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Bundesgerichtshof
Urt. v. 09.07.1985, Az.: VI ZR 214/83
„Wehrmachtsoffizier“

Allgemeine Persönlichkeitsrecht; Rufschädigung; Geldentschädigung; Beweisregel

Bibliographie

Gericht
BGH
Datum
09.07.1985
Aktenzeichen
VI ZR 214/83
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1985, 13045
Entscheidungsname
Wehrmachtsoffizier
ECLI
[keine Angabe]

Fundstellen

  • BGHZ 95, 212 - 221
  • AfP 1985, 204-207
  • IPRspr 1985, 40
  • MDR 1985, 1014-1015 (Volltext mit amtl. LS)
  • NJW 1985, 2644-2647 (Volltext mit amtl. LS)
  • VersR 1985, 1143-1147 (Volltext mit amtl. LS)

Redaktioneller Leitsatz

Redaktioneller Leitsatz:

Die Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts kann sowohl aus Abs. 1 als auch aus Abs. 2 i. V. m. § 186 StGB bei Rufschädigung geltend gemacht werden.

Bei dieser Herleitung von Ansprüchen auf Geldentschädigung greift insoweit auch die Beweisregel des § 190 Abs. 1 StGB ein.

Tatbestand:

1

Der Kläger ist ein ehemaliger Bundesminister, der zu Beginn des Rußlandfeldzuges 1941 als Oberleutnant der Einheit »Nachtigall« angehörte. Diese Einheit bestand aus dreihundert west-ukrainischen Soldaten mit deutschem Rahmenpersonal; sie nahm an der Besetzung der Stadt Lemberg am 30. Juni 1941 teil. Gleich nach der Besetzung Lembergs kam es zu Ausschreitungen gegen den jüdischen Bevölkerungsteil der Stadt; dabei fanden viele Juden den Tod. Später kommandierte der Kläger den Verband »Bergmann«, der sich vor allem aus Armeniern und Georgiern zusammensetzte.

2

Nach dem Kriege wurde der Kläger, der das Vertriebenen-Ministerium übernommen hatte, wegen der Vorfälle in Lemberg stark angegriffen. In zahlreichen in- und ausländischen Publikationen wurde behauptet, die Einheit »Nachtigall« habe bei der Vernichtung der jüdischen Bevölkerungsgruppe in Lemberg eine führende Rolle gespielt. Später trat der Kläger von seinem Ministeramt zurück.

3

Vor dem Obersten Gericht der Deutschen Demokratischen Republik wurde im April 1960 gegen den Kläger ein Strafverfahren wegen Mordes durchgeführt. Durch Urteil vom 29. April 1960 wurde er zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt.

4

Der beklagte Schriftsteller ist der Verfasser des Tatsachenromans »Die Laufmasche«, der 1980 in der AutorenEdition München erschienen ist. Im Rahmen der Handlung läßt der Beklagte einzelne Romanfiguren über Geschehnisse aus der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands berichten. Dabei wird auch der Kläger erwähnt. Im Anhang des Buches sind Personen der Zeitgeschichte, deren Biographie nach Meinung des Beklagten für das Verständnis des zeitgeschichtlichen Hintergrundes der Handlung von Bedeutung sein könnte, aufgeführt. Zu diesen Personen gehört auch der Kläger, der geltend macht, daß zahlreiche der ihn betreffenden Behauptungen unwahr seien. Der Beklagte habe sie wider besseres Wissen - jedenfalls aber grob fahrlässig und leichtfertig - mit dem Ziel aufgestellt, ihn in breiter Öffentlichkeit als Prototyp des skrupellosen, infamen Kriegsverbrechers und Massenmörders jeglicher Ehre und jeglichen Ansehens zu berauben und ihn tiefster Verachtung und Abscheu zu überantworten. Diese Kränkung könne nur durch Zahlung einer Geldentschädigung befriedigend ausgeglichen werden.

