Bundesgerichtshof
Urt. v. 13.08.1985, Az.: 1 StR 330/85
Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung; Aussetzung der Strafe zur Bewährung; Nichterstellung einer Vorschlagliste zur Schöffenauswahl einer Gemeinde; Fehlerhafte Besetzung einer Strafkammer
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 13.08.1985
- Aktenzeichen
- 1 StR 330/85
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1985, 11719
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Aschaffenburg
Rechtsgrundlagen
Fundstellen
- BGHSt 33, 290 - 294
- JR 1986, 473
- MDR 1985, 1044-1046 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1986, 1356-1357 (Volltext mit amtl. LS)
- StV 1985, 446-447
Amtlicher Leitsatz
Wählt der Schöffenwahlausschuß, obwohl die Vorschlagsliste einer Gemeinde fehlt, so führt das nicht ohne weiteres zu vorschriftswidriger Besetzung der von dieser Wahl betroffenen Spruchkörper.
Redaktioneller Leitsatz
Die Besetzung eines Spruchkörpers ohne vorherige Vorschlagsliste der Gemeinde auf die Schöffenwahl ist nicht vorschriftswidrig.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs
hat in der Sitzung vom 13. August 1985,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Dr. Schauenburg,
die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Maul, Dr. Schikora, Dr. Foth, Schimansky als
beisitzende Richter,
Bundesanwalt ... als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt ... als Verteidiger,
Justizangestellte ... als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Angeklagten werden verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die hierdurch veranlaßten notwendigen Auslagen der Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last. Die Angeklagte hat die Kosten ihres Rechtsmittels und die dem Nebenkläger dadurch erwachsenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe
I.
Das Landgericht Aschaffenburg hat die Angeklagte durch Urteil vom 15. März 1985 wegen gefährlicher Körperverletzung zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Weder die Revision der Angeklagten noch die der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
II.
Das Rechtsmittel der Angeklagten
1
a)
Die Angeklagte rügt, die mitwirkenden Schöffen seien nicht die gesetzlichen Richter gewesen (§ 338 Nr. 1 StPO), und stützt diese Rüge insbesondere darauf, daß dem Schöffenwahlausschuß beim Amtsgericht Aschaffenburg eine Vorschlagsliste der zum Amtsgerichtsbezirk gehörenden Gemeinde M. nicht vorlag.
Tatsächlich hatte sich - wie das Protokoll über die Sitzung des Schöffenwahlausschusses am 25. September 1984 ausweist - während der Sitzung des Ausschusses herausgestellt, daß eine Vorschlagsliste der Gemeinde M. fehlte. Bemühungen des Vorsitzenden, die Liste herbeizuschaffen, blieben ohne Erfolg; die Nachforschungen ergaben schließlich, daß die Gemeinde M. eine Vorschlagsliste nicht erstellt hatte. Daraufhin wurden die Schöffen aus der - insoweit unvollständigen - Liste des Bezirks (§§ 77, 39 GVG) gewählt.
Wie die Erkundigungen des Senats ergaben, hätte die Vorschlagsliste der Gemeinde M. gemäß § 36 Abs. 4 GVG 22 Personen, die Liste des gesamten Amtsgerichtsbezirks - einschließlich der Liste aus M. - die Namen von 661 Personen enthalten müssen. Aus dieser Liste waren 26 Schöffen für die Strafkammern des Landgerichts Aschaffenburg auszuwählen. Die Gesamtzahl der Schöffen für das Landgericht betrug 38.
Das Vorgehen des Schöffenwahlausschusses war fehlerhaft, denn die Liste des Bezirks umfaßt die Vorschlagslisten sämtlicher Gemeinden. Es kann auch nicht davon gesprochen werden, der Fehler habe außerhalb des vom Gericht zu verantwortenden Bereichs gelegen (BGHSt 22, 122). Ist es auch richtig, daß der Richter beim Amtsgericht nicht zu überprüfen hat, ob die von den Gemeinden eingereichten Vorschlagslisten die in § 36 Abs. 4 GVG bestimmte Anzahl von Personen enthalten, so kann gleiches für die Frage, ob sämtliche Gemeinden Listen eingereicht haben, nicht gelten. Der Richter beim Amtsgericht hat vielmehr, wenn er zur Vorbereitung der Wahl die Vorschlagslisten der Gemeinden zur Liste des Bezirks zusammenstellt (§ 39 Satz 1 GVG), nachzuprüfen, ob sämtliche Gemeinden Vorschlagslisten eingereicht haben. Welche Gemeinden das sind, kann er auf Grund der gesetzlichen Vorschriften über die Organisation der Gerichte feststellen. Er hat dann, notfalls unter Zuhilfenahme der Aufsichtsbehörde, auf die Einreichung noch fehlender Listen hinzuwirken.
