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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 14.12.2011, Az.: XII ZB 171/11
Erforderlichkeitsprüfung für eine Unterbringung gem. § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB bei Gefahr völliger Verwahrlosung des Betroffenen
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 14.12.2011
Referenz: JurionRS 2011, 32196
Aktenzeichen: XII ZB 171/11
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

LG Hamburg - 11.03.2011 - AZ: 301 T 91/11

Fundstellen:

BtPrax 2012, 63

FamRZ 2012, 441

NJW-RR 2012, 385-386

BGH, 14.12.2011 - XII ZB 171/11

Redaktioneller Leitsatz:

1.

Eine Unterbringung ist nach § 1906 I Nr. 1 BGB nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt. Zwar kann auch die Gefahr einer völligen Verwahrlosung des Betroffenen die Unterbringung rechtfertigen, wenn damit eine Gesundheitsgefahr durch körperliche Verelendung und Unterversorgung verbunden ist. Die Unterbringung muss aber auch erforderlich sein. Das ist zu verneinen, wenn die Gefahr durch andere Mittel als die freiheitsentziehende Unterbringung abgewendet werden kann.

2.

Kommt anstelle der Unterbringung auch eine betreute Wohneinrichtung in Frage, ist diese als mildere Maßnahme gegenüber der Unterbringung vorrangig. Lässt sich einem Beschluss nicht entnehmen, warum von dieser Möglichkeit kein Gebrauch gemacht worden ist, fehlt es im Hinblick auf die Erforderlichkeit einer Unterbringung an einer hinreichenden Aufklärung.

3.

Vor einer Unterbringungsmaßnahme zur Heilbehandlung nach § 1906 I Nr. 2 BGB hat eine förmliche Beweisaufnahme durch Einholung eines Gutachtens über die Notwendigkeit der Maßnahme stattzufinden. Die Anhörung des behandelnden Arztes vermag eine förmliche Beweisaufnahme nicht zu ersetzen. Das gilt nicht nur, wenn das Gericht von der Beauftragung eines geeigneten Gutachters absieht, sondern auch, wenn es zwar ein Sachverständigengutachten einholt, im Ergebnis aber davon abweicht, ohne die Abweichung zu begründen und sich mit der abweichenden Einschätzung des Gutachters auseinanderzusetzen.

Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 14. Dezember 2011 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Hahne und die Richter Dose, Dr. Klinkhammer, Dr. Günter und Dr. Nedden-Boeger

beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Der Betroffenen wird gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

  2. 2.

    Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss des Landgerichts Hamburg - Zivilkammer 1 - vom 11. März 2011 aufgehoben, soweit darin die Beschwerde des Verfahrenspflegers gegen den Beschluss des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek vom 25. Januar 2011 bezogen auf die Genehmigung der Unterbringung zurückgewiesen worden ist. Im Übrigen wird die Rechtsbeschwerde zurückgewiesen.

    Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.

    Wert: 6.000 €

Gründe

I.

1

Für die Betroffene besteht seit Oktober 2009 eine rechtliche Betreuung. Sie leidet an einer organischen psychotischen Störung und ist an Multipler Sklerose erkrankt. Sie hat sechs Kinder von vier Vätern.

2

Durch die angefochtenen Beschlüsse hat das Amtsgericht die Unterbringung der Betroffenen genehmigt, die sich seit Januar 2011 in einer Klinik befindet. Außerdem hat es die Betreuung um die Aufgabenkreise "Wohnungsangelegenheiten" und "Entgegennahme und Öffnen der Post" erweitert. Dagegen hat der Verfahrenspfleger Beschwerde eingelegt, die vom Landgericht nach einer vom beauftragten Richter durchgeführten Anhörung der Betroffenen zurückgewiesen worden ist. Mit der von ihr eingelegten Rechtsbeschwerde erstrebt die Betroffene die Aufhebung der amtsgerichtlichen Beschlüsse.

II.

3

Die gemäß § 70 Abs. 3 Nr. 1 und 2 FamFG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist teilweise begründet und führt insoweit zur Aufhebung der Beschwerdeentscheidung.

4

1. a) Das Landgericht hat die Voraussetzungen der Genehmigung einer Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 BGB als gegeben erachtet. Die Erkrankung der Betroffenen mache auch eine "fach(pflege)psychiatrische Behandlung" erforderlich. Die Behandlung im Krankenhaus habe bereits eine signifikante Verbesserung erreichen können. Die Behandlung mit einem Depotmedikament sei weiterhin notwendig, was nur geschlossen-stationär möglich sei, weil die Betroffene mutmaßlich damit überfordert wäre, die Medikation ambulant fortzusetzen. Ein Absetzen der Medikation und eine weniger strukturierte Umgebung bzw. das Fehlen eines engen therapeutischen Rahmens würde alsbald eine Verschlechterung bewirken. Daneben sei die Maßnahme auch im Sinne einer beschützenden Unterbringung gemäß § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB zur Abwehr einer erheblichen Eigengefährdung gerechtfertigt. Die Betroffene sei nicht wohnfähig und wäre alsbald akut von Obdachlosigkeit bedroht. Die Unterbringung sei auch verhältnismäßig. Da die Betroffene ihre Medikamente mittlerweile freiwillig nehme, bedürfe es keiner Entscheidung über die aus Rechtsgründen ohnehin nicht erforderliche ausdrückliche Genehmigung der Zwangsmedikation.