5

Das Landgericht hat dem Kläger gemäß § 186 StGB, §§ 823 Abs. 2 und 847 BGB eine Entschädigung von 5 000 DM zuerkannt. Das Oberlandesgericht hat die Klage abgewiesen. Die (zugelassene) Revision des Klägers führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.

Entscheidungsgründe

6

I. (von der weiteren Darstellung wird abgesehen)

7

II. 1. Zwar sind die Erwägungen, von denen das Berufungsgericht zunächst ausgeht, rechtlich nicht zu beanstanden.

8

a) Es bestehen keine rechtlichen Bedenken dagegen, daß das Berufungsgericht bei der Frage, ob der Kläger wegen einer Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts von dem Beklagten eine Entschädigung in Geld verlangen kann, auf §§ 823 Abs. 2 BGB, 186 StGB als Anspruchsgrundlage abgestellt hat. Zwar hat der Senat einen solchen Anspruch in der Regel aus § 823 Abs. 1 BGB abgeleitet. Jedoch kann in den Fällen, in denen - wie hier - die Verletzungshandlung in der Behauptung oder Verbreitung von Tatsachen gesehen wird, die den Betroffenen verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet sind, auch auf § 823 Abs. 2 BGB, § 186 StGB zurückgegriffen werden. Diese Vorschriften schützen ebenso wie das dem Schutzbereich des § 823 Abs. 1 BGB zugeordnete allgemeine Persönlichkeitsrecht die Ehre des Betroffenen (vgl. Esser/Weyers, Schuldrecht Band II 6. Aufl. 1984, S. 461). Der Senat hat deshalb schon früher bei solchen Fallgestaltungen auch auf § 823 Abs. 2 BGB, § 186 StGB als Anspruchsgrundlage zurückgegriffen (vgl. etwa Senatsurteil vom 8. März 1966 - VI ZR 176/64 - NJW 1966, 1213 ff.).

9

b) Eine solche Herleitung des Anspruchs ändert selbstverständlich nichts daran, daß die Zubilligung einer Geldentschädigung wegen einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nur unter besonderen Voraussetzungen in Betracht kommt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats kann der Betroffene nur für einen schwerwiegenden Eingriff in sein Persönlichkeitsrecht eine Geldentschädigung verlangen; weiter ist erforderlich, daß die Beeinträchtigung des Betroffenen nicht in anderer Weise befriedigend ausgeglichen werden kann. Geringfügige Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht vermögen keine Ansprüche auf materielle Entschädigung auszulösen. Ob eine schwerwiegende Verletzung des Persönlichkeitsrechts vorliegt, die die Zahlung einer Entschädigung erfordert, hängt insbesondere von der Bedeutung und Tragweite des Eingriffs, also von dem Ausmaß der Verbreitung der Veröffentlichung, der Nachhaltigkeit und Fortdauer der Interessen- oder Rufschädigung des Verletzten, ferner von Anlaß und Beweggrund des Handelnden sowie von dem Grad seines Verschuldens ab. In Fällen, in denen die Geldentschädigung aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 186 StGB, also wegen einer nicht erweislich wahren rufschädigenden Behauptung begehrt wird, ist ferner die hier stets offenbleibende Möglichkeit mitzuberücksichtigen, daß die inkriminierte Behauptung wahr sein kann. Zwar steht das, wie gesagt, der Zubilligung einer Geldentschädigung nicht grundsätzlich entgegen. Indes können für die Beurteilung, ob die Belastung des Betroffenen ihrer Schwere nach eine Geldentschädigung rechtfertigt, derartige Fälle nicht schlechthin stets ebenso gewichtet werden, wie wenn die Unwahrheit der infragestehenden Behauptung erwiesen wäre. Außerdem ist der besonderen Funktion der Geldentschädigung bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen Rechnung zu tragen, die sowohl in einer Genugtuung des Verletzten für den erlittenen Eingriff besteht, als auch - und zwar in erster Linie - ihre sachliche Berechtigung in dem Gedanken findet, daß das Persönlichkeitsrecht gegenüber erheblichen Beeinträchtigungen anderenfalls ohne ausreichenden Schutz bliebe.

