Bundesverfassungsgericht
Beschl. v. 08.10.1991, Az.: 1 BvR 1324/90
Mietverhältnis; Kündigung; Gebot effektiven Rechtsschutzes
Bibliographie
- Gericht
- BVerfG
- Datum
- 08.10.1991
- Aktenzeichen
- 1 BvR 1324/90
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1991, 12269
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlage
Fundstellen
- BVerfGE 84, 366 - 372
- JurBüro 1992, 84-85 (Kurzinformation)
- NJW 1992, 105-106 (Volltext mit amtl. LS)
- WM 1991, 2105-2106 (Volltext mit amtl. LS)
- WuM 1991, 661-663 (Volltext mit amtl. LS)
Amtlicher Leitsatz
Zum Gebot effektiven Rechtsschutzes bei Kündigung eines Mietvertrages über Wohnraum.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein Urteil, durch das eine auf Räumung von Wohnraum gerichtete Klage abgewiesen worden ist.
I.
1. a) Die Beschwerdeführer sind Miteigentümer eines Mehrfamilienhauses, dessen 126 qm große Erdgeschoßwohnung die Beschwerdeführerin zu 1) allein bewohnt. Die Beklagten des Ausgangsverfahrens haben seit 1965 im 2. Obergeschoß des Hauses eine 85 qm große Wohnung gemietet. Die Beschwerdeführer kündigten den Mietvertrag im Jahre 1985 mit der Begründung, die Beschwerdeführerin zu 1) benötige die Wohnung, weil ihr die Erdgeschoßwohnung nach dem Tode ihres Ehemannes zu groß geworden sei. Außerdem seien sie gezwungen, diese Wohnung zu einem marktüblichen Mietzins zu vermieten, da andernfalls die Erhaltung des Hauses nicht möglich sei. Von den Mieteinnahmen müsse ihr Lebensunterhalt bestritten werden.
Das Amtsgericht wies die im Anschluß an diese Kündigung erhobene Räumungsklage ab. Ein Eigenbedarf gemäß § 564b Abs. 2 Nr. 2 BGB sei nicht anzuerkennen, weil die Beschwerdeführerin zu 1) nicht ihren notwendigen Wohnungsbedarf decken, sondern sich lediglich räumlich verkleinern wolle. Die wirtschaftlichen Interessen der Beschwerdeführer an gewinnbringender Vermietung der Erdgeschoßwohnung seien nur im Rahmen des § 564b Abs. 2 Nr. 3 BGB zu berücksichtigen.
Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung der Beschwerdeführer blieb erfolglos. Das Landgericht schloß sich zum Kündigungsgrund aus § 564b Abs. 2 Nr. 2 BGB der Auffassung des Amtsgerichts an. Das Vorbringen zur angemessenen wirtschaftlichen Verwertung ließ es gemäß § 564b Abs. 3 BGB unberücksichtigt, weil das Kündigungsschreiben keine konkrete Identifizierung des genannten Kündigungsgrundes enthalten habe.
b) Daraufhin kündigten die Beschwerdeführer im Jahre 1988 erneut und stützten die Kündigung wiederum auf Eigenbedarf der Beschwerdeführerin zu 1) und die Absicht angemessener wirtschaftlicher Verwertung. Sie benötigten die höheren Einnahmen aus der Vermietung des Erdgeschosses zur Unterhaltung des Hauses und zur Deckung ihres Lebensbedarfs. Das Amtsgericht gab der erneut erhobenen Räumungsklage statt, weil die im Kündigungsschreiben dargelegten Umstände zur Begründung eines berechtigten Interesses im Sinne von § 564b Abs. 2 Nr. 3 BGB ausreichten.
Das Landgericht wies die Räumungsklage hingegen ab. Auf Eigenbedarf könnten die Beschwerdeführer die erneute Klage nicht stützen; über diesen Kündigungsgrund sei im Vorprozeß entschieden worden. Zwar stehe die frühere Entscheidung einer Berufung auf § 564b Abs. 2 Nr. 3 BGB nicht entgegen, jedoch lägen dessen Voraussetzungen nicht vor. Verstehe man unter dem Begriff des Grundstückes, das angemessen wirtschaftlich verwertet werden solle, das gesamte Grundstück, sei der Tatbestand nicht erfüllt, weil es nur um eine Teilverwertung gehe. Verstehe man unter Grundstück hingegen nur die gekündigten Räume, sei der Tatbestand ebenfalls nicht erfüllt, weil nicht die gekündigten, sondern andere Räume verwertet werden sollten.
2. Gegen dieses Urteil des Landgerichts richtet sich die Verfassungsbeschwerde, mit der die Beschwerdeführer eine Verletzung der Art. 12 Abs. 1 Satz 1 und 14 Abs. 1 Satz 1 GG rügen.
