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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 04.10.2011, Az.: StB 14/11
Erneute sachverständige Beratung des Gerichts bei Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung nach Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 04.10.2011
Referenz: JurionRS 2011, 25955
Aktenzeichen: StB 14/11
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

OLG Stuttgart - 09.08.2011

Fundstellen:

NStZ-RR 2012, 8

StraFo 2012, 115-116

StV 2012, 548-549

Verfahrensgegenstand:

Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung u.a.

BGH, 04.10.2011 - StB 14/11

Redaktioneller Leitsatz:

  1. 1.

    Die Aussetzung der Verbüßung des Strafrestes zur Bewährung darf nur dann ohne erneute Anhörung eines Sachverständigen abgelehnt werden, wenn das zuvor erstattete Gutachten wegen der Kürze der seither verstrichenen Zeit noch eine verlässliche Entscheidungsgrundlage bietet und insbesondere keine neuen Umstände hervorgetreten sind, die grundsätzlich geeignet sein können, die Legalprognose für den Verurteilten positiv zu beeinflussen.

  2. 2.

    Die Voraussetzungen an eine positive Legalprognose im Sinne des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 StGB sind umso höher anzusetzen, je gewichtiger die Rechtsgüter sind, die bei einem möglichen Rückfall des entlassenen Verurteilten verletzt oder gefährdet werden würden.

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat
nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers
am 4. Oktober 2011
gemäß § 454 Abs. 3 Satz 1, § 304 Abs. 4 Satz 2 Nr. 5 StPO
beschlossen:

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 9. August 2011 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

Das Oberlandesgericht hatte gegen den Verurteilten am 15. Juli 2008 wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung in Tateinheit mit dem Versuch der Beteiligung an einem Mord eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verhängt. Durch den angefochtenen Beschluss hat es das Oberlandesgericht erneut - wie schon zuvor am 12. Mai 2010 - abgelehnt, den Rest dieser Freiheitsstrafe nach Verbüßung von mehr als zwei Dritteln zur Bewährung auszusetzen. Die hiergegen erhobene sofortige Beschwerde des Verurteilten führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Oberlandesgericht; denn dieses durfte dem Verurteilten die Reststrafenbewährung nicht versagen, ohne sich zuvor gemäß § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO wiederum sachverständig beraten zu lassen.

2

1.

Nach der genannten Vorschrift holt das Gericht das Gutachten eines Sachverständigen über den Verurteilten ein, wenn es erwägt, die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren wegen einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB bezeichneten Art (hier: § 129b Abs. 1, § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB sowie §§ 211, 30 StGB) zur Bewährung auszusetzen und nicht auszuschließen ist, dass Gründe der öffentlichen Sicherheit einer vorzeitigen Entlassung des Verurteilten entgegenstehen. Die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung hatte das Oberlandesgericht vor seiner Entscheidung vom 12. Mai 2010 für gegeben erachtet, denn es hatte ein entsprechendes Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. L. eingeholt und in seine Erwägungen einbezogen. Vor diesem Hintergrund hätte es die Aussetzung der Verbüßung des Strafrestes zur Bewährung nur dann ohne erneute Anhörung eines Sachverständigen ablehnen dürfen, wenn das damals erstattete Gutachten wegen der Kürze der seither verstrichenen Zeit noch eine verlässliche Entscheidungsgrundlage geboten hätte und insbesondere keine neuen Umstände hervorgetreten wären, die grundsätzlich geeignet sein könnten, die Legalprognose für den Verurteilten positiv zu beeinflussen (so gerade auch die vom Oberlandesgericht herangezogenen Beschlüsse des OLG Rostock vom 20. August 2002 - 1 Ws 336/02, NJW 2003, 1334, 1335 [OLG Rostock 20.08.2002 - I Ws 336/02] und des Thüring. OLG vom 3. Dezember 1999 - 1 Ws 366/99, NStZ 2000, 224 [OLG Jena 03.12.1999 - 1 Ws 336/99]).

3

Beides war hier nicht der Fall. Im Zeitpunkt der Beschlussfassung vom 9. August 2011 waren seit dem schriftlichen Gutachten des Sachverständigen vom 8. Februar 2010 ein Jahr und sechs Monate und seit dessen mündlicher Anhörung vom 11. Mai 2010 nahezu ein Jahr und drei Monate vergangen, in denen durch den weiteren Strafvollzug resozialisierend auf den Verurteilten eingewirkt worden war. In dieser Zeit hatte der Verurteilte außerdem an einem Gruppentraining zur Förderung der sozialen Kompetenzen teilgenommen, das er nach der Bewertung der Kursleiterinnen positiv und mit sehr gutem Erfolg absolviert hatte. Außerdem steht er nunmehr in regelmäßigem Kontakt zu einem ehrenamtlichen Betreuer der Straffälligenhilfe, der ihm Unterstützung nach seiner Haftentlassung zugesagt hat. Bei dieser Sachlage hat das Oberlandesgericht den ihm durch § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO eingeräumten Beurteilungsspielraum (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 2000 - StB 1/00, BGHR StPO § 454 Gutachten 3) überschritten, indem es die erneute Ablehnung der Reststrafenbewährung maßgeblich wieder auf das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. L. vom 8. Februar 2010 stützte (BA S. 5), ohne zuvor diesen oder einen anderen Sachverständigen zu den neuen prognoserelevanten Umständen zu hören. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Oberlandesgericht (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 8. Juni 2000 - 2 Ws 281-282/00, NStZ-RR 2000, 317, 318; OLG Stuttgart, Beschluss vom 12. Juni 2003 - 2 Ws 99/03, Justiz 2004, 123, 124).

4

2.

Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

5

Das Oberlandesgericht führt in dem angefochtenen Beschluss unter Bezugnahme auf seine Entscheidung vom 12. Mai 2010 zwar zutreffend aus, dass die Anforderungen an eine positive Legalprognose im Sinne des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 StGB umso höher angesetzt werden müssen, je gewichtiger die Rechtsgüter sind, die bei einem möglichen Rückfall des entlassenen Verurteilten verletzt oder gefährdet würden (BGH, Beschluss vom 25. April 2003 - StB 4/03, BGHR StGB § 57 Abs. 1 Erprobung 2). Diese dürfen indes auch nicht so hoch geschraubt werden, dass dem wegen eines Kapitalverbrechens oder eines Organisationsdelikts im Sinne der §§ 129a, 129b StGB Verurteilten letztlich kaum eine Chance auf eine vorzeitige Haftentlassung bleibt. Insbesondere darf die Ablehnung der Reststrafenbewährung nicht auf Umstände gestützt werden, auf die der Verurteilte keinen Einfluss hat. Daher wird das Oberlandesgericht nunmehr zu beachten haben, dass einer Arbeitsaufnahme des Verurteilten nach Haftentlassung gerade sein Eintrag im Anhang I der Verordnung (EG) Nr. 881/2002 entgegensteht. Sollten sonstige prognoserelevante Umstände der Aussetzung des Vollzugs der Reststrafe zur Bewährung nicht entgegenstehen, wird sie dem Verurteilten daher nicht mit Hinweis darauf versagt werden können, wegen der fehlenden Möglichkeit einer Arbeitsaufnahme bestehe die Gefahr seiner Rückkehr in sein früheres Umfeld "im Umkreis muslimischer Moscheen" und der dortigen Aufnahme in eine islamistischterroristische Gruppe.

Becker
Pfister
Menges

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