10

c) Diese Voraussetzungen hat das Berufungsgericht gesehen. Ohne Rechtsfehler hat es festgestellt, der unbefangene Leser, auf dessen Verständnis abzustellen ist, müsse der Schilderung des Beklagten entnehmen, daß der Kläger für die behaupteten Ausschreitungen der Einheit »Nachtigall« in Lemberg und anderen sowjetischen Städten, die Ermordung der 34 prominenten Vertreter des Geisteslebens in Lemberg sowie die »mit äußerster Härte« durchgeführten Einsätze der Einheit »Bergmann« gegen die russische Zivilbevölkerung verantwortlich gewesen sei. Mit Recht wertet das Berufungsgericht diese Behauptungen, die dem Kläger die Beteiligung an der Ermordung wehrloser Opfer zur Last legen, als eine schwere Belastung seines Rufs.

11

2. Das Berufungsgericht hat deshalb - nach dem ihm vorliegenden Sachverhalt zu Recht - weiter geprüft, ob der Beklagte den Beweis der Wahrheit seiner Behauptungen, der ihm nach der über § 823 Abs. 2 BGB in das Deliktsrecht transformierten Beweisregel des § 186 StGB obliegt, erbracht hat. Seine Erwägung, daß dieser Beweis durch das Urteil des Obersten Gerichts der Deutschen Demokratischen Republik gemäß § 190 Satz 1 StGB als geführt anzusehen sei, traf zu; sie hat indes inzwischen durch die nach Verkündung des Berufungsurteils getroffene Feststellung der Generalstaatsanwaltschaft, nach der die Vollstreckung dieses Urteils unzulässig ist, ihre Grundlage verloren.

12

a) § 190 Satz 1 StGB bestimmt, daß, wenn die inkriminierte Behauptung eine Straftat des Betroffenen zum Gegenstand hat, der Beweis der Wahrheit als erbracht anzusehen ist, wenn der Betroffene wegen dieser Tat rechtskräftig verurteilt worden ist. Demgegenüber ist nach Satz 2 der Vorschrift der Beweis der Wahrheit der Behauptung ausgeschlossen, wenn der Betroffene vor der Behauptung oder ihrer Verbreitung rechtskräftig freigesprochen worden war.

13

Das Berufungsgericht konnte mit Recht davon ausgehen, daß im Streitfall die Beweisregel des § 190 Satz 1 StGB anwendbar ist. Wenn es gerechtfertigt ist, § 186 StGB über § 823 Abs. 2 BGB in das Deliktsrecht zu transformieren, ist es nur konsequent, mit § 190 Satz 1 StGB in gleicher Weise zu verfahren. Zwischen beiden Vorschriften besteht ein funktioneller Zusammenhang. § 190 Satz 1 StGB ergänzt mit einer Beweisregel die Beweislastregel des § 186 StGB (vgl. Herdegen in LK 9. Aufl. § 190 Rdn. 10; Schönke/Schröder/Lenckner, StGB 21. Aufl. § 190 Rdn. 1).

14

b) Im Grundsatz nicht zu beanstanden ist die weitere Erwägung des Berufungsgerichts, daß auch rechtskräftige Urteile der Strafgerichte der Deutschen Demokratischen Republik in den Wirkungsbereich des § 190 Satz 1 StGB fallen. Mit Recht weist das Berufungsgericht darauf hin, daß die Gerichte der Deutschen Demokratischen Republik deutsche Gerichte sind (BVerfGE 37, 57, 64) und daß den von ihnen erlassenen rechtskräftigen Strafurteilen grundsätzlich dieselbe Verbindlichkeit zukommt wie den Strafurteilen von Gerichten im Geltungsbereich des Grundgesetzes (BVerwG NJW 1965, 647, 648; Schäfer in Löwe/Rosenberg, StPO 23. Aufl. Vorbemerkungen zum Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen - RHG - Rdn. 2).

