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Europäischer Haftbefehl

 Normen 

2002/584/JI: Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten

IRG

 Information 

1. Ziel

Mit dem Rahmenbeschluss BS 2002/584 wurde die Grundlage für einen gemeinsamen europäischen Haftbefehl gelegt.

Die Europäische Union soll zu einem Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts zusammenwachsen. Aus diesem Grund sollte das vormalige komplizierte und langsame System von Auslieferungen vereinfacht werden, indem die gesamte politische und administrative Phase durch ein Gerichtsverfahren ersetzt wird.

Ziel ist es, strafrechtlich justizielle Entscheidungen gegenseitig anzuerkennen, sowohl in der Phase vor als auch nach der Urteilsverkündung.

Die Europäische Kommission hat 2017 ein überarbeitetes Handbuch mit Hinweisen zur Ausstellung und Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls veröffentlicht.

2. Anwendung

Ein Europäischer Haftbefehl kann bei Handlungen erlassen werden, die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind, oder im Falle einer Verurteilung zu einer Strafe oder der Anordnung einer Maßregel der Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt.

Der Europäische Haftbefehl tritt an die Stelle aller europäischen Auslieferungsabkommen. Ein in einem Mitgliedsstaat ausgestellter Haftbefehl kann in jedem anderen Mitgliedsstaat vollstreckt werden.

Ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung ist nicht vorgesehen.

Der EuGH hat nunmehr jedoch Grenzen des Europäischen Haftbefehls aufgezeigt:

Danach dürfen bei Erhalt eines Europäischen Haftbefehls EU-Mitgliedstaaten Personen nicht automatisch an andere EU-Staaten ausliefern, wenn diesen dort unmenschliche Behandlungen drohen. Vielmehr muss das zuständige Gericht zunächst prüfen, ob es ernsthafte, durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gebe, dass die Betroffenen tatsächlich einer solchen Gefahr ausgesetzt würden. Die allgemeinen Haftbedingungen in einem Land seien allein kein Grund, die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle abzulehnen.

Dies entschied der EuGH am 5. April 2016 in den verbundenen Urteilen C-404/15 und C-659/15 in Auslegung der Art. 1 Abs. 3, Art. 5 und Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI zum Europäischen Haftbefehl.

Dem Urteil lag die Vorabentscheidungsfrage des OLG Bremen zugrunde, ob ein Ungar und ein Rumäne auf Grundlage des Europäischen Haftbefehls in ihre Heimatländer ausgeliefert werden müssen, wenn die Bedingungen in den dortigen Gefängnissen gegen die Grundrechte der EU zu verstoßen drohen. Das OLG bezog sich auf Urteile des EGMR, der Rumänien und Ungarn wegen der Überbelegung in den Haftanstalten Grundrechtsverstöße vorgeworfen hatte. Der EuGH führte weiter aus, dass die für die Vollstreckung des Haftbefehls zuständige Behörde die ausstellende Behörde um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen Informationen in Bezug auf die Haftbedingungen bitten müsse. Wenn die für die Vollstreckung zuständige Stelle sodann eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung feststelle, müsse sie die Vollstreckung des Haftbefehls aufschieben, bis sie zusätzliche Informationen erhalten hat, die die Gefahr widerlegen. Lasse sich die Gefahr nicht innerhalb einer angemessenen Frist widerlegen, müsse die Behörde über die Beendigung des Übergabeverfahrens entscheiden.

3. Straftatenkatalog

Die EU-Staaten haben sich auf einen Straftatenkatalog geeinigt, auf die die Bestimmungen des europäischen Haftbefehls angewandt werden, d.h. die Begehung bzw. der Verdacht der Begehung eines der folgenden Delikte kann den Erlass eines Europäischen Haftbefehls auslösen. Für alle übrigen Straftaten gelten die bisherigen Verfahrensweisen.

Eine Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls erfolgt bei folgenden Straftaten:

  • Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung

  • Terrorismus

  • Menschenhandel

  • sexuelle Ausbeutung von Kindern und Kinderpornographie

  • illegaler Drogenhandel

  • illegaler Waffenhandel

  • Geldwäsche

  • Geldfälschung

  • Cyberkriminalität

  • Umweltkriminalität

  • Beihilfe zu illegaler Einreise und illegalem Aufenthalt

  • Mord

  • schwere Körperverletzung

  • illegaler Organ- und Gewebehandel

  • Entführung, Freiheitsberaubung und Geiselnahme

  • Rassismus und Fremdenfeindlichkeit

  • Diebstahl in organisierter Form und schwerer Raub

  • illegaler Handel mit Kulturgütern

  • Betrugsdelikte

  • Erpressung und Schutzgelderpressung

  • Produktpiraterie und Nachahmung

  • Fälschung von und Handel mit amtlichen Dokumenten

  • Fälschung von Zahlungsmitteln

  • illegaler Handel mit Hormonen und Wachstumsförderern

  • illegaler Handel mit nuklearen und radioaktiven Substanzen

  • Kraftfahrzeugkriminalität

  • Vergewaltigung

  • Brandstiftung

  • Verbrechen, die in die Zuständigkeit des internationalen Strafgerichtshofs fallen

  • Flugzeug- und Schiffsentführung

4. Umsetzung in Deutschland

4.1 Allgemein

Die Internationale Strafhilfe ist in Deutschland in dem Gesetz über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) geregelt. Die Grundsätze des Europäischen Haftbefehls sind im achten und neunten Teil des IRG eingearbeitet.

