Suche

Nutzen Sie die Schnellsuche, um nach den neuesten Urteilen in unserer Datenbank zu suchen!

Bundesgerichtshof
Beschl. v. 31.01.2012, Az.: V ZB 127/11
Zulässigkeit eines Haftantrags zur Sicherung der Zurückschiebung eines ägyptischen Staatsangehörigen nach Norwegen bei Fehlen von Tatsachen zu der notwendigen Dauer der beantragten Haft
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 31.01.2012
Referenz: JurionRS 2012, 10747
Aktenzeichen: V ZB 127/11
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Saarbrücken - 06.02.2011 - AZ: 7 XIV 13/11

LG Saarbrücken - 11.05.2011 - AZ: 5 T 104/11

BGH, 31.01.2012 - V ZB 127/11

Redaktioneller Leitsatz:

1.

Eine Haftanordnung und ihr Vollzug verletzen einen Betroffenen in seinen Rechten, wenn es n einem zulässigen Antrag gefehlt hat und das Amtsgericht daher die Sicherungshaft nicht hätte anordnen dürfen.

2.

Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Der Haftantrag muss begründet werden. Erforderlich sind Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der notwendigen Haftdauer. Ein Verstoß gegen den Begründungszwang führt zur Unzulässigkeit des Haftantrags.

3.

Die Begründung des Haftantrags muss auch auf den konkreten Fall zugeschnitten sein. Durch den Antrag soll dem Gericht eine hinreichende Tatsachengrundlage für die Einleitung weiterer Ermittlungen oder für die Entscheidung zugänglich gemacht und dem Betroffenen eine Grundlage für seine Verteidigung gegen den Haftantrag gegeben werden Die notwendigen Darlegungen dürfen knapp gehalten sein, müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte des Falls ansprechen.

4.

Die Sicherungshaft ist unzulässig, wenn feststeht, dass die Zurückschiebung aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann. Die Prognose hierzu hat sich auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Umstände zu erstrecken, die der Zurückschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können.

5.

Zwar ist bei Rückübernahmen nach der Dublin II-Verordnung bei normalem Verfahrensgang davon auszugehen, dass die Zurückschiebung in einen Mitgliedstaat innerhalb von drei Monaten seit der Haftanordnung wird erfolgen können, wenn festgestellt ist, dass der Mitgliedsstaat zur Rückübernahme verpflichtet ist. Dazu müssen jedoch entsprechende Feststellungen getroffen werden.

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 31. Januar 2012 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger, die Richterin Dr. Stresemann, den Richter Dr. Czub und die Richterinnen Dr. Brückner und Weinland

beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Saarbrücken vom 11. Mai 2011 aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Saarbrücken vom 6. Februar 2011 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen werden der Bundesrepublik Deutschland auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Gründe

I.

1

Der Betroffene ist ägyptischer Staatsangehöriger. Er hielt sich zwischen 2008 und 2010 in Norwegen auf und stellte dort einen Asylantrag. Im März 2010 kehrte er nach Ägypten zurück, von wo aus er Anfang des Jahres 2011 mit Hilfe eines Schleusers wieder ausreiste. Nachdem er über verschiedene europäische Länder nach Frankreich gelangt war, reiste er von dort ohne Pass und ohne Visum nach Deutschland ein und wurde am 5. Februar 2011 in Saarbrücken von Beamten der Beteiligten zu 2 festgenommen.

2

Auf Antrag der Beteiligten zu 2 hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 6. Februar 2011 gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung der Zurückschiebung nach Norwegen bis längstens 5. Mai 2011 angeordnet. Die Beschwerde des Betroffenen, mit der er nach seiner Haftentlassung am 9. März 2011 die Feststellung beantragt hat, dass ihn die Haftanordnung und ihr Vollzug in seinen Rechten verletzt haben, hat das Landgericht zurückgewiesen. Dagegen wendet er sich mit der Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die Beteiligte zu 2 beantragt.

II.

3

Das Beschwerdegericht meint, der Betroffene sei unerlaubt in das Bundesgebiet eingereist und vollziehbar ausreisepflichtig. Der von ihm aus der Sicherungshaft heraus gestellte Asylantrag stehe der Haftanordnung nicht entgegen. Damit entfalle zwar der Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG aF, nicht aber der Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG aF. Aufgrund der Umstände seiner Flucht aus Ägypten bestehe bei dem Betroffenen die begründete Gefahr, dass er sich der Zurückschiebung entziehen wolle. Das nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG notwendige Einvernehmen der Staatsanwaltschaft sei erteilt, da eine generelle Zustimmung vorliege. Die Beteiligte zu 2 habe auch nicht gegen das Beschleunigungsgebot verstoßen.

III.

4

Dies hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

5

Die ohne Zulassung nach § 70 Abs. 3 Nr. 3 FamFG statthafte (vgl. nur Senat, Beschluss vom 29. Juli 2010 - V ZB 29/09, InfAuslR 2011, 27 Rn. 4 [BGH 22.07.2010 - V ZB 29/10]) und auch im Übrigen nach § 71 FamFG zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Die Haftanordnung und ihr Vollzug haben den Betroffenen in seinen Rechten verletzt.