Dennoch war die Strafkammer nicht fehlerhaft besetzt. Die mitwirkenden Schöffen waren auf der Liste des Bezirks vorgeschlagen und durch den richtig besetzten Wahlausschuß in gesetzmäßiger Weise gewählt worden; ihrer Wahl als solcher haftete kein Fehler an. Insofern unterscheidet sich der vorliegende Fall wesentlich von den Fällen, in denen Personen gewählt wurden, die nicht zur Wahl bereitstanden (etwa, weil sie als Jugendschöffen aus der für Erwachsenenschöffen bestimmten Liste gewählt wurden, BGHSt 26, 393, oder weil sie den Listen anderer Amtsgerichte entnommen wurden, BGHSt 29, 144 [BGH 04.12.1979 - 5 StR 337/79]) oder in denen der Schöffenwahlausschuß falsch gewählt oder besetzt war (BGHSt 20, 37; BVerfGE 31, 181; andererseits BVerfG NJW 1982, 2368; BGHSt 26, 206) oder die Bestellung der Schöffen durch das Los erfolgte (BGHSt 33, 41 [BGH 21.09.1984 - 2 StR 327/84]).
Die richtige Besetzung könnte im vorliegenden Fall also nur dann in Zweifel gezogen werden, wenn der Umstand, daß die Vorschlagsliste der Gemeinde M. fehlte, die gesamte Wahlhandlung ungültig gemacht hätte. Das war nicht der Fall.
Bei der Entscheidung dieser Frage, hatte der Senat zu berücksichtigen, daß die Rechtssicherheit nachhaltig gefährdet wäre, wenn jeder bei der Wahl der Schöffen vorkommende Fehler eine erfolgreiche Besetzungsrüge nach sich zöge (vgl. BVerfGE NJW 1982, 2368). Schon der in der Hauptverhandlung geltend gemachte, auf einen solchen
Fehler gestützte Besetzungseinwand (§ 222 b StPO) wäre von erheblicher Tragweite, hätte die Entscheidung der einzelnen Strafkammer doch gleichzeitig Auswirkungen auf die Besetzung sämtlicher Strafkammern des Landgerichts, ohne daß gesichert wäre, daß andere Strafkammern derselben Meinung wären; erhebliche Rechtsunsicherheit wäre die Folge.
Der Senat hat weiter erwogen, daß nach dem Willen des Gesetzgebers Fehler, die bei der Besetzung des Gerichts vorkommen, nicht in jedem Fall zur Aufhebung des Urteils führen sollen. So kann ein Rechtsmittel gegen eine gerichtliche Entscheidung nicht darauf gestützt werden, bei der Wahl des Präsidiums sei ein Gesetz verletzt worden, das Präsidium deshalb nicht ordnungsgemäß zusammengesetzt und aus diesem Grunde die Geschäftsverteilung fehlerhaft gewesen (§ 21 b Abs. 6 GVG; vgl. BGHSt 26, 206, 208) [BGH 14.10.1975 - 1 StR 108/75]. Auch die Entscheidung des Gerichts, einen Schöffen von der Dienstleistung an bestimmten Sitzungstagen zu befreien, ist nicht anfechtbar und deshalb revisionsgerichtlich nicht überprüfbar (§ 54 Abs. 3 GVG, § 336 Satz 2 StPO), obwohl diese Entscheidung sich unmittelbar auf die Zusammensetzung des Gerichts in einem bestimmten Fall auswirken kann; anfechtbar bleibt freilich Willkür (vgl. Wolfgang Müller in KK GVG § 54 Rdn. 20 und § 50 Rdn. 8; BT- Drucks. 8/976 S. 66).
Auch die in anderen Gerichtszweigen, insbesondere der Arbeitsgerichtsbarkeit, geltenden Regelungen konnten nicht völlig außer Betracht bleiben (§ 73 ArbGG), wenngleich die Verschiedenheit der Bestellungsverfahren einen unmittelbaren Vergleich verbietet.
Entscheidend kommt es schließlich auf den Sinn der Vorschriften über den gesetzlichen Richter an, wie er in der Rechtsprechung schon bisher umschrieben wurde. Sie sollen "der Gefahr vorbeugen, daß die Justiz durch eine Manipulierung der rechtsprechenden Organe sachfremden Einflüssen ausgesetzt wird, insbesondere daß im Einzelfall durch die Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter ad hoc das Ergebnis der Entscheidung beeinflußt wird" (BVerfGE 17, 294, 299; 24, 33, 54 [BVerfG 25.06.1968 - 2 BvR 251/63]; BVerfG NJW 1982, 2368; BVerfG, Beschluß vom 3. Juni 1969 - 2 BvR 316/68; vgl. auch BGH, Urteil vom 12. Juni 1985 - 3 StR 35/85, zum Abdruck in BGHSt bestimmt). Eine solche Möglichkeit scheidet im Hinblick auf die oben wiedergegebenen Zahlenverhältnisse sowie auf die der Wahl folgende Auslosung der Schöffen für die einzelnen Sitzungstage (§ 45 GVG) im vorliegenden Fall aus.