15

Allerdings sind die rechtskräftigen Urteile der Gerichte der Deutschen Demokratischen Republik nicht in jeder Hinsicht in ihren Auswirkungen den rechtskräftigen Urteilen der Gerichte im Geltungsbereich des Grundgesetzes gleichzustellen. Ihre Hinnahme durch die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland unterliegt vielmehr Schranken, die sich aus der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes ergeben (BVerfGE 37, 57, 65). Dies findet seinen Ausdruck in den Vorbehalten des § 2 RHG, insbesondere im Vorbehalt der Rechtsstaatlichkeit des § 2 Abs. 1 Nr. 2 RHG (vgl. auch BGHSt 20, 5, 10 f.). Nach § 15 RHG kann der Verurteilte die Feststellung der Unzulässigkeit der Vollstreckung des gegen ihn ergangenen Strafurteils beantragen. Ergeht eine solche Feststellung, so bedeutet sie, daß gegen die Verurteilung durchgreifende rechtsstaatliche Bedenken bestehen (BVerwG NJW 1965, 647, 648; Schäfer aaO § 15 Rdn. 14). Dabei besitzen die nach § 15 RHG zur Entscheidung über die Rechtsstaatsmäßigkeit berufenen Kompetenzträger - der zuständige Generalstaatsanwalt bzw. das zuständige Oberlandesgericht - das Entscheidungsmonopol (vgl. Schäfer aaO § 16 Rdn. 1 und 2). Solange aber eine solche Feststellung nicht getroffen ist, entfaltet das rechtskräftige Urteil eines Gerichts der Deutschen Demokratischen Republik auch im Geltungsbereich des Grundgesetzes seine Rechtswirkungen, es sei denn, es wäre wegen schwerster Verstöße gegen rechtsstaatliche Grundsätze absolut nichtig (vgl. Schäfer aaO § 15 Rdn. 6). Hierfür ist nach den Feststellungen des Berufungsgerichts im Streitfall nichts ersichtlich.

16

c) Nach der nach Erlaß des Berufungsurteils getroffenen Feststellung der Generalstaatsanwaltschaft ist das Urteil des Obersten Gerichts der Deutschen Demokratischen Republik jedoch nicht mehr geeignet, die in § 190 Satz 1 StGB bezeichnete Rechtsfolge auszulösen. Die Rechtswirkung dieser Feststellung reicht - wie sich schon aus ihrer umfassenden, an alle Gerichte und Behörden im Geltungsbereich des Rechtshilfegesetzes gerichteten Bindungswirkung ergibt (§ 16 RHG) - über die Frage der Vollstreckungsfähigkeit hinaus. Sie besagt, daß in der Bundesrepublik Deutschland aus der Verurteilung für den Betroffenen keine nachteiligen Folgen mehr hergeleitet werden dürfen, daß dem Urteil die Urteilswirkung entzogen worden ist (BVerwG NJW 1969, 1730, 1731; Schäfer aaO § 15 Rdn. 6 und § 16 Rdn. 2).

17

Der Senat hat gegen die in § 16 RHG festgelegte Bindung der Gerichte an die Verfügungen der Generalstaatsanwaltschaft keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Zwar entzieht diese Vorschrift den Gerichten die Kompetenz, über die Rechtsstaatsmäßigkeit des betreffenden Urteils zu befinden. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat deshalb in BGHSt 20, 5, 9 die Frage aufgeworfen, ob die Bindungswirkung mit der Garantie der Unabhängigkeit der Richter (Art. 97 GG) vereinbar sei, ohne indes diese Frage zu entscheiden. Ebenso hat das Bundesverfassungsgericht die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Bindung der Gerichte an die Verfügungen des Generalstaatsanwalts unentschieden gelassen (BVerfGE 12, 67, 71). Der erkennende Senat sieht jedoch die sachliche Unabhängigkeit der Richter durch diese Vorschrift nicht beeinträchtigt. Die Bindung der Gerichte an bestandskräftige Entscheidungen nichtrichterlicher Kompetenzträger, die Vorfragen betreffen, ist auch sonst dem Recht nicht fremd (vgl. etwa die Bindungswirkung der Bescheide der Berufsgenossenschaften, § 638 RVO; vgl. ferner Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 97 Rdn. 30). Derartige Bindungen stehen im Zeichen der Rechtssicherheit als einem Gebot, das ebenfalls im Rechtsstaatsprinzip wurzelt (Art. 20 Abs. 3 GG). Soweit ersichtlich, wird denn auch die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung einhellig bejaht (vgl. Schäfer aaO § 16 Rdn. 1; Kaiser NJW 1965, 474).