Die Vermietung der Wohnungen stelle ihren Beruf dar, weil sie von den Mieteinnahmen ihren Lebensunterhalt bestreiten müßten. Hieran würden sie gehindert, wenn sie die Wohnung des Erdgeschosses nicht zu einem höheren Mietzins vermieten könnten.
Ihr Eigentum werde verletzt, weil ihnen verwehrt worden sei, sich auf Eigenbedarf zu berufen. Das entbehre einer gesetzlichen Grundlage. Der wirtschaftliche Hintergrund ihrer beiden Kündigungen sei nicht geprüft worden, und zwar weder bei der Frage, ob sie die von den Beklagten gemietete Wohnung wegen Eigenbedarfs benötigten, noch bei der Frage, ob sie zum Zwecke angemessener wirtschaftlicher Verwertung kündigen durften. Selbst wenn das Landgericht ihre Kündigung nicht nach § 564b Abs. 2 Nr. 3 BGB als gerechtfertigt ansähe, hätte es doch der Frage nachgehen müssen, ob die Kündigung aus sonstigen Gründen berechtigt sei.
3. a) Der Justizsenator der Freien und Hansestadt Hamburg hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Sie richte sich gegen die Auslegung und Anwendung einfachen Rechts. Dem angegriffenen Urteil könne nicht entnommen werden, daß Grundrechte der Beschwerdeführer verletzt worden seien. Das Landgericht habe den Vortrag der Beschwerdeführer zur Kenntnis genommen, sie seien mit dem Kündigungsgrund Eigenbedarf trotz der Klageabweisung im Vorprozeß nicht ausgeschlossen; es habe dazu lediglich eine andere Auffassung vertreten, die mit einfachem Recht in Einklang stehe. Wenn das Landgericht den Kündigungsgrund der angemessenen wirtschaftlichen Verwertung gemäß § 564b Abs. 2 Nr. 3 BGB nicht habe durchgreifen lassen, so lasse das keine Verletzung der verfassungsrechtlichen Grenzen der Eigentumsgarantie erkennen.
b) Die Beklagten verteidigen das angegriffene Urteil. Das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG sei nicht berührt; Auslegungsfehler bei der Anwendung des § 564b BGB, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Art. 14 Abs. 1 GG beruhten, seien nicht hervorgetreten.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Urteil des Landgerichts verletzt die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG).
1. Die Beschwerdeführer haben zwar nur Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG als verletzt bezeichnet. Das hindert jedoch nicht eine Prüfung des angegriffenen Urteils auch am Maßstab des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Die Beschwerdeführer haben den maßgeblichen Sachverhalt vorgetragen und insbesondere gerügt, über den wirtschaftlichen Hintergrund ihres Räumungsbegehrens sei zu keiner Zeit entschieden worden. Damit haben sie einen möglichen Verstoß auch gegen diese Grundrechtsnorm dargelegt und dem Begründungserfordernis der §§ 23, 92 BVerfGG genügt. Eine ausdrückliche Benennung des als verletzt gerügten Grundrechtsartikels verlangen diese Vorschriften nicht (vgl. BVerfGE 47, 182 (187) [BVerfG 01.02.1978 - 1 BvR 426/77]).
2. Aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes ist für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten im materiellen Sinn die Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes abzuleiten. Dieser muß die grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes durch den Richter ermöglichen (vgl. BVerfGE 54, 277 (291) [BVerfG 11.06.1980 - 1 PBvU 1/79]). Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, die Durchsetzbarkeit des materiellen Anspruchs des rechtsuchenden Bürgers von formellen Voraussetzungen abhängig zu machen. So hat es das Bundesverfassungsgericht auch unter dem Blickwinkel eines effektiven Rechtsschutzes verfassungsrechtlich nicht beanstandet, daß der Gesetzgeber das auf § 2 MHG gestützte Verlangen des Vermieters auf Zahlung höheren Mietzinses mit dem Vorliegen bestimmter verfahrensrechtlicher Voraussetzungen verknüpft hat (vgl. BVerfGE 37, 132 (141f.); 49, 244 (247 ff. [BVerfG 10.10.1978 - 1 BvR 180/77]); 53, 352 (357 f.); 79, 80 (84)). Dem Richter ist es jedoch verwehrt, durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Schranken den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar zu verkürzen (so für § 2 MHG BVerfGE 37, 132 (141 ff.); 49, 244 (248 ff. [BVerfG 10.10.1978 - 1 BvR 180/77]); 53, 352 (356); 79, 80 (84 f.)). Jedenfalls darf es dem Rechtsuchenden nicht von vorneherein unmöglich gemacht werden, eine umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung seines Begehrens zu erreichen.
Es ist danach zwar verfassungsrechtlich unbedenklich, daß ein Kündigungsgrund, über den in einem früheren Verfahren entschieden worden ist, bei einer erneuten Kündigung nicht mehr berücksichtigt wird. Rechtsstaatswidrig ist es jedoch, einen Sachvortrag, über den im Vorprozeß sachlich noch nicht entschieden worden ist, zu präkludieren.
