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Bundesgerichtshof
Urt. v. 19.04.2016, Az.: 5 StR 594/15
Anforderungen an den Nachweis des Vorliegens von Wut und Verärgerung beim Angeklagten
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Urteil
Datum: 19.04.2016
Referenz: JurionRS 2016, 16670
Aktenzeichen: 5 StR 594/15
ECLI: ECLI:DE:BGH:2016:190416U5STR594.15.0

Verfahrensgang:

vorgehend:

LG Berlin - 02.07.2015

Rechtsgrundlage:

§ 261 StPO

Verfahrensgegenstand:

Totschlag u.a.

BGH, 19.04.2016 - 5 StR 594/15

Redaktioneller Leitsatz:

Dem Angeklagten darf nicht ohne Weiters zugutegehalten werden, er habe im Zeitpunkt der Tötungshandlung möglicherweise auch aus Wut über die Wehrhaftigkeit des Opfers gehandelt, wenn keine tatsächlichen Anhaltspunkte für die Annahme einer Verärgerung vorliegen und der Täter dieses nicht einmal selbst vorträgt.

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 19. April 2016, an der teilgenommen haben:
Richter Prof. Dr. Sander
als Vorsitzender,
Richter Prof. Dr. König, Richter Dr. Berger, Richter Bellay, Richter Dr. Feilcke
als beisitzende Richter,
Staatsanwältin als Gruppenleiterin
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 2. Juli 2015 mit Ausnahme der Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

1

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags in Tateinheit mit Raub mit Todesfolge zu einer Jugendstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt. Gegen diese Entscheidung richtet sich die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte und auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt vertreten wird, ist begründet.

2

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts plante der zur Tatzeit 16 Jahre und zehn Monate alte Angeklagte, durch einen Überfall auf ein von ihm zuvor ausgespähtes Ladengeschäft in Berlin-Steglitz 2.000 bis 3.000 € zu erbeuten. Am frühen Abend des 14. Februar 2014 betrat er den Laden, wobei er sein Gesicht mit einer Mütze und einem Schal weitgehend verdeckt hatte. Er führte ein einseitig scharf geschliffenes Küchenmesser mit einer Klingenlänge von 15 bis 20 cm bei sich. Als er sich im Verkaufsraum der Kasse näherte, erschien der Ladeninhaber. Der Angeklagte forderte ihn auf, stehen zu bleiben, und streckte ihm drohend das Messer entgegen. Es kam zu einer körperlichen Auseinandersetzung, deren Verlauf das Landgericht nicht im Einzelnen festzustellen vermochte. Der Angeklagte verfolgte hierbei weiter sein Ziel, Geld aus der Ladenkasse zu erbeuten, war aber während des Kampfgeschehens angesichts der Wehrhaftigkeit des Ladeninhabers auch darauf bedacht, sich einer Ergreifung durch diesen zu entziehen. Er fügte dem Opfer unter anderem sechs Stichverletzungen zu, davon drei an der rechten Körperseite und drei im linken Brust- und Bauchbereich.

3

Einen Stich führte der Angeklagte in der Weise, dass er das Küchenmesser schwungvoll und gezielt in den Oberkörper des Ladeninhabers stieß, wobei er einen tödlichen Ausgang für möglich hielt und hinnahm. Die Messerklinge drang etwa 10 bis 11 cm in die linke Brusthöhle des Tatopfers ein. Der Stichkanal endete in der linken Herzkammer und verursachte eine tödliche Herzbeuteltamponade. Nachdem das Tatopfer kampfunfähig zu Boden gegangen war, entnahm der Angeklagte in Fortführung seines Beutestrebens der Ladenkasse etwa 800 € und ergriff sodann die Flucht.

4

2. Das Landgericht hat die Tat als Totschlag in Tateinheit mit Raub mit Todesfolge gewertet. Die Mordmerkmale Habgier und Ermöglichungsabsicht seien nicht gegeben. Zwar könne ausgeschlossen werden, dass der Angeklagte seinen Raubvorsatz zu irgendeinem Zeitpunkt während der Tatbegehung endgültig aufgegeben habe. Es sei aber nicht auszuschließen, dass im Sinne eines Motivbündels neben der Beuteerlangungsabsicht weitere Tatantriebe für die Tötung mitbestimmend gewesen seien. In Betracht kämen Wut und Verärgerung über den vom Tatopfer geleisteten Widerstand sowie ein angesichts der Gegenwehr vorübergehend handlungsmitbestimmend gewordener Fluchtimpuls.

5

3. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Die Beweiswürdigung des Landgerichts begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

6

a) Die Beweiswürdigung ist vom Gesetz dem Tatgericht übertragen (§ 261 StPO). Es obliegt allein ihm, sich aufgrund des umfassenden Eindrucks der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Die revisionsgerichtliche Kontrolle ist auf die Prüfung beschränkt, ob dem Tatgericht dabei ein Rechtsfehler unterlaufen ist. Dies ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder das Tatgericht an die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten überhöhte Anforderungen stellt. Darüber hinaus muss die Überzeugung des Tatgerichts in den Feststellungen und der den Feststellungen zugrunde liegenden Beweiswürdigung eine ausreichende objektive Grundlage finden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. Dezember 2015 - 2 StR 322/15; vom 22. August 2013 - 1 StR 378/13, NStZ-RR 2013, 387, 388). Insbesondere dürfen weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch aus sonstigen Gründen zugunsten des Angeklagten Unterstellungen vorgenommen werden, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 16. Dezember 2015 - 1 StR 423/15; vom 26. März 2015 - 4 StR 442/14, NStZ-RR 2015, 172, 173; vom 9. September 2014 - 5 StR 200/14).