5

b) Die Betroffene sei wegen ihrer psychischen Krankheit auch nicht in der Lage, ihre Angelegenheiten in den Aufgabenkreisen "Entgegennahme und Öffnen der Post" sowie "Wohnungsangelegenheiten" selbstständig zu besorgen. Die Notwendigkeit der Betreuung in Wohnungsangelegenheiten ergebe sich daraus, dass die Betroffene nach Lage der Dinge nicht in ihre Wohnung zurückkehren könne und die Suche nach einer neuen Unterkunft für die Zeit nach der geschlossenen Unterbringung anstehe. Der Aufgabenkreis "Entgegennahme und Öffnen der Post" sei notwendig, weil die Betroffene ihre Mitwirkung nahezu vollständig verweigere und die Betreuerin nicht über den laufenden Schriftverkehr informiere.

6

2. Das hält hinsichtlich der Genehmigung der Unterbringung den von der Rechtsbeschwerde erhobenen Verfahrensrügen nicht stand. Die vom Landgericht durchgeführte Sachaufklärung genügt insoweit nicht den Anforderungen nach § 26 FamFG.

7

a) Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die Voraussetzungen für die Genehmigung der Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BGB nicht hinreichend festgestellt sind.

8

aa) Eine Unterbringung ist nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt. Zwar kann nach der Rechtsprechung des Senats auch die Gefahr einer völligen Verwahrlosung des Betroffenen die Unterbringung rechtfertigen, wenn damit eine Gesundheitsgefahr durch körperliche Verelendung und Unterversorgung verbunden ist (Senatsbeschluss vom 13. Januar 2010 - XII ZB 248/09 - FamRZ 2010, 365 Rn. 14 mwN). Die Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB muss aber auch erforderlich sein. Das ist zu verneinen, wenn die Gefahr durch andere Mittel als die freiheitsentziehende Unterbringung abgewendet werden kann (Senatsbeschluss vom 13. Januar 2010 - XII ZB 248/09 - FamRZ 2010, 365 Rn. 14 mwN).

9

Im vorliegenden Fall ist die Erforderlichkeit nicht festgestellt. Die Rechtsbeschwerde weist zutreffend darauf hin, dass nach dem Sachverständigen-Gutachten anstelle der Unterbringung für die Betroffene auch eine betreute Wohneinrichtung in Frage kommt, die - ggf. als mildere Maßnahme - gegenüber der Unterbringung vorrangig ist. Warum von dieser Möglichkeit kein Gebrauch gemacht worden ist, lässt sich dem angefochtenen Beschluss nicht entnehmen. Damit fehlt es im Hinblick auf die Erforderlichkeit einer Unterbringung an einer hinreichenden Aufklärung.

10

bb) Auch die Voraussetzungen einer Unterbringung zur Heilbehandlung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB sind nicht hinreichend festgestellt worden.

11

Vor einer Unterbringungsmaßnahme hat nach § 321 Abs. 1 Satz 1 FamFG eine förmliche Beweisaufnahme durch Einholung eines Gutachtens über die Notwendigkeit der Maßnahme stattzufinden. Der vom Amtsgericht beauftragte Sachverständige hat in seinem Gutachten die Voraussetzungen der Unterbringung zur Heilbehandlung jedoch als nicht gegeben erachtet. Das Landgericht hat die geschlossenstationäre Behandlung dennoch für erforderlich gehalten, weil die Betroffene mutmaßlich damit überfordert würde, die Medikation ambulant fortzusetzen. Dafür hat es sich auf die Angaben des behandelnden Arztes gestützt.

12

Nach der Rechtsprechung des Senats vermag die Anhörung des behandelnden Arztes eine förmliche Beweisaufnahme indessen nicht zu ersetzen (Senatsbeschluss vom 15. September 2010 - XII ZB 383/10 - FamRZ 2010, 1726 Rn. 17). Das gilt nicht nur, wenn das Gericht von der Beauftragung eines geeigneten Gutachters absieht, sondern auch, wenn es zwar ein Sachverständigen-Gutachten einholt, im Ergebnis aber - wie hier - davon abweicht, ohne die Abweichung zu begründen und sich mit der abweichenden Einschätzung des Gutachters auseinanderzusetzen. Von dem Mangel ist auch die vom Amtsgericht ausdrücklich ausgesprochene Genehmigung der Zwangsmedikation mit einem Depotmedikament erfasst, weil schon ein hinreichender Grund für die Unterbringung zur Heilbehandlung demnach nicht festgestellt ist.

13

cc) Dass die Anhörung der Betroffenen vor dem beauftragten Richter und nicht vor der gesamten Kammer stattgefunden hat, ist schließlich nicht zu beanstanden. Den persönlichen Eindruck hat das Landgericht in der Beschwerdeentscheidung nur zur Stützung der vom Gutachter angestellten Diagnose verwertet, die schon für sich genommen eine hinreichende Grundlage für die Feststellung einer psychischen Krankheit im Sinne von § 1906 Abs. 1 BGB bietet.

14

b) Im Hinblick auf die Erweiterung der Aufgabenkreise der Betreuung greifen die von der Rechtsbeschwerde erhobenen Verfahrensrügen nicht durch. Von der weiteren Begründung wird insoweit gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.

15

3. Die Entscheidung zur Unterbringung beruht auf den aufgezeigten Verfahrensfehlern. Eine abschließende Sachentscheidung ist dem Senat insoweit nicht möglich, weil entsprechend den Vorgaben des Senats weitere tatrichterliche Feststellungen erforderlich sind.

Hahne

Dose

Klinkhammer

Günter

Nedden-Boeger

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