3. Amts- und Landgericht haben die Kündigung von 1985 nach § 564b Abs. 2 Nr. 2 BGB geprüft, aber nur unter dem Gesichtspunkt, ob die Beschwerdeführerin zu 1) ihren notwendigen Wohnungsbedarf decken müsse. Das haben sie mit der Erwägung verneint, sie wolle sich lediglich räumlich verkleinern; wirtschaftliche Interessen seien in diesem Zusammenhang nicht zu berücksichtigen. Ob die Kündigung wegen angemessener wirtschaftlicher Verwertung durchgreift, hat das Landgericht nicht untersucht, weil das Kündigungsschreiben keine konkrete Identifizierung dieses Kündigungsgrundes gemäß § 564b Abs. 3 BGB enthalten habe.
Die erneut ausgesprochene Kündigung von 1988 hat das Landgericht nicht für wirksam gehalten. Die Berufung auf Eigenbedarf sei wegen der Entscheidung im Vorprozeß ausgeschlossen. Die Voraussetzungen des § 564b Abs. 2 Nr. 3 BGB seien nicht erfüllt, weil nicht das ganze Grundstück und auch nicht die gekündigten Räume verwertet werden sollten.
Mit dieser Begründung versagt das Landgericht den Beschwerdeführern den effektiven Rechtsschutz.
a) Verfassungsrechtlich ist allerdings seine Auffassung nicht zu beanstanden, daß der Tatbestand des § 564b Abs. 2 Nr. 3 BGB nicht erfüllt sei. Diese auf dem Gebiete des einfachen Rechts liegende Subsumtion ist so lange der Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts entzogen, als nicht Auslegungsfehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 (93) [BVerfG 10.06.1964 - 1 BvR 37/63]; st. Rspr.). Einfachrechtlich werden unterschiedliche Auffassungen zu der Frage vertreten, ob sich die Verwertungsmaßnahme auf das Grundstück im Ganzen beziehen muß (vgl. Sternel, Mietrecht, 3. Aufl., Kap. IV Rdnr. 148; Köhler, Handbuch der Wohnraummiete, 3. Aufl., § 117 Rdnr. 2) oder nur auf einen Teil, also etwa auf eine einzelne Wohnung (vgl. Barthelmess, 2. WKSchG, 4. Aufl., § 564b BGB Rdnr. 90). Die Entscheidung des Landgerichts hält sich in diesem Rahmen und läßt auch keine unrichtige Anschauung vom Schutzbereich eines Grundrechts erkennen.
b) Verfassungsrechtlich verfehlt ist es jedoch, das materielle Anliegen der Beschwerdeführer nicht unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen. Das Landgericht beantwortet nicht die zu seiner Entscheidung gestellte Frage, ob die Beschwerdeführer ein berechtigtes Interesse daran haben - das ist der Kern ihres Anliegens -, die kleinere Wohnung von der Beschwerdeführerin zu 1) deshalb beziehen zu lassen, weil sie auf den Zins aus der Vermietung der größeren Wohnung wirtschaftlich angewiesen sind und die Beschwerdeführerin zu 1) diese für sich allein nicht mehr benötigt. Wenn das Landgericht schon glaubte, den Vortrag der Beschwerdeführer nicht unter § 564b Abs. 2 Nr. 3 BGB subsumieren zu können, so durfte sich seine Prüfung unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht hierauf beschränken. Denn zum einen konnte dieser Sachvortrag auch für den Kündigungstatbestand des § 564b Abs. 2 Nr. 2 BGB von Bedeutung sein; darüber war im Vorprozeß noch nicht entschieden worden. Zum anderen stellt das Gesetz mit § 564b Abs. 1 BGB einen generalklauselartigen Kündigungstatbestand zur Verfügung, der den in § 564b Abs. 2 BGB beispielhaft genannten Kündigungsgründen nach allgemeiner Meinung gleichgewichtig ist (vgl. Barthelmess, a.a.O., Rdnrn. 52 und 102; Sternel, a.a.O., Rdnr. 115; Köhler, a.a.O., § 113 Rdnr. 9; Grapentin in: Bub/Treier, Handbuch der Geschäfts- und Wohnraummiete, Kap. IV Rdnr. 85; Emmerich/Sonnenschein, Miete, 5. Aufl., § 564 b BGB Rdnr. 66; Schmidt-Futterer/Blank, Wohnraumschutzgesetze, 6. Aufl., B 665; KG, RES, § 564b BGB Nr. 4; OLG Frankfurt, RES, § 564b BGB Nr. 5; OLG Hamm, RES, § 564b BGB Nr. 20). Auch unter diesem Gesichtspunkt konnte das Vorbringen der Beschwerdeführer von Bedeutung sein.
(gez.) Herzog
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