7

b) Diesen Anforderungen an die Beweiswürdigung wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Soweit das Landgericht neben der Beuteerlangungsabsicht des Angeklagten das Vorliegen weiterer Handlungsantriebe und damit eines "Motivbündels" für nicht ausschließbar erachtet hat, weist das Urteil Erörterungsmängel auf.

8

aa) Dies gilt zunächst insoweit, als die Jugendkammer dem Angeklagten zugutegehalten hat, er habe im Zeitpunkt der Tötungshandlung möglicherweise auch aus "Wut und Verärgerung über das widerständige, wehrhafte Verhalten des Tatopfers" (UA S. 20) gehandelt.

9

Das Vorliegen von Wut und Verärgerung durfte das Landgericht indes nicht ohne Weiteres zugunsten des Angeklagten unterstellen. Konkrete tatsächliche Anhaltspunkte für deren Vorliegen oder gar entsprechende Feststellungen ergeben sich aus den Urteilsgründen nicht. Insbesondere hat sich der Angeklagte - ausweislich seiner im Urteil mitgeteilten Einlassung (UA S. 11 f.) - selbst gar nicht auf ein Handeln aus Wut oder Verärgerung berufen. Eine nähere Erörterung und Begründung dieser zugunsten des Angeklagten erfolgten Unterstellung war schließlich auch nicht ausnahmsweise entbehrlich, da sich derartige Handlungsantriebe des Täters auch bei einem sich zur Wehr setzenden Raubopfer nicht von selbst verstehen.

10

bb) Ein Erörterungsmangel liegt auch insoweit vor, als die Jugendkammer es für möglich erachtet hat, dass neben der Beuteerlangungsabsicht als weiterer Tatantrieb für die Tötung ein "vorübergehend handlungsmitbestimmend gewordener Fluchtimpuls" (UA S. 20) auf den Angeklagten eingewirkt habe. Auch ein solches Fluchtmotiv durfte das Landgericht nur zugunsten des Angeklagten annehmen, wenn das Beweisergebnis konkrete tatsächliche Anhaltspunkte hierfür erbracht hätte und diese von der Kammer im Rahmen der Beweiswürdigung erörtert worden wären. Da es hieran fehlt, bleibt unklar, aufgrund welcher Umstände das Landgericht sich veranlasst gesehen hat, zugunsten des Angeklagten ein Fluchtmotiv zu unterstellen.

11

Soweit sich die Jugendkammer hierzu durch die Angaben des Angeklagten, er habe angesichts des Widerstands des Tatopfers "an Flucht gedacht", hingegen "an das Geld gar nicht mehr" (UA S. 12), veranlasst gesehen haben sollte, hätte sie beweiswürdigend erörtern müssen, warum sie zwar entgegen der Einlassung davon ausgegangen ist, der Angeklagte habe zu keinem Zeitpunkt seinen Raubvorsatz aufgegeben (UA S. 19), das Fluchtmotiv hingegen für glaubhaft erachtet hat; auch hierzu verhält sich das Urteil nicht.

12

Schließlich hat sich die Jugendkammer nicht mit der Frage auseinander gesetzt, ob das von ihr zugunsten des Angeklagten unterstellte Fluchtmotiv überhaupt mit ihrer Feststellung vereinbar ist, der Angeklagte habe durchgehend mit Raubvorsatz und Beuteerlangungsabsicht gehandelt (UA S. 8, 19 f.). Die Annahme, im Zeitpunkt der Tötungshandlung sei es dem Angeklagten darum gegangen, das Geld aus der Ladenkasse zu erbeuten, und gleichzeitig habe er - nicht ausschließbar - das Motiv gehabt, ohne Beute zu fliehen, hätte zumindest näher erörtert werden müssen.

13

4. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Feststellungen zum äußeren Geschehensablauf sind von dem aufgezeigten Rechtsfehler nicht betroffen und können bestehen bleiben. Ergänzende Feststellungen, die den bisher getroffenen nicht widersprechen, sind möglich.

14

5. Für die neue Hauptverhandlung bemerkt der Senat: Das neue Tatgericht wird Gelegenheit haben, eingehender als bislang erfolgt zu prüfen, ob die Tat auf ein bewusstseinsdominantes Motiv zurückgeht. Sollte die Jugendkammer wiederum zu dem Ergebnis gelangen, dass sich ein bewusstseinsdominantes Motiv nicht feststellen lasse, wird sie das Mordmerkmal der sonstigen niedrigen Beweggründe zu prüfen haben; insoweit nimmt der Senat auf die Zuschrift des Generalbundesanwalts Bezug.

Sander

RiBGH Prof. Dr. König ist urlaubsbedingt an der Unterschrift gehindert.
Sander

Berger

Bellay

Feilcke

- Von Rechts wegen

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