Bundesverwaltungsgericht
Beschl. v. 14.01.1987, Az.: BVerwG 1 B 219.86
Versammlungsrecht; Sitzblockade; Abtransport; Auflösungsverfügung
Bibliographie
- Gericht
- BVerwG
- Datum
- 14.01.1987
- Aktenzeichen
- BVerwG 1 B 219.86
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1987, 12541
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- OVG Bremen - 04.11.1986 - AZ: 1 BA 15/86
Rechtsgrundlage
Fundstelle
- NVwZ 1988, 250-251 (Volltext mit red. LS)
Redaktioneller Leitsatz
Abtransport von Versammlungsteilnehmern ohne Auflösungsverfügung. - Zur Abwehr von Gefahren, die von einer Versammlung (Sitzblockade) ausgehen.
Der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat
am 14. Januar 1987
durch
den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heinrich und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Barbey und Dr. Dickersbach
beschlossen:
Tenor:
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 4. November 1986 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 4.000 DM festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Nach § 132 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung kann die Revision nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder bei einem geltend gemachten Verfahrensmangel die angefochtene Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel beruhen kann. Hierbei muß innerhalb der Beschwerdefrist die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, von der die angefochtene Entscheidung abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden (§ 132 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Demgemäß ist die Prüfung auf fristgerecht vorgebrachte Zulassungsgründe im Sinne von § 132 Abs. 2 VwGO beschränkt. Solche Gründe lassen sich dem Beschwerdevorbringen nicht entnehmen.
1.
Entgegen der Auffassung der Beschwerde weicht das Berufungsurteil nicht von dem Urteil des beschließenden Senats vom 8. September 1981 - BVerwG 1 C 88.77 - (BVerwGE 64, 56 [BVerwG 08.09.1981 - 1 C 88/77] = NJW 1982, 1008) ab.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts, die den beschließenden Senat binden und gegen die die Beschwerde keine Rügen erhoben hat, handelte es sich bei der Menschenansammlung, die sich in der Bürgermeister-S.-Straße/Ecke H. eingefunden hatte, um eine Versammlung im Sinne des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. November 1978 (BGBl I S. 1790 - VersG - (Berufungsurteil S. 12 f.)), und ist diese Versammlung nicht durch eine Auflösungsverfügung nach § 15 Abs. 2 VersG, sondern dadurch unterbunden worden, daß die Polizei gegen die auf der Straße sitzenden und stehenden Personen eine Platzverweisung nach § 14 des Bremischen Polizeigesetzes vom 21. März 1981 (Brem. GBl. S. 141) - BremPolG - ausgesprochen und diese Platzverweisung alsdann durch den Abtransport der auf der Straße verbliebenen Personen - darunter der Klägerin - durchgesetzt hat (Berufungsurteil S. 3 f., 11, 13 ff.).
Das Berufungsgericht hat die von ihm festgestellte Platzverweisung als rechtswidrig angesehen, weil die Polizei die von dieser Platzverweisung betroffene Versammlung nur durch Erlaß einer Auflösungsverfügung nach § 15 Abs. 2 VersG habe unterbinden dürfen (Berufungsurteil S. 11). Diese Rechtsauffassung steht mit dem angeführten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. September 1981 in Einklang.
Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesem Urteil nicht - wie die Beklagte anscheinend meint - entschieden, daß eine Versammlung auch durch andere Maßnahmen als durch Auflösung nach § 15 Abs. 2 VersG unterbunden werden darf. Der Senat hat vielmehr in dem genannten Urteil befunden, daß die Unterbindung einer Veranstaltung durch Auflösung nach § 15 Abs. 2 VersG in den Fällen nicht in Betracht kommt, in denen die Unterbindung der Versammlung zur Abwehr der zu bekämpfenden Gefahr nicht erforderlich oder unverhältnismäßig und deswegen übermäßig belastend ist. In diesen Fällen muß die Behörde im Rahmen der ihr zur Gefahrenabwehr zustehenden Befugnisse ein - gegenüber der Unterbindung der Veranstaltung - milderes und angesichts der konkreten Sachlage angemessenes Mittel zur Abwehr der von der Veranstaltung ausgehenden unmittelbaren Gefahren im Sinne von § 15 VersG einsetzen und kann hierbei gegebenenfalls auch von den ihr landesrechtlich zustehenden Befugnissen Gebrauch machen (vgl. BVerwGE 64, 55 <55 [BVerwG 27.08.1981 - 3 C 37/80] Leitsatz 1, 58>). Daran, daß - wie das Berufungsgericht angenommen hat - die Fortführung einer Versammlung nur durch eine Auflösung nach § 15 Abs. 2 VersG unterbunden werden kann, ändert dies nichts.
2.
