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Bundesverwaltungsgericht
Urt. v. 13.09.1988, Az.: BVerwG 6 C 1.88

Verspäteter Eingang eines Widerspruchs; Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst mit der Waffe

Bibliographie

Gericht
BVerwG
Datum
13.09.1988
Aktenzeichen
BVerwG 6 C 1.88
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1988, 12505
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG Stuttgart - 08.07.1986 - AZ: 6 K 4959/83

Fundstellen

  • BayVBL 1989, 122-123
  • DVBl 1989, 63 (amtl. Leitsatz)

Amtlicher Leitsatz

Hat ein Antragsteller die Frist zur Einlegung des Widerspruchs gegen einen Verwaltungsbescheid um einen Tag versäumt, so ist ihm von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn die Verspätung ersichtlich auf einer ungewöhnlich langen Postlaufzeit beruht.

Der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
hat am 13. September 1988
durch
die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Eckstein und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Schinkel, Nettesheim, Ernst und Dr. Seibert
ohne mündliche Verhandlung
für Recht erkannt:

Tenor:

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 8. Juli 1986 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.

Gründe

1

I.

Der Kläger beantragte im Oktober 1980 seine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen. Diesen Antrag lehnte der Prüfungsausschuß ... für Kriegsdienstverweigerer beim Kreiswehrersatzamt S. mit Bescheid vom 1. September 1981, der mit Einschreiben am 14. Oktober 1981 abgesandt wurde, ab. Hiergegen erhob der Kläger mit einem nicht datierten Schreiben, das als Einschreibebrief am Sonnabend, dem 31. Oktober 1981, bis 12.00 Uhr in U. mit Poststempel versehen wurde, Widerspruch. Auf dem Briefumschlag war als Anschrift des Kreiswehrersatzamts "R.str. 3" in ... S. angegeben, während nach der vom Prüfungsausschuß erteilten Belehrung die richtige Anschrift "R.str. 3" war. Das Schreiben trägt den Eingangsstempel des Kreiswehrersatzamtes vom 3. November 1981. Mit einem am 24. November 1981 abgesandten Schreiben teilte die Prüfungskammer dem Kläger unter Hinweis auf § 60 VwGO mit, sein Widerspruch sei verspätet eingegangen. Hierauf reagierte der Kläger nicht. Er erschien auch nicht zu der Sitzung der Prüfungskammer ... für Kriegsdienstverweigerer bei der Wehrbereichsverwaltung ... vom 31. August 1983, in der sein Widerspruch wegen Fristversäumnis als unzulässig zurückgewiesen wurde.

2

Der Kläger hat hiergegen Klage erhoben und geltend gemacht, er habe davon ausgehen können, daß sein Widerspruchsschreiben am 2. November 1981 bei der Behörde eingehe; ein Antrag auf Wiedereinsetzung sei entbehrlich gewesen, weil der Prüfungskammer der Sachverhalt bekannt bzw. erkennbar gewesen sei. Er hat eine Bescheinigung des Postamts U. vorgelegt, in der bestätigt wurde, daß ein am Samstag, dem 31. Oktober 1981, beim Postamt Ulm "aufgelieferter postordnungsgemäß beanschrifteter Einschreibbrief bei regulärer Laufzeit am Montag, 2.11.81, in S. hätte zugestellt werden müssen" (Bl. 51 der Akten).

