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Bundesgerichtshof
Urt. v. 11.11.1987, Az.: IVa ZR 240/86

Auge-Und-Ohr-Doktrin; Reichweite des § 44 VVG; Beanspruchung von Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung; Beweislast für den Eintritt des Versicherungsfalls; Kenntnis des Vermittlungsagenten

Bibliographie

Gericht
BGH
Datum
11.11.1987
Aktenzeichen
IVa ZR 240/86
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1987, 13273
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Fundstellen

  • BGHZ 102, 194 - 199
  • MDR 1988, 387-388 (Volltext mit amtl. LS)
  • NJW 1988, 973-975 (Volltext mit amtl. LS)
  • VersR 1988, 234-237 (Volltext mit red. LS)

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Zur Vortrags- und Beweislast für den Eintritt des Versicherungsfalls in der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung.

  2. 2.

    Zur Reichweite des § 44 VVG.

Tatbestand:

1

Die Parteien streiten darum, ob der Kläger »bis auf weiteres« von der Beklagten Leistungen aus einer Ende 1981 abgeschlossenen Berufsunfähigkeitszusatzversicherung beanspruchen kann, der Besondere Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (BB-BUZ) zugrundeliegen.

2

Die Beklagte hat das Begehren des Klägers abgelehnt, ihm seit 1. November 1982 bis auf weiteres die vertraglich zugesagten Leistungen zu gewähren, da er nicht berufsunfähig geworden sei. (von der weiteren Darstellung wird abgesehen)

3

Im Laufe des vom Kläger angestrengten Prozesses ist die Beklagte auch von dem Versicherungsvertrag zurückgetreten. Sie hat den Versicherungsvertrag ferner wegen arglistiger Täuschung angefochten, da sie jetzt erst erfahren habe, daß der Kläger bei der Antragstellung unzureichende Angaben zu Vorerkrankungen und deren Behandlung gemacht und ihr die Ablehnung eines früheren Versicherungsantrages verschwiegen habe.

4

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, da der Kläger nicht berufsunfähig geworden sei; auch sei die Beklagte wirksam vom Versicherungsvertrag zurückgetreten.

5

Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Seine Revision führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.

Entscheidungsgründe

6

1., 2.

7

Die Erwägungen des Berufungsgerichts sind nicht geeignet, das von ihm gefundene Ergebnis zu tragen, der Kläger sei nicht berufsunfähig geworden (von der weiteren Darstellung wird abgesehen).

8

3.

Für das weitere Verfahren gibt der Senat folgende Hinweise:

9

a), b)

10

(von der weiteren Darstellung wird abgesehen)

11

c)

Sollte das Berufungsgericht zu der Prüfung gelangen, ob die Beklagte wirksam angefochten hat oder zurückgetreten ist, so wird zu berücksichtigen sein, daß der Kläger vorgetragen und unter Beweis gestellt hat, er habe den Versicherungsagenten der Beklagten, der das Antragsformular ausgefüllt habe, wahrheitsgemäß und vollständig sowohl über den geforderten Risikoausschluß in einer beantragten Vorversicherung wie über Vorerkrankungen informiert. Auch wenn es sich nicht um einen Angestellten der Beklagten, sondern um einen ihrer Vermittlungsagenten gehandelt haben sollte, so hat sich die Beklagte die Kenntnis ihres rechtsgeschäftlichen Stellvertreters ( § 43 Nr. 1 VVG) zurechnen zu lassen mit der Folge, daß sie in Kenntnis der mitgeteilten Umstände und ihrer unterbliebenen Aufnahme in das Antragsformular den Versicherungsvertrag geschlossen hätte, § 166 Abs. 1 BGB.

12

Der Kläger hätte in diesem Fall seine Anzeigeobliegenheit ordnungsgemäß erfüllt, auch wenn der Empfangsbevollmächtigte der Beklagten die entgegengenommenen Mitteilungen nicht - wie geboten - weitergegeben haben sollte. Die Beklagte könnte dem Kläger nicht mit Erfolg entgegenhalten, daß sie sich gemäß § 44 VVG nicht als zu ihrer Kenntnis gelangt zurechnen lassen müsse, was ihrem Vermittlungsagenten bei der Erstellung des Versicherungsantrages zu früher beantragten Vorversicherungen und zu Vorerkrankungen mitgeteilt worden sei (so auch Prölss/Martin, VVG 23. Aufl. § 44 Anm. 2; Bruck/Möller, VVG 8. Aufl. § 43 Anm. 19 bb, Seite 981, ab dem 3. Absatz in Verbindung mit Anm. 18 aa, Seite 980, vorletzter Absatz; zumindest im Ergebnis auch RGZ 147, 186, 189 f.).

13

Daß § 44 VVG nur die Frage der Wissenszurechnung für denjenigen Teilausschnitt der Tätigkeit eines Vermittlungsagenten regelt, der nicht zu seinem Tätigwerden als Stellvertreter des Versicherers - hier gemäß § 43 Nr. 1 VVG - zählt, wird durch die Gesetzesmaterialien bestätigt.