18

d) (von der weiteren Darstellung wird abgesehen)

19

3. Das Berufungsurteil läßt sich auch nicht mit anderer Begründung aufrechterhalten. Allerdings ist es - wenn auch unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt als bisher - für die rechtliche Beurteilung des gegen den Kläger gerichteten Angriffs des Beklagten von Bedeutung, daß in dem Zeitpunkt, als der Beklagte seine Behauptungen verbreitete, die Unzulässigkeit der Vollstreckung des Urteils des Obersten Gerichts der Deutschen Demokratischen Republik vom 29. April 1960 noch nicht festgestellt worden war.

20

a) Der Beklagte hat geltend gemacht, er habe mit seinen Behauptungen über den Kläger einen öffentlichen Auftrag wahrgenommen. Er hat sich damit auf den rechtlichen Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen berufen (§ 193 StGB). Das Berufungsgericht, das den dem Beklagten gemäß § 186 StGB obliegenden Wahrheitsbeweis nach § 190 Satz 1 StGB durch das Urteil des Obersten Gerichts der Deutschen Demokratischen Republik als erbracht erachtet hat, hat - nach dem seiner Beurteilung zugrunde liegenden Sachverhalt zu Recht - auf diesen rechtlichen Gesichtspunkt nicht abgehoben.

21

Dieser Gesichtspunkt gewinnt aber nunmehr, nachdem der Beweisregel des § 190 Satz 1 StGB durch die Feststellung der Generalstaatsanwaltschaft die Grundlage entzogen worden ist, Bedeutung. Denn der Kläger könnte den Beklagten, auch wenn diesem der Beweis seiner Vorwürfe nicht gelänge, auf eine Geldentschädigung dann nicht in Anspruch nehmen, wenn der Beklagte mit seinen öffentlich erhobenen Beschuldigungen berechtigte Interessen im Sinne von § 193 StGB wahrgenommen hat.

22

b) Der Beklagte kann sich für sein Anliegen, als Schriftsteller die Erinnerung an die Ausschreitungen während des Einmarsches der deutschen Truppen in Rußland und insbesondere die Leiden des jüdischen Bevölkerungsteils wachzuhalten, auf ein öffentliches Interesse berufen. Es besteht ein unvermindert hoch einzuschätzendes Bedürfnis, diese Geschehnisse und die Beteiligung einzelner Personen hieran - insbesondere dann, wenn diese Personen später im politischen Leben eine bedeutende Rolle gespielt haben - der Öffentlichkeit bewußt zu halten.

23

Die Zuerkennung des Rechtfertigungsgrundes der Wahrnehmung berechtigter Interessen setzt allerdings weiter voraus, daß die Behauptungen des Beklagten auf sorgfältigen Recherchen beruhen. Diese Anforderungen sind angesichts der Schwere der gegen den Kläger erhobenen Beschuldigungen hoch anzusetzen.

24

Im Streitfall hat sich der Beklagte für seine Behauptungen in erster Linie auf die Feststellungen im Urteil des Obersten Gerichts der Deutschen Demokratischen Republik gestützt. In der Regel hat ein Angreifer, der seine Behauptungen an den Feststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils ausrichtet, seiner Recherchierungspflicht genügt. Etwas anderes hat allerdings dann zu gelten, wenn der Angreifer weiß oder aufgrund ihm bekannt gewordener besonderer Umstände wissen muß, daß diese Feststellungen unrichtig sind.

