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Bundesgerichtshof
Urt. v. 07.08.1984, Az.: 1 StR 200/84

Kochen und Trinken eines Stechapfeltees; Ertrinken im Rauschzustand; Vorliegen einer freiverantwortlichen Selbstgefährdung

Bibliographie

Gericht
BGH
Datum
07.08.1984
Aktenzeichen
1 StR 200/84
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1984, 11263
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Ravensburg - 02.11.1983

Fundstellen

  • EzSt StGB § 212 Nr. 10
  • JA 1998, 105
  • NStZ 1985, 25

Verfahrensgegenstand

Körperverletzung mit Todesfolge u.a.

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Die eigenverantwortliche Selbstverletzung erfüllt nicht den Tatbestand eines Körperverletzungsdelikts. Entsprechendes gilt für die Selbsttötung

  2. 2.

    Wird die eigenverantwortliche Selbstverletzung oder -tötung (vorsätzlich oder fahrlässig) unterstützt, so liegt darin mangels Haupttat keine Teilnahme.

  3. 3.

    Nicht anderes kann für die eigenverantwortlich vorgenommene Selbstgefährdung gelten. Es kommt also nicht darauf an, ob sich das mit der Gefährdung bewußt eingegangene Risiko verwirklicht oder nicht.

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat
in der Sitzung vom 7. August 1984,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Herdegen,
die Richter am Bundesgerichtshof Kuhn, Dr. Maul, Dr. Schikora, Dr. Foth als beisitzende Richter,
Bundesanwalt ... als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Ravensburg vom 2. November 1983 wird verworfen.

Die Kosten des Rechtsmittels und die den: Angeklagten im Revisionsverfahren erwachsenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

1

I.

Die Anklage legte dem zur Tatzeit 18 Jahre alten Angeklagten zur Last, die 15-jährigen Schüler David Gr. Michael M. und Peter Ö. vorsätzlich an der Gesundheit beschädigt und durch diese Körperverletzung den Tod des David Gr. verschuldet zu haben.

2

Das Landgericht Ravensburg hat auf Grund der Hauptverhandlung vom 2. November 1983 im wesentlichen folgenden Sachverhalt festgestellt:

3

Am Abend des 3. Juni 1982 kehrten Gr. und M. von einer Radtour nach F. zurück. Sie beschlossen, im Park des F. Schlosses in der Nähe eines verfallenen Badehauses zu biwakieren. Dieser Platz war ein beliebter Treffpunkt für junge Leute und Mitglieder der örtlichen Drogenszene. Die Schüler entzündeten ein Lagerfeuer; nach und nach gesellte sich ein wechselnder Kreis von Personen dazu, unter ihnen der Angeklagte und die Zeugen Peter Ö., Alexander P. und Markus Sy.. Während des Gesprächs kam in der Runde der Gedanke auf, einen Stechapfeltee zu kochen und gemeinsam zu trinken. Über die berauschende Wirkung dieser Pflanze, die Gr. und M. schon bekannt war, wurde ausführlich gesprochen (UA S. 3). Da sich der Angeklagte mit Rauschdrogen, insbesondere solchen aus Nachtschattengewächsen, schon früher eingehend befaßt hatte, erbot er sich, Blätter des Stechapfels zu sammeln und den Tee zuzubereiten. Er pflückte die Blätter und gab sie in einen Topf mit heißem Wasser, wobei er auf jeden Teilnehmer der Runde drei Blätter rechnete. Diesen Sud ließ der Angeklagte längere Zeit ziehen, fügte Schwarztee und Zucker hinzu, um den bitteren Geschmack des Stechapfels zu überdecken, und bot das fertige Getränk allen Anwesenden zum Probieren an. Er drängte nicht zum Genuß (UA S. 6) und äußerte, niemand solle mehr als eine Tasse nehmen, da es sonst "auf die Optik gehe". Gr., M., Ö., Sy., P. und der Angeklagte selbst tranken von dem Tee aus Tassen und Tellern, die an Lagerfeuer reihum gingen. Gr., dem es auf eine "besondere Wirkung" ankam, trank entgegen der Wernung des Angeklagten zwei Tassen des Getränks und anschließend noch den im Topf verbliebenen Satz; der Angeklagte hatte keine Möglichkeit, ihn an diesem Tun zu hindern (UA S. 8). Die in Stechapfel enthaltenen Wirkstoffe Hydroscyamin und Scopolamin hatten bei allen Teetrinkern schon nach kurzer Zeit schvere Rauschzustände mit Halluzinationen und Ausfallerscheinungen zur Folge. Die von Gr. konsumierte Mehrmenge führte allerdings nicht zu zusätzlichen Beeinträchtigungen (UA S. 7). In diesem Zustand geriet Gr. während der Nacht auf ungeklärte Weise in den nahegelegenen Bodensee, wo er im flachen Wasser ertrank. Ö. begab sich bis zur Brust in das Wasser und blieb dort lange Zeit stehen, bis er zitterte und heftig fror. M. stürzte mehrfach zu Boden, wobei er sich im Gesicht und an den Beinen Schürfunger zuzog. Der Angeklagte war infolge seines Rausches zu Hilfeleistunger nicht in der Lage (UA S. 10). Er verließ den Lagerplatz am frühen Morgen des 4. Juni 1982. Die Wirkung der Gifte - die nicht zu den von § 1 Abs. 1 BtmG erfaßten Substanzen gehören - ließ im Laufe des Tages bald nach.