Freilich gehören auch die Vorschriften der §§ 36 und 39 GVG, gegen die hier verstoßen wurde, zu den Regeln, die den gesetzlichen Richter bestimmen. Ihre Funktion ist indes vornehmlich, sicherzustellen, daß die Schöffen einen Querschnitt der Bevölkerung darstellen (§ 36 Abs. 2 GVG). Insoweit erscheint es ausgeschlossen, daß das Fehlen der von der Gemeinde M. zu erstellenden Vorschlagsliste - die nicht als solche weiterbestanden hätte, sondern in der Liste des Bezirks aufgegangen wäre - sich nachteilig ausgewirkt hat.
Steht damit fest, daß die der Wahl der Schöffen zugrundeliegenden Prinzipien nicht verletzt sind, so könnte die Wahl dennoch unwirksam sein, wenn die Entscheidung des Wahlausschusses, die Schöffen aus der restlichen Liste zu wählen, als willkürlich einzustufen wäre, d.h. als nicht nur fehlerhaft, sondern als nicht mehr verständlich, unhaltbar, auf sachfremden Erwägungen beruhend (BVerfGE 4, 1, 7 [BVerfG 01.07.1954 - 1 BvR 361/52]; 29, 45, 49 [BVerfG 30.06.1970 - 2 BvR 48/70]; 58, 1, 45; 59, 128, 160/161; st. Rspr.). So lag es hier jedoch nicht. Der Schöffenwahlausschuß war offensichtlich - nachdem seine Bemühungen fehlgeschlagen waren, die fehlende Vorschlagsliste beizuschaffen-der Meinung, der zahlenmäßig geringe Einfluß auf die Liste des Bezirks rechtfertige es, die Wahl wie vorgesehen durchzuführen und so den weiteren Fortgang der Schöffenbestellung nicht zu hemmen. Des war, wie schon erwähnt, fehlerhaft; sachfremd und damit willkürlich war es nicht. Zwar begann die neue Schöffenperiode erst etwa drei Monate später; doch bestand im Hinblick darauf, daß zunächst der Gemeinderat von M. eine Vorschlagsliste hätte aufstellen und öffentlich auflegen müssen, die Gefahr, daß die Schöffen für die einzelnen Sitzungstage nicht zeitig genug zur Verfügung standen, um zu den Anfang Januar 1985 stattfindenden Sitzungen geladen werden zu können. Daß diese Gefahr unbedingt hätte in Kauf genommen werden müssen (vgl. BGHSt 26, 393), kann hier nicht gesagt werden; jedenfalls stellt es kein willkürliches Vorgehen dar, daß der Wahlausschuß sich angesichts der in Frage stehenden Rechtsgüter zur fristgerechten Wahl entschloß.
b)
Die sonstigen von der Revision in Verbindung mit der Mitwirkung der Schöffen vorgebrachten Beanstandungen (die im Schöffenwahlausschuß mitwirkenden Vertrauenspersonen seien sämtlich kommunale Mandatsträger gewesen; der Ausschuß habe nicht über den Wahlmodus Beschluß gefaßt; zu Schöffen seien nur "politisch genehme Personen" gewählt worden) sind unbegründet (vgl. BGH, Urt. vom 11. November 1980 - 1 StR 506/80). Die Schöffen wurden, wie das Protokoll ausweist, einstimmig gewählt; das genügte den rechtlichen Anforderungen.
2.
Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachbeschwerde deckt keinen Rechtsfehler auf. Dies gilt auch für die Behandlung der Schuldfähigkeit der Angeklagten. Was die Revision hiergegen im einzelnen vorbringt, verfängt nicht.
III.
Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft
Die Angeklagte hatte ihrem Stiefsohn mit Tötungsabsicht einen Stich in die Brust versetzt und war davon ausgegangen, das Kind getötet zu haben. Einige Zeit später stellte sich bei ihr die Hoffnung ein, das Kind könne doch überlebt haben. Die auf ihre Veranlassung alsbald geleistete ärztliche Hilfe rettete das Leben des Kindes.
Die Staatsanwaltschaft ist der Meinung, das Landgericht habe bei dieser Sachlage zu Unrecht strafbefreienden Rücktritt vom beendeten Tötungsversuch angenommen. Rücktritt sei dann nicht mehr möglich, wenn der Täter glaube, der Erfolg sei eingetreten.
Diese Auffassung ist nicht richtig. Die strafbefreiende Wirkung des Rücktritts vom beendeten Versuch hängt allein davon ab, daß der Täter die Vollendung der Tat freiwillig verhindert. An weitere Voraussetzungen ist diese Wirkung nicht geknüpft. Die Möglichkeit, zurückzutreten, entfällt erst dann, wenn der Täter den Erfolg nicht mehr abwenden kann (BGH NStZ 1981, 388). Daß die Angeklagte nach der Tat vorübergehend geglaubt hat, der Taterfolg sei eingetreten, ist unerheblich.
Da das Landgericht somit die Angeklagte zu Recht nur wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt hat, geht die Beanstandung der Staatsanwaltschaft, das Schwurgericht hätte bei richtiger Würdigung die Mordmerkmale der Heimtücke und der niedrigen Beweggründe bejahen müssen, ins Leere.
Maul
Schikora
Foth
Schimansky