25

Grundsätzlich ist dieser Vertrauenseffekt, der weitere Recherchen überflüssig macht, auch mit rechtskräftigen Urteilen der Gerichte der Deutschen Demokratischen Republik verbunden. Dies folgt aus der auch diesen Urteilen zukommenden Verbindlichkeit. Jedoch wird der Vertrauenseffekt dadurch eingeschränkt, daß diese Urteile unter den Vorbehalten des § 2 RHG stehen. Dies bedeutet, daß, wer seine Vorwürfe auf ein rechtskräftiges Strafurteil eines Gerichts der Deutschen Demokratischen Republik stützt, in Grenzen die Möglichkeit einzukalkulieren hat, daß die Unzulässigkeit der Vollstreckung des Urteils nach Maßgabe der §§ 2, 15, 16 RHG festgestellt werden kann. Deshalb trifft ihn, wenn er in derartigen Fällen die Wahrnehmung berechtigter Interessen in Anspruch nehmen will, in Grenzen eine Recherchierungspflicht, die die Bestandskraft des Strafurteils einbezieht. Er muß - will er seiner Sorgfaltspflicht genügen - prüfen, ob im Zusammenhang mit dem Verfahren oder mit der Urteilsfindung konkrete Umstände offenbar geworden sind, die, auch für einen Außenstehenden begründete Zweifel daran entstehen lassen müssen, daß das Urteil in der Bundesrepublik Deutschland in einem Verfahren nach den §§ 15, 16 RHG den Vorbehalten des § 2 RHG, insbesondere dem Vorbehalt der Rechtsstaatlichkeit des § 2 Abs. 1 Nr. 2 RHG, standhalten wird. Selbstverständlich ist dafür nicht maßgebend, ob das Urteil in der Art seiner Abfassung - etwa seiner Einleitung oder seinem Aufbau - von den Urteilen abweicht, die die Gerichte der Bundesrepublik Deutschland erlassen. Insoweit kann es nur darauf ankommen, ob besondere Umstände hervortreten, die das Urteil in seiner Substanz rechtsstaatlichen Bedenken aussetzen. Das kann etwa dann der Fall sein, wenn begründete Zweifel daran bestehen, daß der Betroffene von einem unbefangenen Richter verurteilt worden ist, daß er in einem fair geführten Verfahren rechtliches Gehör finden konnte, daß er die Möglichkeit einer sachlichen Verteidigung hatte und daß das Verfahren nach Ziel und Zweck den Erfordernissen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit Rechnung trug (vgl. BVerfGE 37, 57, 65). Indes stehen derartige Zweifel dem Vertrauen des Kritikers auf die Bestandskraft des Strafurteils mit seinen Feststellungen grundsätzlich nur entgegen, wenn die konkreten Umstände auch einem Außenstehenden dazu Anlaß geben müssen.

26

c) Dem Urteil des Obersten Gerichts der Deutschen Demokratischen Republik kam in dem Zeitpunkt, in dem der Beklagte die hier in Rede stehenden Behauptungen über den Kläger verbreitete, noch die solchen Urteilen eigene Verbindlichkeit zu. Die Feststellung der Generalstaatsanwaltschaft, daß die Vollstreckung des Urteils unzulässig ist, ist konstitutiver Natur (vgl. Schäfer aaO § 16 Rdn. 2); sie wirkt nur für die Zukunft. Der Beklagte konnte deshalb bei Verbreitung seiner Behauptungen auf die in diesem Urteil getroffenen Feststellungen vertrauen, wenn er nicht bei Beachtung seiner Sorgfaltspflicht begründete Zweifel daran haben mußte, daß bei diesen Feststellungen die Gebote der Rechtsstaatlichkeit gewahrt worden waren.