4

Das Landgericht hat den Angeklagten aus rechtlichen Gründen freigesprochen und zu den relevanten Straftatbeständen (§§ 222, 223, 226, 230 StGB) sinngemäß ausgeführt: Jedes Mitglied der Runde habe durch den freiwilligen und eigenhändigen Genuß des Stechapfeltees seinen Rausch selbst verursacht und seine körperliche Unversehrtheit (durch vorübergehende Aufhebung wesentlicher körperlicher Funktionen, UA S. 10) selbst beeinträchtigt. Diese Selbstverletzung sei nicht tatbestandsmäßig. Der Angeklagte habe sich ohne eigenes Interesse an dieser Verletzung darauf beschränkt, das hierfür gewünschte Mittel zur Verfügung zu stellen. Dies sei der Sache nach Beihilfe zur Selbstverletzung, die mangels strafbarer Haupttat straflos bleiben müsse. Soweit das Verhalten des Angeklagten nicht nur zur Verletzung, sondern auch zum Tode des Gr. beigetragen habe, gelte das gleiche. Denn Gr. habe sich selbst und. freiwillig in die Gefahrenlage begeben, in der er umgekommen sei, und damit letztlich seinen Tod selbst veranlaßt. Die fahrlässige Förderung dieses "fahrlässigen Selbstmords" könne nicht strafbar sein, wenn sogar die vorsätzliche Beihilfe zu fremder Selbsttötung straflos bliebe.

5

Gegen das Urteil hat die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt. Sie strebt mit der Sachbeschwerde eine Verurteilung des Angeklagten an. Das Verhalten des Angeklagten sei wegen seines den Opfern überlegenen Sachwissens nicht als - straflose - Beihilfe zu fremder Selbstgefährdung, sondern als - strafbare - Fremdschädigung in mittelbarer Täterschaft zu beurteilen. Die Jugendlichen hätten die Gefährlichkeit ihres Vorhabens nicht voll erkannt und allenfalls eine gewisse Selbstgefährdung, nicht jedoch eine Selbstverletzung in Kauf genommen.

6

II.

Das Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwelt nicht vertreten wird, hat keinen Erfolg.

7

1.

Die rechtliche Würdigung des Falles durch den Tatrichter entspricht im Ergebnis den Rechtsgrundsätzen, die imSenatsurteil vom 14. Februar 1984 - 1 StR 808/83 (BGHSt 32, 262 = NJW 1984, 1469 = MDR 1984, 503 = JZ 1984, 750 m. Anm. Kienapfel) dargestellt sind.

8

Danach erfüllt die Selbsttötung oder Selbstverletzung nicht den Tatbestand eines Tötungs- oder Körperverletzungsdelikts, wenn sie frei und eigenverantwortlich gewollt und verwirklicht ist. Wer das eigenverantwortliche Handeln des Selbstschädigers vorsätzlich oder fahrlässig unterstützt, kann mangels Haupttat nicht strafbar sein. Das gleiche gilt für den Fall der eigenverantwortlich gewollten - erstrebten, als sicher vorausgesehenen oder in Kauf genommenen - und bewirkten Selbstgefährdung, gleichgültig ob sich das mit der Gefährdung bewußt eingegangene Risiko verwirklicht oder nicht und ob der sich Gefährdende hofft oder darauf vertraut, der Schaden werde nicht eintreten. Die Strafbarkeit des den Akt der Selbstgefährdung fördernden Dritten kann erst dort beginnen, wo er kraft überlegenen Sachwissens das Risiko besser erfaßt als der sich selbst Gefährdende (vgl. auch Dölling GA 1984, 71, 77).