14

Ausweislich der Begründung des Entwurfs eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 11. Legislaturperiode II. Session, 2. Anlagenband, 1906, Aktenstück Nr. 22, Seite 1212 ff.) fand der Gesetzgeber stark kontroverse Ansichten zu dem Fragenbereich vor, innerhalb welcher Grenzen Versicherungsagenten im rechtsgeschäftlichen Verkehr mit dritten Personen als Vertreter der Versicherer zu gelten haben, und wollte hierzu eine gesetzliche Regelung treffen.

15

So heißt es wörtlich (aaO S. 1238):

16

»Was die für den Entwurf allein in Betracht kommende Frage betrifft, welche Stellung die Versicherungsagenten im Verkehre mit Dritten einnehmen, so gehen hier die Anschauungen der Versicherer und der ihnen gegenüberstehenden Kreise erheblich auseinander. Während diese Kreise vielfach die Auffassung hegen, daß den Versicherungsagenten im weitesten Umfange die Vertretung der Versicherer zukomme und daß demgemäß ihre Handlungen und Unterlassungen von selbst den Versicherern zuzurechnen seien, suchen die letzteren umgekehrt eine Verantwortlichkeit für ihre Agenten tunlichst abzulehnen, indem sie davon ausgehen, daß der Agent als selbständiger Vermittler zwischen den Beteiligten und nur in dieser Eigenschaft um seine Dienste angegangen werde, daß folgeweise die Erklärungen und Rechtshandlungen des Agenten den Versicherer überhaupt nicht binden. Auch in der Wissenschaft ist noch keine Übereinstimmung der Meinungen erzielt worden; doch geht die überwiegende Ansicht dahin, daß die Versicherer eine allgemeine Verantwortlichkeit für ihre Agenten nicht treffe, daß sie vielmehr die Erklärungen und Handlungen dieser Agenten nur insoweit gegen sich gelten lassen müssen, als die einzelnen den Agenten übertragenen Aufgaben ein solches Ergebnis unabweislich machen. Von der Rechtsprechung wird im allgemeinen diese Auffassung geteilt, und sie liegt auch den Vorschriften des Entwurfs zugrunde. (von der weiteren Darstellung wird abgesehen)

17

Die Versicherungsunternehmen bedürfen, um ihrem Geschäftsbetriebe die erforderliche Ausdehnung zu geben, der Mitwirkung zahlreicher, räumlich weit zerstreuter Hilfspersonen, die vielfach mit den Unternehmungen nur in loser Verbindung stehen; das Verhalten solcher Personen kann nicht ohne weiteres dem Verhalten der leitenden Organe der Unternehmungen gleichgeachtet werden. Auf der anderen Seite kommt in Betracht, daß die Versicherer es sind, welche die Agenten zur Vermittelung des Verkehrs mit dem Publikum bestellen, und daß dieses darauf angewiesen ist, sich an die ihm bezeichneten Mittelspersonen zu wenden. Hieraus folgt, daß die Agenten jedenfalls mit demjenigen Maße von Befugnissen zu versehen sind, ohne welches der Zweck, dem ihre Bestellung dient, sich nicht oder doch nicht in genügender Weise erreichen läßt, und daß dem Versicherer die Einschränkung solcher Befugnisse mit Wirksamkeit gegen einen Dritten insoweit nicht gestattet werden darf, als damit eine unbillige Erschwerung der Lage des Dritten verbunden sein würde. Dem entspricht die Regelung, wie sie der Entwurf vorschlägt. (von der weiteren Darstellung wird abgesehen)

18

Nach § 43 Nr. 1 VVG gilt ein Agent, auch wenn er nur mit der Vermittlung von Versicherungsgeschäften betraut ist, als bevollmächtigt, in dem Versicherungszweige, für den er bestellt ist, Anträge auf Schließung, Verlängerung oder Änderung eines Versicherungsvertrages sowie den Widerruf solcher Anträge entgegenzunehmen. Die hiermit bezeichnete Obliegenheit gehört zu den wesentlichen Aufgaben eines jeden Versicherungsagenten. Sie erstreckt sich zugleich auf die Entgegennahme der von dem Antragsteller bei dem Abschluß des Vertrages zu bewirkenden Anzeige der Gefahrenumstände.«

19

Auch der erkennende Senat ist der Auffassung, daß es hier nicht einer analogen Anwendung des § 43 Nr. 2 VVGVVG bedarf (so aber Bruck/Möller aaO). Die Entgegennahme eines Antrages auf Abschluß eines Versicherungsvertrages und die Kenntnisnahme der von dem Antragsteller bei dieser Gelegenheit abgegebenen - mündlichen - Erklärungen zu den ihm im Antragsformular des Versicherers gestellten Fragen stellen einen einheitlichen Lebensvorgang dar, der keine juristische Aufspaltung erlaubt. Bei der Entgegennahme eines Antrages auf Abschluß eines Versicherungsvertrages steht dem Antragsteller - auf alleinige Veranlassung des Versicherers - der empfangsbevollmächtigte Vermittlungsagent, bildlich gesprochen als das Auge und Ohr des Versicherers gegenüber. Was ihm mit Bezug auf die Antragstellung gesagt und vorgelegt wird, ist dem Versicherer gesagt und vorgelegt worden.

