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Bundesverfassungsgericht
Urt. v. 15.12.1970, Az.: 2 BvF 1/69
„Abhör-Urteil“

Verfassungsbeschwerde gegen Vollzugsakt; Benachrichtigung des Überwachten; Eingriff in Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis; Menschenwürde; Prinzip der Gewaltenteilung; Funktionsbereich der Exekutive; Fraktion; Koalition

Bibliographie

Gericht
BVerfG
Datum
15.12.1970
Aktenzeichen
2 BvF 1/69
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1970, 10916
Entscheidungsname
Abhör-Urteil
ECLI
[keine Angabe]

Fundstellen

  • BVerfGE 30, 1 - 47
  • DRiZ 1971, 28
  • DVBl 1971, 49-58 (Volltext mit amtl. LS)
  • DÖV 1971, 49-57 (Volltext mit amtl. LS)
  • JZ 1971, 171-176 (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
  • NJW 1971, 275-284 (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
  • VerwRspr 23, 385 - 410

Redaktioneller Leitsatz

Weitere Verfahren: 2 BvR 629/68; 2 BvR 308/69

1. Weil der Betroffene von dem Eingriff in seine Recht nicht erfährt, muß ihm die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das Gesetz ebenso zustehen wie in den Fällen, in denen aus anderen Gründen eine Verfassungsbeschwerde gegen den Vollzugsakt nicht möglich ist, wenn dem Betroffenen die Möglichkeit, sich gegen den Vollzugsakt zu wenden, verwehrt ist.

2. In den Fällen, in denen eine Gefährdung des Zweckes der Überwachungsmaßnahme und eine Gefährdung des Schutzes der freiheitlich demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes ausgeschlossen werden kann, ist Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur so zu verstehen, daß er die nachträgliche Benachrichtigung des Überwachten fordert.

3. Das Gesetz zu Art. 10 GG kann die Zulässigkeit des Eingriffs in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis beschränken auf den Fall, daß konkrete Umstände den Verdacht eines verfassungsfeindlichen Verhaltens rechtfertigen und daß dem verfassungsfeindlichen Verhalten im konreten Fall nach Erschöpfung anderer Möglichkeiten der Aufklärung nur durch den Eingriff in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis beigekommen werden kann. Dies fordert Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG.

Ein Ausschluß durch das Verfassungsgebot der Beschränkung der Überwachungsmaßnahmen auf das unumgänglich Notwendige ist nicht vorgesehen, wobei die Überwachung auf Nachrichtenverbindungen einer dritten Person erstreckt wird, von denen anzunehmen ist, daß sie für Zwecke des Verdächtigen benutzt werden.

4. Auch wenn der Betroffene keine Gelegenheit hat, in diesem "Ersatzverfahren" mitzuwirken, verlangt Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG, daß das Gesetz zu Art. 10 GG eine Nachprüfung vorsehen muß, die materiell und verfahrensmäßig der gerichtlichen Kontrolle ebenwertig ist.

5. Art. 79 Abs. 3 GG hindert nicht, durch verfassungsänderndes Gesetz auch elementare Verfassungsgrundsätze systemimmanent zu modifizieren, verbietet aber eine prinzipielle Preisgabe der dort genannten Grundsätze.

6. Wenn sie die Menschenwürde berührt sein soll, muß die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die das Gesetz vollzieht, Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, darstellen.

7. Durch vom Parlament bestellte oder gebildete unabhängige Institutionen innerhalb des Funktionsbereichs der Exekutive wird Rechtschutz gegenüber Maßnahmen der Exekutive gewährt. Das Prinzip der Gewaltenteilung erlaubt dies.

8. Auch einer Mehrheit des Parlaments kann ihre Rechte mißbrauchen. Eine Fraktion oder Koalition würde im Zweifel mißbräuchlich verfahren,wenn die das in § 9 Abs. 1 G 10 vorgesehene Gremium einseitig besetzt und auf die einseitige Besetzung der in § 9 Abs. 3 G 10 vorgesehenen Kommission hinwirken würde .