9

Diese Voraussetzungen sind im angefochtenen Urteil nicht sämtlich ausdrücklich angesprochen; sie ergeben sich jedoch in ausreichender Weise aus dem Urteilszusammenhang:

10

a)

Nach den Feststellungen besteht kein Zweifel, daß die Jugendlichen den Stechapfeltee freiwillig getrunken haben, daß sie seine Wirkung gekannt haben, daß sie sich durch den Genuß des Getränks berauschen wollten und hierbei die mit dem Rausch verbundenen - üblichen und vorübergehenden - körperlichen Beeinträchtigungen in Kauf nahmen. Es blieb ihrer eigenen, von Willensmängeln und Fremdeinflüssen freien Entscheidung überlassen, vom angebotenen Tee viel, wenig oder gar nichts zu trinken. Anhaltspunkte dafür, daß sie die Situation verstandesmäßig nicht bewältigen oder willensmäßig nicht beherrschen konnten, liegen nicht vor.

11

Unter diesen Umständen bestehen keine Bedenken, da Handeln der Fünfzehnjährigen in Bezug auf das in Kauf genommene begrenzte Risiko als eigenverantwortlich anzusehen. Hierfür ist erforderlich, daß der Jugendliche nach seinen geistigen Fähigkeiten und nach seiner sittlichen Reife im konkreten Fall in der Lage war, die Bedeutung der Handlung und ihrer möglichen Folgen zu erkennen und zu bewerten, insbesondere den Wert des gefährdeten Rechtsguts und die sittliche Bedeutung des Vorgangs zutreffend einzuschätzen (vgl. Geilen JZ 1974, 145, 151; Herzberg, Täterschaft und Teilnahme S. 84; Roxin in Festschrift für Dreher S. 331, 349; Wessels, Strafrecht BT Bd. 1 S. 10; Bottke GA 1983, 22, 32, 36). Von entsprechenden Kriterien gehen im Bereich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit Jugendlicher § 3 JGG und bei der Zustimmung Jugendlicher zur Verletzung eigener Rechtsgüter durch Dritte auch Rechtsprechung und Schrifttum aus (vgl. u.a.: RGSt 41, 392; 72, 399; RG JW 1939, 32; BGHSt 4, 88, 90 [BGH 22.01.1953 - 4 StR 373/52]; 12, 379, 382 [BGH 10.02.1959 - 5 StR 533/58]; BGHZ 29, 33; BGH NJW 1981, 932: BayObLG JR 1978, 296; OLG München NJW 1958, 633 [OLG München 07.12.1956 - 3 U 1285/54]; Lenckner in Schönke/Schröder, StGB 21. Aufl. Rdn. 40 vor § 32; Lenckner ZStW 72, 446, 456; Jähnke in LK 10. Aufl. Rdn. 25/26 vor § 211 und § 216 Rdn. 7; Meister GA 1953, 166, 167). Daß diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann nach den Umständen des Falles angenommen werden.

12

b)

Die über den Zustand der Berauschung hinausgehenden Folgen des eigenverantwortlichen Handelns, also die im Rausch vollzogenen weiteren Akte der Selbstschädigung, wurden von keinem der Beteiligten vorausgesehen oder auch nur in Erwägung gezogen. Insoweit ist nach den Feststellungen auszuschließen, daß der Angeklagte die Risiken besser erfaßt hat als die verletzten M. und Ö. oder der tödlich verunglückte Gr.: Die berauschende Wirkung der Pflanze war ausführlich besprochen worden; die Örtlichkeiten waren allseits bekannt; die Gefährlichkeit der Lagerstätte am See für Berauschte war für einen Fünfzehnjährigen gleichermaßen einsichtig wie für einen Achtzehnjährigen. Der Angeklagte unterzog sich ohne Wissensvorsprung dem gleichen Risiko wie seine Zechgenossen.

13

2.

In der Senatsentscheidung vom 14. Februar 1984 (vgl. oben 1) konnte unerörtert bleiben, ob die dargelegter Grundsätze auch gelten, wenn den Dritten für Leib oder Leben des Selbstschädigers Garantenpflichten treffen (vgl. dazu BGH, Urt. v. 4. Juli 1984 -3 StR 96/84, zum Abdruck in BGHSt bestimmt). Die Frage kann auch hier dahinstehen. Als der Angeklagte seinen fördernden Beitrag leistete, hatte er keine Garantenstellung. Eine solche könnte zwar durch die Mitverursachung der Gefahrenlage begründet worden sein in Bezug auf Risiken, die der eigenverantwortlich Handelnde nicht gesehen oder nicht gewollt hat (vgl. BGH, Urt. vom 27. Juni 1984 - 3 StR 144/84). Zum Zeitpunkt, in dem die nicht vorausgesehenen Folgen des Teekonsums eintraten, war der Angeklagte jedoch wegen seines Rausches zu weiterem Handeln und damit zur Abwehr der Gefahr nicht in der Lage.

Herdegen
Kuhn
RiBGH Dr. Maul ist in Urlaub und deshalb verhindert, seine Unterschrift beizufügen Herdegen
Schikora
Foth