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Allgemeinverbindlichkeit eines Tarifvertrages

 Normen 

§ 5 TVG

 Information 

1. Einführung

Die Allgemeinverbindlichkeit ist die Gültigkeitserweiterung eines Tarifvertrages auf die nicht den Tarifvertragsparteien angehörenden Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

Die Allgemeinverbindlicherklärung ist ein Instrument, das die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte autonome Ordnung des Arbeitslebens durch die Koalitionen abstützen soll, indem die Allgemeinverbindlicherklärung den Normen der Tarifverträge zu größerer Durchsetzungskraft verhilft.

2. Allgemeinverbindlichkeitserklärung Normalfall

Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung erfolgt gemäß § 5 Abs. 1 TVG durch das Bundesministerium für Arbeitund Soziales im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss, wenn folgende Voraussetzungen vorliegen:

  1. a)

    Es muss ein wirksamer Tarifvertrag vorliegen.

  2. b)

    Die Allgemeinverbindlichkeit muss von beiden Tarifvertragsparteien gemeinsam beantragt werden.

  3. c)

    Die Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrages erscheint im öffentlichen Interesse geboten. Dabei ist das öffentliche Interesse insbesondere bei Erfüllung der in § 5 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 TVG aufgeführten Tatbestände gegeben:

    • Der Tarifvertrag hat in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt. Dabei ist nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/1558) zu berücksichtigen, wenn der besondere Geltungsbefehl der Allgemeinverbindlicherklärung nur für einen Teil des Geltungsbereichs erfolgt. Die überwiegende Bedeutung kann sich in erster Linie aus der mitgliedschaftlichen Tarifbindung ergeben. Darüber hinaus sind für die überwiegende Bedeutung des Tarifvertrages nunmehr sämtliche Arbeitsverhältnisse, die tarifgemäß ausgestaltet sind, heranzuziehen. Berücksichtigt werden können damit inhaltsgleiche Anschlusstarifverträge, vertragliche Inbezugnahmen sowie die anderweitige Orientierung des Arbeitsverhältnisses an den tariflichen Regelungen. Hat sich der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich überwiegend durchgesetzt, so überwiegt grundsätzlich das Interesse an der Abstützung der tariflichen Ordnung gegenüber der Arbeitsvertragsfreiheit der Arbeitgeber, die keine Tarifverträge anwenden. Zugleich ist in besonderem Maße sichergestellt, dass die Erstreckung des Tarifvertrages geeignet ist, den unter seinen Geltungsbereich fallenden Arbeitnehmern angemessene Arbeitsbedingungen zu sichern.

      Die Tarifvertragsparteien müssen die überwiegende Bedeutung des Tarifvertrages darlegen, d.h. dass dies überwiegend wahrscheinlich erscheint.

      oder

    • Die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrages ist auch dann möglich, wenn die Tarifvertragsparteien darlegen können, dass die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen die Sicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung verlangen.

      Von einer solchen wirtschaftlichen Fehlentwicklung kann insbesondere ausgegangen werden, wenn die Aushöhlung der tariflichen Ordnung den Arbeitsfrieden gefährdet. Auch kann von Bedeutung sein, ob in Regionen oder Wirtschaftszweigen Tarifstrukturen erodieren. Die Erhaltung einer funktionsfähigen Tarifordnung liegt auch im öffentlichen Interesse. Ihre Grenze findet die Stützung der tariflichen Ordnung, wenn der Tarifvertrag von im konkreten Bereich völlig unbedeutenden Koalitionen abgeschlossen worden ist.

3. Allgemeinverbindlichkeitserklärung - Sonderregelung

Mit § 5 Abs. 1a TVG wurde eine Sonderregelung für die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages über eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien eingeführt:

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann einen Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung zur Sicherung ihrer Funktionsfähigkeit im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien für allgemeinverbindlich erklären, wenn der Tarifvertrag die Einziehung von Beiträgen und die Gewährung von Leistungen durch eine gemeinsame Einrichtung mit folgenden Gegenständen regelt:

  • Den Erholungsurlaub, ein Urlaubsgeld oder ein zusätzliches Urlaubsgeld.

  • Die Vergütung der Auszubildenden oder die Ausbildung in überbetrieblichen Bildungsstätten.

  • Eine betriebliche Altersversorgung im Sinne des Betriebsrentengesetzes.

  • Eine zusätzliche betriebliche oder überbetriebliche Vermögensbildung der Arbeitnehmer.

  • Lohnausgleich bei Arbeitszeitausfall, Arbeitszeitverkürzung oder Arbeitszeitverlängerung.

§ 5 Abs. 1a S. 2 TVG stellt klar, dass der Tarifvertrag auch die materiellen Ansprüche der Arbeitnehmer regeln kann, die der Einziehung und Gewährung von Leistungen durch die gemeinsame Einrichtung zugrunde liegen. Gegenstand der tarifvertraglichen Regelung können zudem die mit der Durchführung des Beitragseinzugs und der Leistungsgewährung im Zusammenhang stehenden Verfahrensvorschriften sein, wie Melde-, Nachweis- und Informationspflichten sowie Prüf- und Auskunftsrechte der gemeinsamen Einrichtung.

4. Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung

Zu den Inhalten des Beschlussverfahrens, wenn in diesem über die Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages entschieden wird, siehe den Beitrag "Beschlussverfahren - Arbeitsgerichtsbarkeit".

5. Kein Anspruch auf Allgemeinverbindllichkeit

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass kein Anspruch der Koalitionen aus Art. 9 Abs. 3 GG auf eine Allgemeinverbindlicherklärung besteht. Die durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Normsetzungsbefugnis der Koalitionen erstreckt sich grundsätzlich nur auf die Mitglieder der tarifvertragschließenden Parteien (BVerfG 10.01.2020 - 1 BvR 4/17).

 Siehe auch 

Günstigkeitsprinzip

Mindestlohn

Öffnungsklausel - Tarifvertrag

Tarifeinheit

Tarifvertrag

BAG 12.05.2010 - 10 AZR 559/09 (Auslegung einer Allgemeinverbindlicherklärung)

LAG Berlin 06.03.2001 - 13 SHa 247/01 (Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung)

BVerfG 15.07.1980 - 1 BvR 24/74

Reichold: Stärkung in Tiefe und Breite - wie viel Staat verkraftet die Tarifautonomie?; Neue Juristische Wochenschrift - NJW 2014, 2534

Litschen: Tarifrecht für Anwender; Online-Werk

Müller: Die Allgemeinverbindlichkeit nach neuem Recht in der Pflege; Zeitschrift für das öffentliche Arbeits- und Tarifrecht - öAT 2019, 29