6

1. Das Amtsgericht durfte die Sicherungshaft nicht anordnen, weil es an einem zulässigen Haftantrag nach § 417 FamFG gefehlt hat.

7

a) Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung (Senat, Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210, 211, Rn. 12; Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511, 1512 [BGH 22.07.2010 - V ZB 28/10], Rn. 7). Der Haftantrag muss nach § 417 Abs. 2 Satz 1 FamFG begründet werden. Erforderlich sind Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Ein Verstoß gegen den Begründungszwang führt zur Unzulässigkeit des Haftantrags (Senat, Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210, 211, Rn. 14; Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511, 1512 [BGH 22.07.2010 - V ZB 28/10], Rn. 8). Die Begründung des Haftantrags muss auf den konkreten Fall zugeschnitten sein (Senat, Beschluss vom 27. Oktober 2011 - V ZB 311/10, Rn. 13, [...]). Denn durch den Antrag soll dem Gericht eine hinreichende Tatsachengrundlage für die Einleitung weiterer Ermittlungen bzw. für die Entscheidung zugänglich gemacht und dem Betroffenen eine Grundlage für seine Verteidigung gegen den Haftantrag gegeben werden (Senat, Beschluss vom 27. Oktober 2011 - V ZB 311/10, Rn. 13, [...]). Die notwendigen Darlegungen dürfen knapp gehalten sein, müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte des Falls ansprechen (vgl. Senat, Beschluss vom 15. September 2011 - V ZB 123/11, FGPrax 2011, 317 Rn. 9).

8

b) Diesen Anforderungen genügt der von der Beteiligten zu 2 gestellte Haftantrag nicht. Er enthält keine Tatsachen zu der notwendigen Dauer der beantragten Haft nach § 417 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 FamFG. Die Erklärung, die beantragte Freiheitsentziehung sei zur Sicherung der Zurückschiebung erforderlich, weil der Betroffene ohne Vollzug der Haft im Gebiet der Schengener Vertragsstaaten untertauchen werde, mag das Begründungserfordernis nach § 417 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 FamFG erfüllen, weil die Beteiligte zu 2 auf diese Umstände den von ihr in dem Haftantrag genannten Haftgrund der Entziehungsabsicht nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG stützt. Sie sagen aber nichts über die Durchführbarkeit der Zurückschiebung in dem konkreten Fall innerhalb der beantragten Haftdauer aus (vgl. Senat, Beschluss vom 27. Oktober 2011 - V ZB 311/10, Rn. 13, [...]). Damit fehlen in dem Haftantrag jegliche Tatsachen, anhand derer der Haftrichter die Prognose nach § 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG hätte treffen können.

9

2. Im Übrigen hat der Haftrichter eben diese Prognose nach § 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG auch nicht angestellt.

10

a) Die Sicherungshaft ist unzulässig, wenn feststeht, dass die Zurückschiebung aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann. Die Prognose hierzu hat sich auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Umstände zu erstrecken, die der Zurückschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können (Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27, 29, Rn. 22; Beschluss vom 8. Juli 2010 - V ZB 89/10, Rn. 8 [...]). Diesen Anforderungen genügt die Entscheidung des Amtsgerichts nicht.

11

b) Dass die gebotene, aber unterlassene Prognose die Haft gerechtfertigt hätte (vgl. Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27, 29 [BGH 22.07.2010 - V ZB 29/10], Rn. 24), kann hier im Hinblick auf die schon am 9. März 2011 erfolgte Haftentlassung nicht festgestellt werden. Zwar hat der Senat entschieden, dass bei Rückübernahmen nach der Dublin II-Verordnung [Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003, Abl. L 50/1 vom 25. Februar 2003] bei normalem Verfahrensgang davon auszugehen ist, dass die Zurückschiebung in einen Mitgliedstaat innerhalb von drei Monaten seit der Haftanordnung wird erfolgen können, wenn festgestellt ist, dass der Mitgliedsstaat zur Rückübernahme verpflichtet ist (Senat, Beschluss vom 29. September 2010 - V ZB 233/10, Rn. 13, [...]; insoweit nicht abgedruckt in NVwZ 2011, 320). So liegt der Fall hier jedoch nicht. Feststellungen zur Rückübernahmeverpflichtung Norwegens nach der Dublin II-Verordnung fehlen.

12

c) Die Ausführungen des Beschwerdegerichts zu den von der Behörde ergriffenen Maßnahmen sind für die Beachtung des Beschleunigungsgebots, erforderlich. Sie ersetzen jedoch nicht die Prognose zur erforderlichen Dauer der Freiheitsentziehung.

IV.

13

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG. Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.

Krüger

Stresemann

Czub

Brückner

Weinland

Hinweis: Das Dokument wurde redaktionell aufgearbeitet und unterliegt in dieser Form einem besonderen urheberrechtlichen Schutz. Eine Nutzung über die Vertragsbedingungen der Nutzungsvereinbarung hinaus - insbesondere eine gewerbliche Weiterverarbeitung außerhalb der Grenzen der Vertragsbedingungen - ist nicht gestattet.