Bundesverwaltungsgericht
Urt. v. 13.05.1993, Az.: BVerwG 9 C 49/92
Asylrecht; Religion; Glaubensfreiheit; Politisch Verfolgter
Bibliographie
- Gericht
- BVerwG
- Datum
- 13.05.1993
- Aktenzeichen
- BVerwG 9 C 49/92
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1993, 13075
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Karlsruhe 12.09.1990 - A 10 K 516/90
- VGH Mannheim 29.06.1992 - A 16 S 3077/90
Rechtsgrundlage
Fundstellen
- BVerwGE 92, 278 - 281
- DVBl 1993, 1025 (amtl. Leitsatz)
- DÖV 1994, 661 (amtl. Leitsatz)
- InfAuslR 1993, 357-359 (Volltext mit amtl. LS)
- NVwZ 1993, 788-789 (Volltext mit amtl. LS)
- ZAR 1993, 140 (red. Leitsatz)
Amtlicher Leitsatz
Ein Asylbewerber, gegen den sein Heimatstaat wegen des Verdachts, in bestimmter Form seinen Glauben betätigt zu haben , ein Strafverfahren betrieben und eine mehrjährige Freiheitsstrafe verhängt hat, ist politische Verfolgter i. S. des Art. 16 II 2 GG a. F.
Tatbestand:
I. Der im Jahre 1967 geborene Kläger, ein Staatsangehöriger Pakistans und Mitglied der Ahmadi-Glaubensgemeinschaft, reiste am 19. Juli 1987 von Pakistan nach Deutschland und bat hier alsbald unter Hinweis auf die Verfolgung, der die Ahmadis als religiöse Minderheit in Pakistan ständig ausgesetzt seien, und auf Übergriffe, die er selbst von fanatischen Moslems zu erdulden gehabt habe, um Asyl. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5. April 1988 ab. Im anschließenden verwaltungsgerichtlichen Verfahren legte der Kläger einen Brief seines Vaters vor, in dem davon berichtet wird, das Strafverfahren gegen den Kläger wegen Benutzung des mohammedanischen Gebetsrufes und Tragens der Kalima sei noch anhängig, die Polizei frage immer wieder bei den Eltern wegen des Aufenthaltsorts des Klägers nach. Mit rechtskräftig gewordenem Urteil vom 7. Juni 1989 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen, da der Kläger, selbst wenn er vorverfolgt sei, vor künftigen Verfolgungsmaßnahmen hinreichend sicher sei. Der Verzicht auf bestimmte Formen der Ausübung ihrer Religion, der den Ahmadis durch die neugeschaffenen Strafvorschriften auferlegt sei, sei keine Verfolgung im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG.
Am 12. September 1989 stellte der Kläger einen Asyl-Folgeantrag. Er stützte ihn auf die seiner Ansicht nach durch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Juli 1987 - 2 BvR 478/86 und 962/86 - (BVerfGE 76, 143) und den nachfolgenden Wandel in der Rechtsprechung mehrerer Oberverwaltungsgerichte geänderte Rechtslage, ferner auf die veränderte Sachlage in Pakistan. Dort habe nämlich mit dem Erlaß der Sektionen 298 B und 298 C des Pakistanischen Strafgesetzbuches am 26. April 1984 und der Sektion 295 C am 5. Oktober 1986 eine unmittelbare Verfolgung der Ahmadis eingesetzt. Gleichzeitig werde die Islamisierung des öffentlichen Lebens vorangetrieben, was wiederum im Juli 1989 zu pogromartigen Ausschreitungen geführt habe. Bei der Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 22. Dezember 1989 teilte der Kläger mit, das im Juli 1987 eingeleitete Strafverfahren habe im April 1989 mit seiner Verurteilung zu neun Jahren Haft geendet. Der Kläger legte die Fotokopie eines Beschlusses des Court of Assistant Commissioner, Daska, vom 11. April 1989 vor.
Mit Bescheid vom 3. Januar 1990 lehnte das Bundesamt den Folgeantrag ab, weil keine neuen Asylgründe vorgetragen seien. Im anschließenden Klageverfahren trug der Kläger ergänzend vor, er habe von der Entscheidung des Court of Assistant Commissioner vom 11. April 1989 im November 1989 erfahren. Damals habe sein pakistanischer Verteidiger ihm eine beglaubigte Abschrift der Entscheidung vom 11. April 1989 übersandt.
Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben, der Verwaltungsgerichtshof hat auf die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat der Verwaltungsgerichtshof ausgeführt: Der Folgeantrag sei unbeachtlich, die Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 AsylVfG a.F. in Verbindung mit § 51 Abs. 1 VwVfG lägen nicht vor. Selbst wenn eine Änderung der Rechtsprechung einer Änderung der Rechtslage gleichzusetzen wäre, hätte der Kläger die Gerichtsentscheidungen aus den Jahren 1987 und 1988, auf die er sich berufe, nicht innerhalb der vorgeschriebenen Dreimonatsfrist geltend gemacht. Die Schaffung der neuen Straftatbestände durch den pakistanischen Gesetzgeber in den Jahren 1984 und 1986 sei bereits Gegenstand des ersten Asylverfahrens gewesen; die Ankündigung pakistanischer Regierungsstellen vom Juni 1988 zur beabsichtigten Einführung der Sharia in die staatliche Rechtsordnung hätte in dem ersten Asylverfahren geltend gemacht werden können. Die lokal begrenzte pogromartige Ausschreitung im Juli 1989, einer von zahlreichen Einzelfällen des Ausbruchs einer weit verbreiteten Ablehnungshaltung gegenüber den Ahmadis, sei keine Änderung der Sachlage zugunsten des Klägers. Die während des Folgeantragsverfahrens vorgelegte Fotokopie der strafgerichtlichen Verurteilung des Klägers zu neun Jahren Haft sei zwar ein neues Beweismittel, von dessen Echtheit sich der Senat überzeugt habe, jedoch keines, das geeignet sei, eine dem Kläger günstigere Entscheidung herbeizuführen. Denn die vorgelegte Urkunde ergebe, daß der Kläger wegen religiöser Betätigung in der Öffentlichkeit verurteilt worden sei. Es sei aber anerkannt, daß die Glaubensbetätigung in der Öffentlichkeit nicht unter asylrechtlichem Schutz stehe. Daraus folge, daß eine Bestrafung von Verhaltensweisen mit Öffentlichkeitsbezug, wie sie der Kläger nach den Feststellungen des pakistanischen Urteils an den Tag gelegt habe, keine politische Verfolgung sei.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger rechtzeitig die vom Berufungsgericht zugelassene Revision eingelegt.