Die Rechtssache hat auch nicht die ihr von der Beklagten beigemessene grundsätzliche Bedeutung.
Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie Rechtsfragen aus dem Bereich revisiblen Rechts aufwirft, die für die Revision entscheidungserheblich sind und im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedürfen. Eine solche Rechtsfrage läßt sich dem Beschwerdevorbringen nicht entnehmen.
a)
Die von der Beschwerde als grundsätzlich bedeutsam bezeichnete Frage, ob "eine Versammlung, die nur aus den Teilnehmern einer Sitzblockade besteht, von vornherein verboten und ohne Auflösungsbeschluß im Sinne des Versammlungsgesetzes von der Polizei nach allgemeinem Polizeirecht aufzulösen" ist, bedarf keiner Klärung in einem Revisionsverfahren. Sie ist entgegen der Auffassung der Beklagten ohne weiteres zu verneinen.
Das Versammlungsgesetz ist aufgrund der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes aus Art. 74 Nr. 3 des Grundgesetzes erlassen worden. Das Gesetz regelt nicht lediglich Beschränkungen des nur den Deutschen zukommenden Grundrechts der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) im Sinne von Art. 8 Abs. 2 GG, sondern stellt - wie insbesondere die Einbeziehung auch der Fremden in die Regelungen des Gesetzes zeigt (vgl. § 1 Abs. 1 VersG) - die umfassende bundesgesetzliche Ordnung des Versammlungswesens dar, die ihrerseits nach Maßgabe der Art. 70, 72 GG landesrechtliche Regelungen ausschließt. Das gilt insbesondere für § 15 Abs. 2 VersG. Die Unterbindung einer Versammlung kann auch in den Fällen ausschließlich auf diese Vorschrift gestützt werden, in denen die Auflösung der Versammlung den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG nicht berührt und deshalb keine Beschränkung der Versammlungsfreiheit im Sinne von Art. 8 Abs. 2 GG darstellt.
b)
Auch die von der Beschwerde weiterhin als grundsätzlich klärungsbedürftig angesehene Frage, ob die Polizei "Demonstrationen in gewollter Verbindung mit strafbaren Handlungen ... unverzüglich zu unterbinden" habe, vermag die Zulassung der Revision nicht zu begründen: Das Berufungsgericht hat die Platzverweisung und die sich hieran anschließenden Maßnahmen der Beklagten nicht deshalb als rechtswidrig angesehen, weil die handelnde Behörde noch nicht hätte eingreifen müssen, sondern weil die strittigen Maßnahmen nicht ohne eine Auflösungsverfügung nach § 15 Abs. 2 VersG hätten getroffen werden dürfen. Diese Rechtsauffassung entspricht dem geltenden Recht und gibt keinen Anlaß zu grundsätzlichen Erörterungen. Ob - wie das Berufungsgericht angenommen hat - die Versammlungsauflösung auch nicht in der Platzverweisung (mit) enthalten war (Berufungsurteil S. 14), mag zweifelhaft sein, ist jedoch eine grundsätzlicher Klärung nicht zugängliche Frage des vorliegenden Einzelfalls.
c)
Schließlich führt auch die Frage, ob der von der Polizei nach erfolgloser Platzverweisung von der Straße weggetragene Teilnehmer einer Sitzblockade ein Rechtsschutzinteresse für eine verwaltungsgerichtliche Klage der vorliegenden Art geltend machen kann, nicht zur Zulassung der Revision.
Unter welchen Voraussetzungen ein Rechtsschutzbedürfnis für die gerichtliche Nachprüfung erledigter Verwaltungsmaßnahmen anerkannt werden kann, ist rechtsgrundsätzlich durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt. Nach dieser Rechtsprechung kann insbesondere auch dann, wenn sich die angegriffene Verwaltungsmaßnahme im gerichtlichen Verfahren schließlich als rechtmäßig erweist, ein Rechtsschutzinteresse in der Form des sogenannten Rehabilitationsinteresses gegeben sein. Der vorliegende Fall läßt keine Erkenntnisse erwarten, die über den bereits erreichten Stand der Rechtsprechung hinausführen könnten. Ob für die vorliegende Klage das erforderliche Rechtsschutzinteresse gegeben ist, bemißt sich nach den konkreten Umständen des vorliegenden Falles und ist deswegen rechtsgrundsätzlicher Erörterung nicht zugänglich.
3.
Im übrigen erschöpft sich die Beschwerde in Angriffen auf das Berufungsurteil und in allgemeinen Rechtsausführungen, ohne daß sich diesem Vorbringen ein Beschwerdegrund entnehmen ließe.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
[...].
Streitwertbeschluss:
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 4.000 DM festgesetzt.
Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 13 Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Barbey
Dr. Dickersbach