Bundesgerichtshof
Urt. v. 29.04.1953, Az.: VI ZR 63/52
Anrechnung des Verschuldens eines gesetzlichen Vertreters
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 29.04.1953
- Aktenzeichen
- VI ZR 63/52
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1953, 10063
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Frankfurt am Main
- OLG Frankfurt am Main - 03.01.1951
Rechtsgrundlagen
Fundstellen
- BGHZ 9, 316 - 320
- DB 1953, 464 (Volltext mit amtl. LS)
- MDR 1953, 539-540 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1953, 977 (Volltext mit amtl. LS)
Prozessführer
D. B.,
vertreten durch die Eisenbahndirektion F./M.,
Prozessgegner
1. ...
2. minderjährige Horst H.
gesetzlich vertreten durch seinen Vater, den Dekorateur August H. in F./M., W.straße ...,
Amtlicher Leitsatz
Besteht zwischen dem Schädiger und Geschädigten ein schuldrechtliches Verhältnis und ist im Rahmen dieser Beziehung ein vom Schädiger zu vertretender Schaden verursacht worden, so muß sich der Geschädigte ein für die Entstehung des Schadens mitursächliches Verschulden seines gesetzlichen Vertreters auch dann nach den §§ 254, 278 BGB anrechnen lassen, wenn der Schadensersatzanspruch ausschließlich auf § 1 HaftpflG gestützt wird.
In dem Rechtsstreitverfahren
hat der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs
auf die mündliche Verhandlung vom 20. April 1953
unter Mitwirkung der Bundesrichter Dr. Kleinewefers, Dr. Gelhaar, Hanebeck, Dr. Hauß und Dr. Kaul
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts in Frankfurt/Main vom 3. Januar 1951 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Am 16. April 1948 fuhr die Kutter des damals 4 1/2 - jährigen Klägers mit diesem und einem 5-jährigen Neffen in einem Personenzug von F.-Ost in Richtung A. Während die Mutter mit dem Keifen auf der Bank saß, stand der Kläger an der Abteiltür. Kurz vor der Station Groß-K. öffnete sich die Tür, und der Kläger fiel auf den Bahnkörper. Er zog sich hierdurch einen dreifachen Schädelbruch mit linksseitiger Lähmung zu.
Der Kläger hat behauptet, die Abteiltür sei nicht richtig verschlossen gewesen und habe sich von selbst geöffnet. Er hat um Feststellung gebeten, daß die Beklagte ihm allen Schaden aus dem Unfall zu ersetzen hat, soweit nicht die Schadenersatzansprüche auf öffentliche Versicherungsträger übergegangen sind.
Die Beklagte hat um Klageabweisung gebeten. Sie hat vorgetragen, die ordnungsmäßig verschlossene Abteiltür habe sich dadurch geöffnet, daß der Kläger an dem Türverschluß gespielt habe. Da die Mutter hiergegen nicht eingeschritten sei, habe sie in schwerer Weise ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt. Nach Auffassung der Beklagten muß sich der Kläger dieses Verschulden seiner Mutter anrechnen lassen.
Das Landgericht hat den Unfall darauf zurückgeführt, daß die Mutter den an dem Türschloß spielenden Kläger nicht genügend beaufsichtigt habe, und mit Rücksicht auf dieses Verschulden, das sich der Kläger anrechnen lassen müsse, die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht der Klage stattgegeben, jedoch gemäß dem Antrag des Klägers die Feststellung der Schadensersatzpflicht auf das Reichshaftpflichtgesetz beschränkt.
Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter. Der Kläger bittet um Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
I.
Die Revision ist zulässig. Der Wert des Feststellungsantrages ist gemäß § 3 ZPO nach freiem Ermessen zu schätzen. Da es dem Kläger in erster Linie um Zahlung einer laufenden Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu tun ist, kann vom zehnfachen Jahresbetrag dieser Rente ausgegangen werden (BGHZ 1, 43 [BGH 11.01.1951 - III ZR 151/50]). Nun hat der Kläger nach seinem Vortrag einen dreifachen Schädelbruch mit linksseitiger Lähmung erlitten. Er hat im einzelnen dargelegt, daß der linke Arm und das linke Bein imfolge des Unfalles in weitem Maß gebrauchsunfähig geworden sind und daß er in seinem späteren beruflichen Fortkommen äußerst benachteiligt sein wird. Es kann daher damit gerechnet werden, daß sich diese schweren Unfallfolgen auf das Fortkommen des Klägers erheblich auswirken werden. Nimmt man nur einen möglichen monatlichen Verdienstausfall von 60 TU an, so würde der für die Revisionsinstanz maßgebende Wert des Beschwerdegegenstandes bereits erheblich über 6.000 DM liegen.
II.