Entscheidungsgründe
Das Asylbegehren des Klägers muß Erfolg haben, denn er ist asylberechtigt nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG. Er hat Pakistan unter dem Druck politischer Verfolgung verlassen, und die Umstände, die ihn seinerzeit zur Flucht veranlaßt haben, bestehen auch gegenwärtig noch. Der Kläger hat nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs Pakistan am 19. Juli 1987 und damit während und unter dem Druck des gegen ihn betriebenen strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens verlassen. Nach den Ausführungen im Beschluß des Court of Assistant Commissioner vom 11. April 1989 wurde dieses Ermittlungsverfahren am 5. Juli 1987 eingeleitet und führte bereits in seiner ersten Phase zu mehreren Versuchen der Polizei, den Kläger festzunehmen. Diese fluchtbegründenden Umstände bestehen auch in der Gegenwart fort. Der Kläger muß nunmehr befürchten, als rechtskräftig verurteilter Straftäter zwecks Vollstreckung der Verurteilung zu neun Jahren Gefängnis von den pakistanischen Behörden ergriffen zu werden.
Die Einleitung und Durchführung eines - hier sogar mit mehreren Versuchen zur Festnahme verbundenen - strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, das darüber hinaus mit der Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe geendet hat, stellt eine Verfolgung im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG dar. Denn das strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen Begehung des mit Freiheitsstrafe bedrohten Delikts der Sektion 298 C des Pakistanischen Strafgesetzbuches und die Verhängung einer mehrjährigen Freiheitsstrafe gegen den Kläger haben als - künftiges - Objekt des im Verfahren und in der Verurteilung liegenden Verfolgungseingriffs nicht nur, wie der Verwaltungsgerichtshof angenommen hat, die Religionsfreiheit, sondern auch und vor allem die physische Freiheit des Klägers zum Gegenstand. Es geht hier nicht um einen bloßen Eingriff in das Schutzgut Religionsfreiheit durch Reglementierungen und Verbote, mit denen dem einzelnen Gläubigen Einschränkungen und Unterlassungen bei der Ausübung seines Glaubens abverlangt werden. Ein solcher Eingriff kann, wie der Senat mehrfach entschieden hat, dadurch geschehen, daß der Staat Rechtsvorschriften, insbesondere Strafvorschriften, erläßt, die bestimmte Formen der Glaubensbetätigung mit Strafe bedrohen. Die Erklärung eines bestimmten Verhaltens als strafbar im Wege der Schaffung eines entsprechenden Straftatbestandes läßt eine jedermann treffende Pflicht zum Unterlassen des damit verbotenen Verhaltens entstehen; ist Gegenstand der auf diese Weise erzwungenen Unterlassung eine - bestimmte Form der - Glaubensbetätigung, so stellt sich die Frage, ob die verbotene religiöse Betätigung dem asylrechtlich geschützten internen Bereich der Religionsausübung angehört und das In-Geltung-Stehen der Norm deshalb als Eingriff in die asylrechtlich geschützte interne Religionsausübung Verfolgung im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG ist (vgl. dazu zuletzt Urteil vom 15. Dezember 1992 - BVerwG 9 C 61.91 - InfAuslR 1993, 152 = DVBl 1993, 327). Ist das durch den staatlichen Eingriff bedrohte oder verletzte Schutzgut aber, wie beim Betreiben eines Strafverfahrens wegen Begehung eines mit Freiheitsstrafe bedrohten Delikts und wie bei der Verhängung einer solchen Strafe, darüber hinaus die physische Freiheit, gewinnen diese Maßnahmen ihre Qualität als Verfolgung im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG aus der Verletzung dieses Schutzgutes. Ihr Rechtscharakter als politische Maßnahme ergibt sich aus der Anknüpfung an die religiöse Überzeugung des Opfers, um deretwillen die Verfolgung stattfindet. Die Unterscheidung zwischen Religionsausübung im internen und im externen Bereich ist weder für die Einstufung der Freiheitsentziehung als Verfolgung noch als politische Maßnahme von Bedeutung.
Die Straftat nach Sektion 298 C des Pakistanischen Strafgesetzbuches, die Grund des gegen den Kläger betriebenen Ermittlungsverfahrens sowie seiner Verurteilung war, ist mit langjähriger Freiheitsstrafe bedroht; die nach der Strafvorschrift vorgesehene und dann auch verhängte Strafe soll den Kläger wegen Rufens des mohammedanischen Gebetsrufes und Tragens des Kalima, also wegen einer Betätigung seines Glaubens, treffen. Somit stellen das Betreiben des am 5. Juli 1987 eingeleiteten Strafverfahrens und die am Ende dieses Verfahrens stehende Verurteilung des Klägers zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe politische Verfolgung im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG dar.