3

Das Verwaltungsgericht hat durch Urteil vom 8. Juli 1986 die Klage abgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Die Prüfungskammer habe den Widerspruch zu Recht als unzulässig verworfen, da er verspätet eingelegt worden sei. Der mit Einschreiben abgesandte Bescheid gelte gemäß § 4 Abs. 1 VwZG als am 17. Oktober 1981 zugestellt. Die Widerspruchsfrist habe daher am Montag, dem 2. November 1981, geendet. Im Ergebnis habe die Widerspruchsbehörde zu Recht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 VwGO abgelehnt. Es stehe fest, daß der Kläger nicht wenigstens Tatsachen zur Begründung seiner unverschuldeten Fristversäumnis innerhalb der Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO vorgebracht habe. Spätestens ab Zustellung des Widerspruchsbescheids am 15. November 1983 habe er Kenntnis von der Fristversäumnis gehabt. Ein entsprechender Vortrag sei aber erst über zwei Jahre später und auch dann nur auf gerichtlichen Hinweis gebracht worden. Für die Widerspruchsbehörde sei das Unverschulden des Klägers an der Fristversäumnis auch nicht glaubhaft erkennbar gewesen. Für sie habe nicht erkennbar sein müssen, daß der bei Schalterschluß am Wochenende abgestempelte Einschreibebrief bei normaler Laufzeit noch am Montag hätte zugestellt sein müssen. Die falsche Adressierung des Briefes stehe einer glaubhaft erkennbaren unverschuldeten Fristversäumnis entgegen. Auch wenn es sich insoweit um keinen Fehler gehandelt habe, der eine Zustellung zunächst hätte fehlschlagen lassen, so sei es aber nicht auszuschließen, daß sich bei der Sortierung dieser Sendung Verzögerungen ergeben hätten, ohne daß diese durch die Post gesondert vermerkt worden wären.

4

Hiergegen hat der Kläger die vom Senat wegen Abweichung des Urteils des Verwaltungsgerichts von einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zugelassene Revision eingelegt. Er macht geltend, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht die Auffassung vertreten, der Widerspruch sei verspätet eingelegt worden und die Voraussetzungen für die Gewährung der Wiedereinsetzung lägen nicht vor.

5

Er beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 8. Juli 1986 aufzuheben und das Verfahren zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.

6

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

7

Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

8

Die Parteien haben sich mit einer Entscheidung; über die Revision ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

9

II.

Die Revision, über die mit dem Einverständnis der Parteien ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann, ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Verwaltungsgericht, das dem Kläger wegen der Versäumung der Widerspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und in der Sache selbst über das Anerkennungsbegehren des Klägers zu entscheiden haben wird.

10

Mit Recht sind die Prüfungskammer für Kriegsdienstverweigerer und das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, daß der Kläger die Frist von zwei Wochen nach Zustellung des Bescheides des Prüfungsausschusses vom 1. September 1981 versäumt hat, weil sein Widerspruchsschreiben erst am 3. November 1981 und damit um einen Tag verspätet bei dem Kreiswehrersatzamt S. eingegangen ist. Zutreffend macht die Revision jedoch geltend, daß die Prüfungskammer nach § 70 Abs. 2 in Verbindung mit § 60 Abs. 1 und 2 Satz 4 VwGO dem Kläger von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hätte gewähren müssen, weil für sie erkennbar war, daß den Kläger kein für die Verspätung ursächliches Verschulden an der Einhaltung der Widerspruchsfrist getroffen hat. Aus dem bei den Verwaltungsakten befindlichen Briefumschlag, mit dem der Kläger seinen Widerspruch gegen den Bescheid vom 1. September 1981 als Einschreibebrief versandt hatte, ergab sich nämlich, daß dieser Brief am 31. Oktober 1981 bis 12.00 Uhr bei dem Postamt U. 2 abgefertigt worden war. Angesichts der geringen Entfernung von U. nach S. hätte die Prüfungskammer von der Lebenserfahrung ausgehen können, daß bei normaler Postlaufzeit ein derartiges Schreiben am nächsten Werktage, also am Montag, dem 2. November 1981, bei dem Kreiswehrersatzamt hätte eingehen müssen und daß der Kläger bei Absendung des Schreibens mit einer solchen Beförderung deshalb auch hätte rechnen dürfen (vgl. dazu Urteil vom 11. Mai 1973 - BVerwG 4 C 3.73 - <Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 73 = DÖV 1973, 647> m.w.N.). Die Verzögerung des Eingangs des Widerspruchs um einen Tag hätte daher der Prüfungskammer Anlaß zu der Prüfung geben müssen, ob dem Kläger ohne Antrag und ohne weitere Glaubhaftmachung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren war.

