Rechtswörterbuch

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Überlange Gerichtsverfahren

 Normen 

§ 198 GVG

§ 97a BVerfGG

 Information 

1. Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren

1.1 Allgemein

Zentrale Vorschrift des Rechtsschutzes bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ist § 198 GVG.

Absatz 1 begründet einen Entschädigungsanspruch gegen den Staat wegen überlanger Dauer eines gerichtlichen Verfahrens, der bei Verzögerungen in Verfahren der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Zivilverfahren einschließlich freiwilliger Gerichtsbarkeit und Strafverfahren einschließlich Bußgeldverfahren) und der Fachgerichtsbarkeiten zur Verfügung steht. Soweit das GVG nicht unmittelbar anwendbar ist, wird eine Ergänzung der einschlägigen Verweisungsnormen vorgenommen und eine entsprechende Anwendung in den Vorschriften angeordnet. Nur für die Verfassungsgerichtsbarkeit ist der Anspruch in § 97a BVerfGG gesondert geregelt.

1.2 Voraussetzungen einer Entschädigung

1.2.1 Unangemessene Dauer

Nach der Gesetzesbegründung sind bei der Beurteilung der Unangemessenheit folgende Kriterien zu berücksichtigen:

Für die Frage der Angemessenheit der Verfahrensdauer kommt es nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/3802) auf die Umstände des Einzelfalls an. § 198 Abs. 1 S. 2 GVG benennt deshalb nur beispielhaft und ohne abschließenden Charakter Umstände, die für die Beurteilung der Angemessenheit besonders bedeutsam sind. Dabei wird an die Maßstäbe angeknüpft, die sowohl das BVerfG als auch der EGMR im Zusammenhang mit der Frage überlanger gerichtlicher Verfahren entwickelt haben.

Maßgebend bei der Beurteilung der Verfahrensdauer ist danach - unter dem Aspekt einer möglichen Mitverursachung - zunächst die Frage, wie sich der Entschädigungskläger selbst im Ausgangsverfahren verhalten hat. Außerdem sind insbesondere Schwierigkeit, Umfang und Komplexität des Falles sowie die Bedeutung des Rechtsstreits zu berücksichtigen. Hier ist nicht nur die Bedeutung für den auf Entschädigung klagenden Verfahrensbeteiligten aus der Sicht eines verständigen Betroffenen von Belang, sondern auch die Bedeutung für die Allgemeinheit (Beispiel: Musterprozesse).

Relevant ist ferner das Verhalten sonstiger Verfahrensbeteiligter sowie das Verhalten Dritter. Wird eine Verzögerung durch das Verhalten Dritter ausgelöst, kommt es darauf an, inwieweit dies dem Gericht zugerechnet werden kann. Ob insbesondere die häufig durch die Einholung von Sachverständigengutachten entstehenden Verzögerungen dem Gericht zuzurechnen sind, muss bei einer Ex-post-Betrachtung durch das Entschädigungsgericht unter Berücksichtigung der richterlichen Unabhängigkeit anhand der Einzelfallumstände beurteilt werden. Zum Tragen kommen kann auch, ob es im konkreten Fall Handlungsalternativen insbesondere hinsichtlich Gutachterauswahl und -wechsel gegeben hat. In kindschaftsrechtlichen Verfahren, insbesondere in Verfahren, die das Sorge- und Umgangsrecht betreffen, ist bei der Beurteilung, welche Verfahrensdauer noch angemessen ist, das besondere kindliche Zeitempfinden einzubeziehen. Kleinere Kinder empfinden den Verlust einer Bezugsperson schneller als endgültig als ältere Kinder oder gar Erwachsene. Die Gefahr der Entfremdung zwischen Eltern und Kind, die für das Verfahren Fakten schaffen kann, ist hier besonders groß.

Bezugspunkt für die Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer ist grundsätzlich das Gesamtverfahren, soweit es - je nach geltend gemachtem Anspruch - in die Haftungsverantwortung des in Anspruch genommenen Rechtsträgers fällt. Allerdings sind Konstellationen denkbar, in denen schon vor Verfahrensabschluss eine unangemessene und irreparable Verzögerung feststellbar ist und in denen daher über die Kompensation für schon eingetretene Nachteile entschieden werden kann, obwohl das Ausgangsverfahren noch nicht beendet ist.

Der Staat kann sich zur Rechtfertigung der überlangen Dauer eines Verfahrens nicht auf Umstände innerhalb des staatlichen Verantwortungsbereichs berufen. Vielmehr muss er alle notwendigen Maßnahmen treffen, damit Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Frist beendet werden können. Deshalb kann bei der Frage der angemessenen Verfahrensdauer nicht auf die chronische Überlastung eines Gerichts, länger bestehende Rückstände oder eine allgemein angespannte Personalsituation abgestellt werden.

