Richterrecht
Richterrecht entsteht durch die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung (Rechtsfortbildung). Die Rechtsfortbildung, die Reaktion auf die sich verändernden Verhältnisse ist oder einfach nur der Schließung festgestellter Gesetzeslücken dient, obliegt zwar in erster Linie dem Gesetzgeber, ist aber zugleich auch eine legitime richterliche Aufgabe. Durch Gesetze kann zwar eine Vielzahl von Fällen geregelt werden, doch weist der Einzelfall oft neue, vom Gesetz nicht vorhergesehene und daher nicht berücksichtigte Problemlagen auf.
Beispiel:
Die Abmahnung ist ein durch Richterrecht geschaffenes Rechtsinstitut.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit der Entscheidung BVerfG 06.06.2018 - 1 BvL 7/14 folgende Grundsätze für die richterliche Rechtsfortbildung aufgestellt:
"Zu den Aufgaben der Rechtsprechung gehört die Rechtsfortbildung. Der Gesetzgeber hat dies seit langem anerkannt und den obersten Gerichtshöfen des Bundes die Aufgabe der Rechtsfortbildung ausdrücklich überantwortet (vgl. für das Bundesarbeitsgericht § 45 Abs. 4 ArbGG). Dies belässt dem Gesetzgeber die Möglichkeit, in unerwünschte Rechtsentwicklungen korrigierend einzugreifen und so im Wechselspiel von Rechtsprechung und Rechtsetzung demokratische Verantwortung wahrzunehmen (...). Die richterliche Rechtsfortbildung darf hingegen nicht dazu führen, dass die Gerichte ihre eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen (...). Die Gerichte dürfen sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen, sondern müssen die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren. Eine Interpretation, die sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (...). Für die Beantwortung der Frage, welche Regelungskonzeption im Gesetz zugrunde liegt, kommt neben Wortlaut und Systematik den Gesetzesmaterialien eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu (...). In Betracht zu ziehen sind hier die Begründung eines Gesetzentwurfes, der unverändert verabschiedet worden ist, die darauf bezogenen Stellungnahmen von Bundesrat (Art. 76 Abs. 2 Satz 2 GG) und Bundesregierung (Art. 76 Abs. 3 Satz 2 GG) und die Stellungnahmen, Beschlussempfehlungen und Berichte der Ausschüsse. In solchen Materialien finden sich regelmäßig die im Verfahren als wesentlich erachteten Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe und Personen."
Andernfalls besteht die Gefahr der Rechtsbeugung.
Dies geht einher mit der Entscheidung BVerfG 25.01.2011 - 1 BvR 918/10:
"Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Er muss die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen. Er hat hierbei den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu folgen (...). Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder - bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke - stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (...). Da die Rechtsfortbildung das einfache Recht betrifft, obliegt die Beantwortung der Frage, ob und in welchem Umfang gewandelte Verhältnisse neue rechtliche Antworten erfordern, wiederum den Fachgerichten. Das Bundesverfassungsgericht darf deren Würdigung daher grundsätzlich nicht durch seine eigene ersetzen (...). Seine Kontrolle beschränkt sich darauf, ob die rechtsfortbildende Auslegung durch die Fachgerichte die gesetzgeberische Grundentscheidung und dessen Ziele respektiert (...) und ob sie den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung folgt (...)."
Hinweise:
Selbst eine ständige oder gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung entfaltet nicht die gleichen stabilisierenden Wirkungen wie eine klare gesetzliche Regelung, da sie nicht im gleichen Maße demokratisch legitimiert ist wie das vom Parlament beschlossene Recht. Einzige Ausnahme: Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden alle übrigen Staatsorgane (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) und erlangen in den Fällen des § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft (bezieht sich nur auf den Tenor, nicht auch auf die Gründe der Entscheidung). Zwar dienen die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung herausgearbeiteten Grundsätze den unteren Gerichten und der Verwaltung als Richtschnur bzw. Leitfaden für die Behandlung bzw. Entscheidung gleich gelagerter Fälle, doch hat dies nicht zwingend zu geschehen. Auch gebietet der Gleichheitsgrundsatz nicht, dass eine einmal höchstrichterlich entschiedene Frage niemals mehr anders entschieden werden darf, da sonst jede Rechtsentwicklung und Rechtsfortbildung verhindert würde.
Die Letztentscheidung über eine abweichend von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entschiedene Frage treffen allerdings die obersten Gerichtshöfe selbst, da das Abweichen von höchstrichterlicher Rechtsprechung grundsätzlich ein Revisionszulassungsgrund darstellt (siehe z.B. § 72 ArbGG, § 132 VwGO).
Innerhalb eines jeden obersten Gerichtshofes wird die Einheitlichkeit der Rechtsprechung durch den Großen Senat gewahrt, zwischen den obersten Gerichtshöfen geschieht dies durch den Gemeinsamen Senat.
Kommt es in einer unterinstanzlichen Entscheidung zu einer entscheidungserheblichen Abweichung von den aufgezeigten Grundsätzen der höchstrichterlichen Rechtsprechung, ist die Entscheidung wegen des Verstoßes gegen das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) aufzuheben (BVerfG 29.05.2007 - 1 BvR 624/03).