Aufgrund des Urteils EuGH 27.05.2019 - C 509/18 sind die von den deutschen Staatsanwaltschaften ausgestellten Haftbefehle unwirksam: Da die deutschen Staatsanwaltschaften dem Weisungsrecht der Justizminister unterliegen, erfüllen sie nicht die Voraussetzungen der ausstellenden Behörde im Sinne des obigen Rahmenbeschlusses. Nunmehr werden die Haftbefehle von den Staatsanwaltschaften vorbereitet und von Richtern ausgestellt.

4.2 Rechtmäßigkeit der Auslieferung

Die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Auslieferung unterliegt einem zweistufigen Verfahren: Es wird zwischen dem Zulässigkeits- und dem Bewilligungsverfahren unterschieden:

  1. a)

    Zulässigkeitsverfahren:

    Nach dem Auslieferungsantrag beantragt gemäß § 29 IRG die bei dem Oberlandesgericht angesiedelte Staatsanwaltschaft die Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Zulässigkeit der Auslieferung. Der Verfolgte ist zuvor anzuhören.

    Das Oberlandesgericht kann den Verfolgten vernehmen sowie eine mündliche Verhandlung durchführen (§ 30 f. IRG).

    Nach einer positiven Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Zulässigkeit der Auslieferung erfolgte gemäß § 12 IRG die Prüfung des Vorliegens von Bewilligungshindernissen. Bewilligungsbehörde ist die bei dem Oberlandesgericht angesiedelte Staatsanwaltschaft. Das Bewilligungsverfahren war bis zur Gesetzesänderung nicht gesetzlich geregelt, die gerichtliche Überprüfbarkeit der Entscheidung nicht vorgesehen. Dies wurde durch das Bundesverfassungsgericht als ein Verstoß gegen die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG angesehen.

  2. b)

    Bewilligungsverfahren:

    Das Bewilligungsverfahren sowie das gegen die Entscheidung mögliche Rechtsmittel sind in § 79 IRG geregelt.

    Gemäß § 79 Abs. 1 IRG ist ein zulässiges Auslieferungsersuchen grundsätzlich zu bewilligen. Eine Ablehnung der Bewilligung kann nur nach den in den §§ 79 ff. IRG aufgeführten Gründen erfolgen.

    Die Entscheidung über die Bewilligung ist gemäß § 79 Abs. 2 IRG vorverlegt und ist von der Staatsanwaltschaft vor der Zulässigkeitsentscheidung des Oberlandesgerichts zu treffen. Die Entscheidung, die Auslieferung zu bewilligen, ist im Verfahren der Zulässigkeitsprüfung durch das Oberlandesgericht zu überprüfen. Die die Auslieferung verhindernden Bewilligungshindernisse sind in § 83b IRG aufgeführt.

    Soweit nach der Entscheidung des Oberlandesgerichts Umstände auftreten, die ein Bewilligungshindernis begründen könnten, kann der Verfolgte gemäß § 79 Abs. 2 IRG i.V.m. § 33 IRG eine erneute Entscheidung beantragen.

4.3 Auslieferung deutsche Staatsangehörige

Siehe Auslieferung - Deutsche Staatsangehörige.

4.4 Vereinfachte Auslieferung

Gemäß § 41 IRG kann die Auslieferung auf Ersuchen der zuständigen Stelle des ausländischen Staates ohne Durchführung des förmlichen Auslieferungsverfahrens bewilligt werden, wenn sich der Verfolgte nach einer in dem richterlichen Protokoll aufzunehmenden Belehrung einverstanden erklärt. Das vereinfachte Verfahren ist danach bei Vorliegen der Voraussetzungen auch auf Deutsche anwendbar.

5. Überwachungsmaßnahmen zur Vermeidung von Untersuchungshaft

Zur Anordnung von Überwachungsmaßnahmen zur Vermeidung von Untersuchungshaft siehe den Beitrag "Internationale Rechtshilfe in Strafsachen".

6. Weigerung der Vollstreckung

Gemäß dem Urteil EuGH 24.06.2019 C-573/17 kann ein Mitgliedstaat die Vollstreckung des Haftbefehls verweigern, sofern der Staat eine Garantie abgibt, dass die Freiheitsstrafe des Verurteilten auch tatsächlich in dem Vollstreckungsstaat vollstreckt wird.

 Siehe auch 

Europol

Haftbefehl

Internationale Rechtshelfe in Strafsachen

Justizielles Netz

EuGH 01.06.2016 - C 241/15 (Auslegung des Begriffs "Haftbefehl" in Art. 8 Abs. 1 Buchstabe c)

EuGH 16.11.2010 - C 261/09 (Definition des Begriffs "dieselbe Handlung")

OLG Stuttgart 26.10.2006 - 3 Ausl. 52/06 (Auslieferung eines Deutschen an Polen)