Der Kläger hat seinen Schadensersatzanspruch nur noch auf das Reichshaftpflichtgesetz gestützt. Zutreffend hat das Berufungsgericht ausgeführt, daß es sich um einen Betriebsunfall im Sinne des § 1 HaftpflG handele und dieser nicht durch höhere Gewalt verursacht sei. Insoweit werden auch von der Revision keine Bedenken geltend gemacht. Ebenso ist mit Recht davon ausgegangen, daß die Mitverursachung des Klägers selbst mit Rücksicht auf dessen fehlende Zurechnungsfähigkeit (§ 828 Abs. 1 BGB) im Rahmen des § 254 BGB nicht berücksichtigt werden könne.
Die Entscheidung ist lediglich davon abhängig, ob sich der Kläger ein Verschulden seiner Mutter, das diese bei Außerachtlassung ihrer Aufsichtspflicht treffen würde, anrechnen lassen muß. Das Berufungsgericht verneint diese Frage, die Revision will sie in Übereinstimmung mit dem Landgericht bejahen. Das Berufungsgericht geht von der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts aus, wonach dem Geschädigten ein Verschulden seines gesetzlichen Vertreters oder einer Hilfsperson, das für die Entstehung des Schadens ursächlich war, nur dann anzurechnen ist, wenn es in Rahmen eines bestehenden Schuldverhältnisses erfolgte oder wenn wenigstens etwas einer Verbindlichkeit Ähnliches vorlag (Fachweise im BGB RGRK 10. Aufl. Anm. 3 zu § 254). Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat diese, von einem großen Teil des Schrifttums bekämpfte Rechtsprechung des Reichsgerichts bestätigt (BGHZ 1, 248). Auch der I. Zivilsenat geht von ihr aus (BGHZ 3, 46). Es braucht hier jedoch nicht näher auf diese Frage eingegangen zu werden; denn mit Recht weist die Revision darauf hin, daß zwischen den Parteien (Kind und Bahn) schuldrechtliche Beziehungen bestanden. Es mag dahingestellt bleiben, ob die Mutter des Klägers durch Lösung der Kinderfahrkarte für den Kläger einen eigenen Beforderungsvertrag abgeschlossen hat. Nimmt man das an, wurde zwischen den Parteien ein Vertragsverhältnis mit gegenseitigen Rechten und Pflichten begründet. Nimmt man aber an, daß nur die Mutter Vertragspartnerin der Beklagten wurde und als solche das Recht erwarb, den Kläger mitzunehmen, so hatte das Kind aus diesem Vertrage ein Recht auf wohlbehaltene Beförderung mit der Folge, daß die Beklagte bei Verletzung ihrer Obhutspflichten dem Kinde aus Vertrag schadensersatzpflichtig wurde. Der Beforderungsvertrag zwischen der Mutter und der Bahn würde dann zugleich ein Vertrag zugunsten eines Dritten, nämlich des Klägers sein (RG Recht 1924 Nr. 161). Beim Vertrage zugunsten eines Dritten im Sinne des § 328 BGB ergibt sich aber aus der Berechtigung des Dritten für diesen die jeden Gläubiger treffende Sorgfaltspflicht bei Ausübung seiner Rechte (Erman-Westermann, Komm zum BGB Vorbein 3 c vor § 328; vgl auch RG JW 1913, 426). Insoweit ist das Verhältnis zwischen Versprechenden und Dritten als vertragsähnliches Verhältnis anzusehen (BGB RGRK 10. Aufl. Anm. 2 zu § 328; Palandt BGS 10. Aufl Vorbem 2 c vor § 328). In ähnlicher Weise ist auch bei einem Mietvertrag, aus dem ein Kind gemäß § 328 BGB Vertragsrechte erwirbt, zwischen Vermieter und Kind ein schuldrechtliches Verhältnis mit der Folge angenommen worden, daß bei einem Schadensersatzanspruch des Kindes gegen den Vermieter das Verschulden des gesetzlichen Vertreters dem Kinde gemäß den §§ 254, 278 BGB angerechnet worden ist (Urteil des III. Zivilsenats vom 28. April 1952 - III ZR 118/51 -, NJW 1952, 1050 [1053]). So ist auch hier für die entsprechende Anwendung des § 278 BGB im Rahmen des § 254 BGB Raum, selbst wenn nur ein Vertrag zugunsten des Kindes auf Beförderung anzunehmen sein sollte.