Zur Unangemessenheit ist bisher u.a. folgende Rechtsprechung ergangen:

  • Die Angemessenheit der Dauer eines Gerichtsverfahrens bemisst sich auch danach, wie das Gericht das Verfahren geführt hat und ob und in welchem Umfang ihm Verfahrensverzögerungen zuzurechnen sind. Unzulässig ist die Orientierung an einer (statistisch) durchschnittlichen Dauer verwaltungsgerichtlicher Verfahren (BVerwG 11.07.2013 - 5 C 23/12).

  • "Verzögerungen durch Erkrankung des zuständigen Richters können einen Entschädigungsanspruch wegen unangemessener Verfahrensdauer begründen. Die Pflicht zur Gewährung von Rechtsschutz in angemessener Zeit umfasst die Vorsorge für übliche Ausfallzeiten von Richtern durch wirksame Vertretung" (BSG 24.03.2022 - B 10 ÜG 2/20 R).

  • Die Verfahrensdauer ist unangemessen, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausgerichtete Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles ergibt, dass die aus konventions- und verfassungsrechtlichen Normen folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist. Dabei ist vor allem auch zu prüfen, ob Verzögerungen, die durch die Verfahrensführung des Gerichts eingetreten sind, bei Berücksichtigung des den Ausgangsgerichten insoweit zukommenden Gestaltungsspielraums sachlich gerechtfertigt sind (BVerwG 27.02.2014 - 5 C 1/13 und BVerwG 29.02.2016 - 5 C 31/15).

1.2.2 Nachteil

Nachteil und Kausalität sind im Entschädigungsprozess vom Geschädigten nachzuweisen. Der Ausgleichsanspruch umfasst nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/3802) als Vermögensnachteile insbesondere auch Kostenerhöhungen im Ausgangsverfahren aufgrund der Verzögerung, entgangenen Gewinn und die notwendigen Anwaltskosten für die vorprozessuale Verfolgung des Entschädigungsanspruchs. Zinsvorteile, die sich aus den Vorschriften der Abgabenordnung zur Vollverzinsung ergeben, sind bei der Bemessung des Entschädigungsanspruchs nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung zu berücksichtigen, sodass eine Überkompensation vermieden wird.

Daneben sind Nachteile auch sämtliche immateriellen Folgen eines überlangen Verfahrens. Neben der seelischen Unbill durch die lange Verfahrensdauer sind als Nachteile beispielsweise auch körperliche Beeinträchtigungen oder Rufschädigungen anzusehen. Insbesondere erfasst wird auch die Entfremdung eines Kindes von einem Elternteil.

1.2.3 Gerichtsverfahren und Verfahrensbeteiligte

Ein Gerichtsverfahren ist nach der gesetzlichen Definition in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG jedes Verfahren von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss einschließlich eines Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und zur Bewilligung von Prozess- oder Verfahrenskostenhilfe. Ausgenommen ist das Insolvenzverfahren nach dessen Eröffnung. Im eröffneten Insolvenzverfahren gilt die Herbeiführung einer Entscheidung als Gerichtsverfahren.

Nicht zum Gerichtsverfahren zählt das dem Verwaltungsprozess vorausgegangene behördliche Vorverfahren (BVerwG 11.07.2013 - 5 C 23/12).

Die Geltung des Entschädigungsanspruchs für das Strafverfahren einschließlich des Verfahrens auf Vorbereitung der öffentlichen Klage ist durch die Regelung in § 199 GVG gewährleistet.

Ein Verfahrensbeteiligter ist nach der gesetzlichen Definition in § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG jede Partei und jeder Beteiligte eines Gerichtsverfahrens mit Ausnahme der Verfassungsorgane, der Träger öffentlicher Verwaltung und sonstiger öffentlicher Stellen, soweit diese nicht in Wahrnehmung eines Selbstverwaltungsrechts an einem Verfahren beteiligt sind.

Hinweis:

Für die Verfassungsorgane ist der Anspruch in § 97a BVerfGG gesondert geregelt.

Die Entschädigungsregelung bei überlanger Verfahrensdauer ist auch auf das gerichtliche Verfahren nach §§ 109 ff StVollzG unmittelbar anzuwenden (BGH 13.02.2014 - III ZR 311/13).

1.2.4 Notwendigkeit der Rügeerhebung

Zwingende Voraussetzung für die Gewährung von Entschädigung ist gemäß § 198 Abs. 3 GVG, dass der Betroffene in dem Verfahren, für dessen Dauer er entschädigt werden möchte, eine Verzögerungsrüge erhoben hat. Maßgeblich für den Zeitpunkt ist die Besorgnis der Gefährdung, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen werden kann, d.h. die konkrete Möglichkeit einer Verzögerung besteht.

Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat festgelegt, wann eine Verzögerungsrüge rechtzeitig erhoben worden ist (BVerwG 12.07.2018 - 2 WA 1/17)"

"Sie darf gemäß § 198 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 1 GVG erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird. Eine noch vor dem Bestehen einer entsprechenden Besorgnis erhobene Verzögerungsrüge ist unwirksam (...). Bei der Bestimmung des Zeitpunkts, von dem ab "Anlass zur Besorgnis" (...) besteht, verlangen Gesetzesbegründung, Rechtsprechung und rechtswissenschaftliches Schrifttum einhellig eine Situation, in der ein Verfahrensbeteiligter (§ 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG) erstmals Anhaltspunkte dafür hat, dass das Verfahren keinen angemessenen zügigen Fortgang nimmt, sich folglich die konkrete Möglichkeit einer Verzögerung abzeichnet (...). Grundlage der Prognose haben danach objektive Gründe zu sein, die bei einer ex-ante-Betrachtung aus der Sicht eines vernünftigen Rügeführers im konkreten Einzelfall eine überlange Verfahrensdauer hinreichend wahrscheinlich erscheinen lassen" (...).

1.3 Angemessene Entschädigung

Der Ausgleich umfasst dem Umfang nach sowohl den vollen Ersatz für materielle Nachteile als auch einen Ausgleich für immaterielle Nachteile. Der für diesen Ausgleich verwendete Begriff "Entschädigung" wird damit in einem erweiterten, vom sonstigen Staatshaftungsrecht abweichenden Sinn gebraucht.

Für die Bemessung der Entschädigung sind die Grundsätze der §§ 249 ff. BGB zu beachten.

Die Entschädigung für immaterielle Nachteile richtet sich nach § 198 Abs. 2 GVG: Danach ist eine Entschädigung für immaterielle Nachteile ausgeschlossen, soweit nach den Einzelfallumständen eine Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist. Die Entschädigung gemäß Satz 2 beträgt 1.200,00 EUR für jedes Jahr der Verzögerung. Für Zeiträume unter einem Jahr erfolgt nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/3802) eine zeitanteilige Berechnung.

So hat das BSG mit der Entscheidung BSG 21.02.2013 - B 10 ÜG 1/12 KL für eine Verzögerung von sieben Monaten einen Entschädigungsbetrag von 700,00 EUR anerkannt.

Ist der Betrag nach den Umständen des Einzelfalles unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen.

Die Höhe der Kompensation für eine hinsichtlich Art, Ausmaß und ihrer Ursachen prozessordnungsgemäß festgestellte überlange Verfahrensdauer ist ein zulässiger Verständigungsgegenstand im Rahmen einer Absprache im Strafverfahren (BGH 25.11.2015 - 1 StR 79/15).

1.4 Frist

Eine Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs kann gemäß § 198 Abs. 5 GVG frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden. Die Klage muss spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Verfahrens erhoben werden. Bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Klage ist der Anspruch nicht übertragbar.

1.5 Konkurrenz mit anderen Ansprüchen

Andere mögliche Ansprüche, insbesondere aus Amtshaftung, bleiben unberührt; sie stehen mit dem Entschädigungsanspruch in Anspruchskonkurrenz, die allerdings nicht zu einer Überkompensation führen darf. Im Rahmen des Amtshaftungsanspruchs ist eine bereits erhaltene Entschädigung im Wege der Vorteilsausgleichung zu berücksichtigen. Auch bei der Bemessung einer zu gewährenden Entschädigung ist ein erfüllter Amtshaftungsanspruch insoweit beachtlich, als es um dieselben Nachteile geht.

2. Übergangsvorschriften

Das obige Artikelgesetz bestimmt in seinem Art. 22, dass dieses Gesetz auch für Verfahren gilt, die bei seinem Inkrafttreten bereits anhängig waren, sowie für abgeschlossene Verfahren, deren Dauer bei seinem Inkrafttreten Gegenstand von anhängigen Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist oder noch werden kann.

Für anhängige Verfahren, die bei dem Inkrafttreten des Gesetzes schon verzögert waren, gilt § 198 Abs. 3 GVG mit der Maßgabe, dass die Verzögerungsrüge unverzüglich nach Inkrafttreten erhoben werden muss. In diesem Fall wahrt die Verzögerungsrüge einen Anspruch nach § 198 GVG auch für den vorausgehenden Zeitraum.

Ist bei einem anhängigen Verfahren die Verzögerung in einer schon abgeschlossenen Instanz erfolgt, bedarf es keiner Verzögerungsrüge. Auf abgeschlossene Verfahren gemäß Satz 1 ist § 198 Abs. 3 und 5 GVG nicht anzuwenden. Die Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs nach § 198 Abs. 1 GVG musste spätestens bis zum 3. Juni 2012 erhoben werden.

 Siehe auch 

Amtshaftung

Dienstaufsichtsbeschwerde

Schadensersatz

Verfassungsbeschwerde

Zivilprozess

Althammer/Schäuble: Effektiver Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer - Das neue Gesetz aus zivilrechtlicher Perspektive; Neue Juristische Wochenschrift - NJW 2012, 1

Keders/Walter: Langdauernde Zivilverfahren - Ursachen überlanger Verfahrensdauern und Abhilfemöglichkeiten; Neue Juristische Wochenschrift - NJW 2013, 1697

Steinbeiß-Winkelmann/Ott: Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren. Online-Kommentar