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Bundesverfassungsgericht
Beschl. v. 10.01.2024, Az.: 2 BvR 26/24
Einstweilige Anordnung auf vorläufige Aussetzung der Vollstreckung aus einem Räumungsvergleich; Substantiierte Geltendmachung drohender schwerwiegender Gesundheitsgefahren durch den Vollstreckungsschuldner für den Fall einer Zwangsräumung
Gericht: BVerfG
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 10.01.2024
Referenz: JurionRS 2024, 10176
Aktenzeichen: 2 BvR 26/24
ECLI: ECLI:DE:BVerfG:2024:rk20240110.2bvr002624

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Köln - 30.11.2023 - AZ: 287 M 752/23

LG Köln - 09.05.2022 - AZ: 1 S 201/21

LG Köln - 08.01.2024 - AZ: 1 T 355/23

Fundstellen:

NJW-RR 2024, 216-217

NZM 2024, 187-188

BVerfG, 10.01.2024 - 2 BvR 26/24

Tenor:

Die Zwangsvollstreckung aus dem Räumungsvergleich des Landgerichts Köln vom 9. Mai 2022 - 1 S 201/21 - wird einstweilen bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, ausgesetzt, soweit die Beschwerdeführerin zur Räumung und Herausgabe der von ihr innegehaltenen, in der ersten Etage des Hauses (...) gelegenen Wohnung verpflichtet ist.

Gründe

1

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

2

Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein strenger Maßstab anzulegen. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Hoheitsakte angeführt werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, das in der Hauptsache zu verfolgende Begehren, hier also die Verfassungsbeschwerde, erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 76, 253 [BVerfG 23.07.1987 - 1 BvR 825/87] <255>; 99, 57 <66>; stRspr).

3

2. Nach diesen Maßstäben hat der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Erfolg.

4

a) Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

5

Die Verfassungsbeschwerde ist insbesondere nicht offensichtlich unbegründet.

6

aa) Macht der Vollstreckungsschuldner für den Fall einer Zwangsräumung substantiiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend, haben sich die Tatsacheninstanzen - beim Fehlen eigener Sachkunde - zur Achtung verfassungsrechtlich verbürgter Rechtspositionen wie in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Dezember 2023 - 2 BvR 1233/23 -, Rn. 20 m.w.N.).

7

Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Eine unter Beachtung dieser Grundsätze vorgenommene Würdigung aller Umstände kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und - in absoluten Ausnahmefällen - auf unbestimmte Zeit einzustellen ist (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Juli 2016 - 2 BvR 548/16 -, Rn. 11 m.w.N.).

8

Die Vollstreckungsgerichte haben den Einfluss und die Wertentscheidungen der Grundrechte auch bei der Handhabung des Verfahrensrechts zu beachten. Dies schließt es aus, bei der Beurteilung der Frage "kleinlich" zu verfahren, ob sich eine Sachlage so geändert hat, dass eine Aufhebung oder Änderung der im vorangegangenen Vollstreckungsschutzverfahren getroffenen Entscheidung geboten ist. Mit Rücksicht auf die Pflicht des Staates, Verfassungsverletzungen, insbesondere schwerwiegende Eingriffe in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen tunlichst auszuschließen, ist eine solche Änderung der Sachlage etwa auch dann anzunehmen, wenn der Schuldner zwar ein und dieselbe Krankheit als Vollstreckungshindernis bezeichnet, diese jedoch einen Verlauf genommen hat, welcher bei der vorangegangenen Antragstellung und seiner Bescheidung nicht hat vorhergesehen werden können (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Dezember 2023 - 2 BvR 1233/23 -, Rn. 23 m.w.N.).

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bb) In Anbetracht dieser Grundsätze erscheint es jedenfalls nicht fernliegend, dass die angegriffenen Entscheidungen dem Schutz des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht gerecht geworden sind, indem sie sich maßgeblich darauf gestützt haben, dass eine Einstellung der Zwangsvollstreckung auf unbestimmte Zeit ausgeschlossen sei, dass beim Krankheitsverlauf der Beschwerdeführerin keine Änderung der Sachlage eingetreten sei und dass die bloße Formulierung in den vorgelegten Attesten, dass eine Suizidgefahr im Fall der Räumung "nicht ausgeschlossen werden könne", das Gericht von einer weiteren Sachaufklärung entbinde.

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b) Über den Antrag auf einstweilige Anordnung ist deshalb nach Maßgabe einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese fällt zugunsten der Beschwerdeführerin aus.

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Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, wäre nicht auszuschließen, dass aufgrund der Durchführung des Räumungstermins möglicherweise nicht rückgängig zu machende Folgen für Leib und Leben der Beschwerdeführerin einträten. Erginge demgegenüber die einstweilige Anordnung, bliebe die noch einzulegende Verfassungsbeschwerde aber später ohne Erfolg, so verzögerte sich der Räumungstermin voraussichtlich nur um wenige Monate. Dies wiegt insgesamt weniger schwer als die der Beschwerdeführerin drohenden Nachteile.

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