Im Sinne des § 254 BGB besteht das Verschulden des Geschädigten darin, daß dieser die jenige Sorgfaltspflicht außer acht läßt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt (RGZ 112, 284 [287]; RGZ 149, 6 [7;] RG DJ 1939, 1439). Das Gesetz sieht es - das ist der Rechtsgedanke dieser Bestimmung - als billig an, daß derjenige, der gegen das Gebot des eigenen Interesses handelt und hierdurch den Schaden mitverursacht, den Verlust oder die Kürzung seines Schadensersatzanspruches in Kauf nehmen muß (BGHZ 3, 46 [49]). Der 4 1/2 - jährige Kläger war nun selbst nicht in der Lage, die in seinem Interesse bestehenden Obliegenheiten während der Beförderung wahrzunehmen. Diese Aufgaben nahm ihm seine Mutter in Erfüllung ihrer gesetzlichen Fürsorge- und Aufsichtspflicht (§ 1634 BGB) ab. Wenn sie die Aufsichtspflicht während der Beförderung schuldhaft verletzte, so ist, wie das Reichsgericht (RGZ 149, 4) in einem ähnlich liegenden Fall überzeugend ausgeführt hat, ihr Verschulden dem Verschulden des Vaters als des gesetzlichen Vertreters gleichzustellen. Die Anwendung des § 278 BGB kann auch nicht deshalb entfallen, weil der Kläger seinen Schadensersatzanspruch nur auf die Bestimmungen des Reichshaftpflichtgesetzes stützt. Entscheidend kann nicht sein, welche Klagegrundlage der Kläger zur Begründung seines Schadensersatzanspruches wählt, sondern allein, daß der Schaden im Rahmen des begründeten vertraglichen oder vertragsähnlichen Verhältnisses entstanden ist und daß die Mutter die Obliegenheiten des Klägers in diesem Verhältnis verletzt hat. Wenn vom Reichsgericht und vom Bundesgerichtshof ausgesprochen worden ist, dem Geschädigten könne bei einer Klage aus unerlaubter Handlung ein für die Entstehung des Schadens mitursächliches Verschulden seines gesetzlichen Vertreters nicht nach § 254 Abs. 1 BGB entgegengehalten werden, so handelte es sich immer um Fälle, in denen, wie es gewöhnlich zutrifft, schuldrechtliche Beziehungen zwischen Schädiger und Geschädigtem vor dem haftungsbegründenden Ereignis nicht bestanden (RGZ 75, 257; RGZ 159, 283 [292]; BGHZ 1, 248). Auch in RGZ 62, 346, in der das Reichsgericht der Bahn gegen ein unentgeltlich befördertes und durch den Bahnbetrieb verletztes dreijähriges Kind die Berufung auf das Verschulden der Kutter versagt hat, ist davon ausgegangen, daß schuldrechtliche Beziehungen zwischen Kind und Bahn vor dem Schadensereignis nicht vorlagen. Ob dem zu folgen ist, nag dahingestellt bleiben, jedenfalls trifft diese Annahme in dem hier zu entscheidenden Fall nicht zu. Saß es nach Eintritt des schadenstiftenden Ereignisses dem Geschädigten anzurechnen ist, wenn der gesetzliche Vertreter schuldhaft den Schaden nicht abwendet oder mindert, ist allgemein anerkannt, (EGZ 141, 353 [355]; RGZ 156, 193 [205]). Der Grund, hier den § 278 BGB im Rahmen des § 254 II BGB entsprechend anzuwenden, ist darin gesehen, daß durch die unerlaubte Handlung Rechtsbeziehungen zwischen Schädiger und Geschädigtem entstanden waren. Bestanden aber vertragliche oder vertragsähnliche Beziehungen zwischen ihnen schon vor dem schadenstiftenden Ereignis, so muß das gleiche gelten. Die rechtliche Folge des Schadenseintritts kann also nicht losgelöst von den vertraglichen Beziehungen gewürdigt werden, innerhalb derer der Schaden entstanden ist. Demgemäß muß hier Berücksichtigung finden, daß der Kläger den Schaden nicht als irgendein vom Betrieb der Bahn Betroffener erlitten hat, sondern gerade während der vertraglich vereinbarten Beförderung (im Ergebnis ebenso Friese: Reichshaftpflichtgesetz 1950 C II 2 a zu § 1). Das Berufungsgericht hat diese Rechtsfrage anders gelöst und es daher offen gelassen, ob und inwieweit überhaupt ein schuldhaftes mitursächliches Verhalten der Kutter des Kläger vorgelegen hat. Insoweit bedarf die Sache auf Grund des Vortrages der Beklagten noch tatrichterlicher Klärung. Die Sache mußte daher unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden, dem es notfalls obliegt, die nach § 254 BGB gebotene Abwägung vorzunehmen (vgl hierzu BGHZ 2, 355). Sollte das Berufungsgericht zu einer Verurteilung der Beklagten gelangen, wird gemäß dem Klageantrag die mögliche Beschränkung des Schadensersatzanspruchs durch den Übergang auf öffentlich-rechtliche Versicherungsträger (§ 1542 RVO) in der Urteilsformel zum Ausdruck zu bringen sein. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsrechtszuges war dem Berufungsgericht zu überlassen.
Dr. Gelhaar
Hanebeck
Dr. Hauß
Dr. Kaul