20

Anlaß zu Mißverständnissen über die Reichweite des § 44 des Regierungsentwurfes, der als § 44 mit unverändertem Wortlaut in das Versicherungsvertragsgesetzübernommen worden ist, mögen folgende weitere Erläuterungen in der Entwurfsbegründung gegeben haben (aaO Seite 1240):

21

»Im § 44 ist demgemäß bestimmt, daß, soweit nach den Vorschriften des Entwurfes die Kenntnis des Versicherers von Erheblichkeit ist, die Kenntnis eines nur mit der Vermittlung von Versicherungsgeschäften betrauten Agenten der Kenntnis des Versicherers nicht gleichsteht. (von der weiteren Darstellung wird abgesehen)

22

Übrigens wird durch die Art, wie der § 44 und die anderen hierher gehörigen Vorschriften des Entwurfs die Stellung des Vermittlungsagenten gestaltet haben, nicht der Frage vorgegriffen, inwiefern der Versicherungsnehmer, um Rechtsnachteile von sich abzuwenden, sich auf das Verhalten des Agenten berufen kann. (von der weiteren Darstellung wird abgesehen) So können die Umstände des Falles es rechtfertigen, den Versicherungsnehmer in bezug auf eine nicht ordnungsgemäß gemachte Anzeige als entschuldigt anzusehen, wenn er den Fragebogen unter der Anleitung des Agenten ausfüllt oder diesem die Ausfüllung überläßt, oder wenn der Agent eine an ihn von dem Versicherungsnehmer erstattete Anzeige ohne Widerspruch entgegennimmt, obwohl ihm die Befugnis zur Entgegennahme von Anzeigen der betreffenden Art entzogen ist.«

23

Erwartungsgemäß kam die Reichweite des § 44 in den Beratungen der VIII. Kommission zur Sprache. In ihrem Bericht (Verhandlungen des Reichstages XII. Legislaturperiode, I. Session, Band 242, Anlagen zu den Stenographischen Berichten, Seite 2016) ist daraufhin folgende Klar- und Richtigstellung gegeben worden:

24

»Hierzu gab ein Vertreter der Regierung auf Anfrage hin die Erläuterung, daß § 44 sich nur auf die Kenntnis des Agenten beziehe, die er ohne Anzeige oder Erklärung (im Sinne des § 43) erlangt habe.«

25

Anderenfalls hätte § 44 VVG für einen Teilbereich der rechtsgeschäftlichen Stellvertretung von Versicherern den in § 166 Abs. 1 BGB allgemein für das Zivilrecht normierten Grundsatz der Kenntniszurechnung außer Kraft gesetzt. Gerade dies ist nicht zum Ausdruck gebracht worden. Es ließe sich auch schwer mit dem Umstand vereinbaren, daß im Gesetzgebungsverfahren gerade die Schutzwürdigkeit derjenigen Gruppe von Versicherungsnehmern gesehen und betont worden ist, der die Versicherer für einen beabsichtigten Vertragsabschluß als allein in Betracht kommende Kontaktperson einen zu ihrer passiven Stellvertretung bevollmächtigten Versicherungsagenten gegenüberstellen. Er ist gewolltermaßen bei der Antragstellung der ausschließliche Empfänger von antragsbezogenen Erklärungen des künftigen Versicherungsnehmers.

26

Wissen des zur passiven Stellvertretung (nämlich zur Entgegennahme von Erklärungen) ermächtigen Versicherungsagenten, das er in Ausübung der Stellvertretung erlangt, schließt es aus, daß der rechtsgeschäftlich vertretene Versicherer unter Berufung auf seine Unkenntnis bezüglich solcher Umstände, von denen sein Stellvertreter auf die genannte Weise Kenntnis erlangt hat, Rechtsfolgen für seine anschließend erklärte Vertragsannahme geltend machen könnte. Mit der bloßen Verwendung eines Antragsformulars ist auch keine erkennbare Beschränkung der Empfangsvollmacht auf schriftliche Erklärungen erfolgt, die der Versicherer gemäß § 47 VVG Dritten entgegenhalten dürfte.

27

Soweit sich aus der Senatsentscheidung vom 1. Dezember 1982 - IVa ZR 70/81 - VersR 1983, 237 - zur Reichweite des § 44 VVG etwas anderes entnehmen lassen sollte, hält der Senat nicht daran fest.