbrüche und Ohnmachtsanfälle an. In der bis zur Antragstellung im März 1983 verbleibenden Zeit wechselte der Versicherungsnehmer den Hausarzt; über dessen Behandlungsmaßnahmen ist außer einer Verordnung verschiedener Medikamente, darunter wieder Lexotanil, im November 1982 nichts Näheres bekannt.

10

Klage und Berufung der Klägerin, die den Rücktritt für unberechtigt hält und weitere 42.265,30 DM nebst Zinsen von der Beklagten fordert, sind erfolglos geblieben. Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.

Entscheidungsgründe

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Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

12

1. Rechtsfehlerfrei und von der Revision unbeanstandet ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß die Klägerin als Bezugsberechtigte in beiden Lebensversicherungen die richtige Adressatin für die Rücktrittserklärungen war und daß der Rücktritt ihr fristgerecht erklärt worden ist.

13

2. Dagegen hält seine Annahme, der Rücktritt sei auch materiell berechtigt, den Revisionsangriffen nicht stand.

14

a) Allerdings bekämpft die Revision ohne Erfolg die Ansicht des Berufungsgerichts, die Regelung in § 8 der von der Beklagten verwendeten Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB, genehmigt vom Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen am 28. Oktober 1980) verwehre es der Beklagten nicht von vornherein, sich auf die gesetzliche Vermutung des .§ 16 Abs. 1 Satz 3 VVG zu berufen, daß nämlich ein Umstand, nach dem ausdrücklich und schriftlich gefragt sei, im Zweifel als erheblich im Sinne von § 16 Abs. 1 Satz 2 VVG gelte.

15

Weder Wortlaut noch Regelungsgehalt des § 8 der AVB bieten einen Anhalt dafür, daß die Beklagte die gesetzliche Vermutung des § 16 Abs. 1 Satz 3 VVG gegebenenfalls nicht für sich in Anspruch nehmen wolle. Mit § 8 Nr. 1 Satz 1 AVB beschränkt die Beklagte - wie bei Lebensversicherern üblich - die Ausübung des ihr gesetzlich gemäß §§ 16, 17 VVG eingeräumten Rücktrittsrechts auf einen Zeitraum von drei Jahren, gerechnet ab Verletzung einer Anzeigeobliegenheit, die begangen wurde bei Abschluß, Änderung oder Wiederherstellung der Versicherung. Sie stellt damit ihre Versicherungsnehmer gegenüber § 163 VVG besser, der den Lebensversicherern ein zehnjähriges Rücktrittsrecht einräumt. Ebensowenig wie für den Gesetzgeber des § 163 VVG bestand für die Beklagte ein Anlaß, im Rahmen dieser Regelung zu betonen, daß mit ihr nicht auch auf die Vermutung des § 16 Abs. 1 Satz 3 VVG verzichtet werden solle. Dagegen hat die Beklagte - wie nach dem Regelungszusammenhang auch zu erwarten - in § 8 Nr. 2 AVB die in § 163 Satz 2 VVG getroffene Klarstellung aufgegriffen und wiederholt, daß die Befristung der Möglichkeit, sich vom Vertrag zu lösen, nicht für Fälle arglistiger Täuschung gilt.

16

b) Mit Erfolg beanstandet die Revision dagegen die Ansicht des Berufungsgerichts, die Anwendung des § 16 Abs. 1 Satz 3 VVG wäre auch dann nicht ausgeschlossen, wenn der Versicherungsvertreter, wie unterstellt, die schriftlich formulierten Fragen ohne Nachfrage bei dem Versicherungsnehmer nach eigenem Gutdünken beantwortet und dem Versicherungsnehmer das ausgefüllte Formular nicht zur Durchsicht, sondern lediglich zur Unterzeichnung vorgelegt haben sollte, weil allein maßgeblich die formularmäßige Gestaltung sei.

17

Zwischen den Parteien ist unstreitig, daß es der Versicherungsagent übernommen hatte, die beiden Formulare vollständig auszufüllen und daß sie der Versicherungsnehmer lediglich unterzeichnet hat. Streitig ist dagegen, ob der Agent dem Versicherungsnehmer die Fragen der Formulare vorgelesen und nichts anderes als die ihm daraufhin erteilten Antworten vermerkt oder ob er ohne jede Rückfrage die Formulare ausgefüllt hat. Hierzu angebotenen Beweis hat das Berufungsgericht nicht erhoben. Für die Revisionsinstanz ist von seiner Unterstellung auszugehen. Hat sich der Versicherungsagent aber so verhalten, wie bislang unterstellt, so sind dem Versicherungsnehmer die Formularfragen nicht ausdrücklich und schriftlich im Sinne des § 16 Abs. 1 Satz 3 VVG gestellt worden. Sie sind nicht einmal zu seiner Kenntnis gelangt, denn hierfür reicht die Vorlage der Formulare allein zu ihrer Unterzeichnung nicht aus (vgl. auch OLG Hamm in VersR 1991, 212).

18

3. Für das weitere Verfahren gibt der Senat noch folgenden Hinweis: Sollte die Beweisaufnahme ergeben, daß dem Versicherungsnehmer die Antragsfragen zu eigenverantwortlicher (mündlicher) Beantwortung gegenüber dem Agenten der Beklagten vorgelesen worden sind (vgl. dazu auch Senatsurteil vom 11. Juli 1990 - IV ZR 156/90 - VersR 1990, 1002 [BGH 11.07.1990 - IV ZR 156/89]), so hat die Beklagte den Kläger auch nach Gesundheitsumständen gefragt, die kausal werden können für den Eintritt eines Versicherungsfalles in der Lebensversicherung; sie hat nämlich nach den Anlässen seiner Behandlungen und ärztlichen Beratungen gefragt. Diese Gesundheitsumstände gelten, weil im Falle ordnungsgemäßen Vorlesens ausdrücklich und schriftlich erfragt, im Zweifel als gefahrerheblich im Sinne der §§ 16, 17 VVG. Die Frage nach Art und Bedeutung sogenannter indizierender Umstände stellt sich damit nicht (Senatsurteil vom 23. Mai 1989 - IVa ZR 72/88 - BGHR VVG § 16 Abs. 1 Satz 3, Umstände 1). Hier sprechen für Gefahrerheblichkeit zusätzlich Häufigkeit und Dauer der ärztlichen Inanspruchnahme wie die Art der Medikation. Die vom Berufungsgericht festgestellten Angaben des Versicherungsnehmers gegenüber den ihn behandelnden Ärzten belegen auch, daß er - unabhängig von einer genauen Kenntnis der jeweils gestellten Diagnosen - die wesentlichen Krankheits- und Beschwerdeerscheinungen kannte. Soweit es im Laufe des Verfahrens auf den der Klägerin obliegenden Kausalitätsgegenbeweis gemäß § 21 VVG ankommen sollte, wird von Bedeutung sein, ob die Klägerin unter Beweis stellen kann, daß die erwiesenen Erkrankungen und Beschwerden des Versicherungsnehmers bis Ende 1981 oder jedenfalls vor Antragstellung im März 1983 vollständig ausgeheilt waren und der Versicherungsnehmer ihretwegen nicht mehr behandelt werden mußte. Bereits von der Art der Leiden des Versicherungsnehmers her gesehen dürfte ein Kausalzusammenhang mit der zum Selbstmord führenden krankhaften Depression kaum auszuschließen sein.