11

Gegen die Annahme fehlenden Verschuldens des Klägers an der um einen Tag verspäteten Einlegung des Widerspruchs sprach nach den Umständen des Falles nicht, daß der Brief nicht mit der richtigen Straßenangabe "R.str. ...", sondern mit der Angabe einer - in S. nicht vorhandenen - "R'tr. ..." versehen war. Wie der Kläger im Schriftsatz vom 4. September 1986 unwidersprochen vorgetragen hat, erhält der im S. Postzustellbereich ... zu erreichende Prüfungsausschuß sehr viel Post, so daß es unwahrscheinlich ist, daß es wegen der unrichtigen Angabe "Rheinlandstraße" trotz richtiger Angabe des Postzustellbezirks zu einer Verzögerung der Zustellung des Einschreibebriefes gekommen ist. Dem Briefumschlag sind auch keine Anzeichen dafür zu entnehmen, daß der zuständige Postbedienstete zunächst versucht hat, den Brief an anderer Stelle als in der. Rheinstahlstraße zu übermitteln.

12

Auch der Umstand, daß der Kläger sein Widerspruchsschreiben am letzten Werktage vor dem Tag des Fristablaufs mit Einschreiben versandt hat, spricht nicht dagegen, daß er ohne Verschulden von einem rechtzeitigen Zugang ausgehen durfte. Anders als in dem Fall, der dem vom Verwaltungsgericht erwähnten Urteil vom 22. Februar 1966 - BVerwG 3 C 249.64 - (Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 43 = DVBl. 1966, 692) zugrunde lag, hat der Kläger seinen Einschreibebrief nicht etwa erst am Tage des Fristablaufs und damit zu einem Zeitpunkt aufgegeben, zu dem er nicht mehr mit einem rechtzeitigen, nämlich innerhalb der Dienststunden des Empfängers zu bewirkenden Zugang hätte rechnen können. Wie sich aus der Bestätigung des Postamts U. vom 14. März 1986 ergibt, hätte ein - wie geschehen - am Samstag aufgelieferter Einschreibebrief bei regulärer Laufzeit am Montag und damit rechtzeitig in S. zugestellt werden müssen. Eine entsprechende Erwägung hätte sich auch der in S. ansässigen Prüfungskammer von selbst oder notfalls nach einer Rückfrage bei der zuständigen Dienststelle der Bundespost aufdrängen müssen. Auf die weiteren Erwägungen des Verwaltungsgerichts zu dem Verhalten des Klägers im Widerspruchsverfahren kommt es daher in diesem Zusammenhang nicht an.

13

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl.Beschlüsse vom 21. Oktober 1976 - BVerwG 7 B 94.76 - <Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 94>, vom 19. März 1981 - BVerwG 6 CB 91.80 - <ZBR 1981, 320> sowievom 18. August 1987 - BVerwG 6 B 69.86 -) hätte das Verwaltungsgericht die von der Prüfungskammer zu Unrecht versagte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Widerspruchsfrist selbst gewähren müssen. Die auf einer Verneinung der Wiedereinsetzungsvoraussetzungen beruhende Abweisung der Klage als unzulässig verstößt mithin gegen die §§ 70 Abs. 2 in Verbindung mit 60 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 4 VwGO.

14

Nach § 144 Abs. 3 Nr. 2 VwGO war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen, das nunmehr unter Wiedereinsetzung des Klägers in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Widerspruchsfrist in der Sache selbst zu prüfen haben wird, ob der Kläger zum Zeitpunkt der erneuten mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts eine Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst mit der Waffe im Sinne des Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG geltend macht und aufgrund der gesamten Umstände des Falles einschließlich des Verhaltens des Klägers im Verfahren zur Überzeugung des Gerichts hinreichend sicher angenommen werden kann, daß seine Verweigerung im Sinne des § 14 Abs. 1 Satz 1 KDVG auf einer solchen Gewissensentscheidung beruht. Hierbei wird es die zur Anwendung des neuen Rechts der Kriegsdienstverweigerung auf "Altantragsteller" wie den Kläger entwickelten Grundsätze (vgl. BVerwGE 70, 216 und 222) zu beachten haben.

Streitwertbeschluss:

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 6.000 DM festgesetzt.

Dr. Eckstein
Dr. Schinkel
Nettesheim
Ernst
Dr. Seibert