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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 28.07.2011, Az.: VII ZR 184/09
Pflicht zur Gewährung von Schriftsatzfrist bei erstmaliger Erklärung eines Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung zur Plausibilität einer Abschlussrechnung
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 28.07.2011
Referenz: JurionRS 2011, 22041
Aktenzeichen: VII ZR 184/09
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

LG München I - 05.10.2005 - AZ: 24 O 10220/05

OLG München - 16.09.2009 - AZ: 13 U 5289/05

Fundstellen:

BauR 2011, 1848-1850

DS 2011, 362-363

IBR 2011, 616

NJW 2011, 3040-3041

NZBau 2011, 672-674

ZfBR 2011, 760-762

zfs 2012, 269

BGH, 28.07.2011 - VII ZR 184/09

Redaktioneller Leitsatz:

Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs kann im Anschluss an eine Beweisaufnahme die Vertagung oder die Gewährung einer Schriftsatzfrist zum Beweisergebnis gebieten, wenn von einer Partei eine umfassende sofortige Stellungnahme nicht erwartet werden kann.

Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat
am 28. Juli 2011
durch
den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Kniffka,
den Richter Dr. Kuffer,
den Richter Bauner,
die Richterin Safari Chabestari und
den Richter Dr. Eick
beschlossen:

Tenor:

Der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision wird stattgegeben.

Das Urteil des 13. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 16. September 2009 wird gemäß § 544 Abs. 7 ZPO im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil der Beklagten entschieden worden ist.

Die Sache wird insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Gegenstandswert: 1.787.709,56 €

Gründe

I.

1

Die Klägerin verlangt von den Beklagten Restwerklohn.

2

Die Streithelferin beauftragte die unter anderem aus den Beklagten zu 2 und zu 4 bestehende Beklagte zu 1 mit der Errichtung eines Bahndamms. Letztere vergab die Arbeiten zur Bodenvernagelung an die Klägerin als Nachunternehmerin. Grundlage des zwischen der Beklagten zu 1 und der Klägerin geschlossenen Einheitspreisvertrags war das klägerische Angebot über 2.433.647,50 €. Die Klägerin nahm die Arbeit auf und stellte in deren Verlauf wegen behaupteter Leistungsänderungen neun Nachträge (N 1 bis N 9). Nach Abnahme legte sie Schlussrechnung über 5.593.700,11 € vor. Abzüglich eines Nachlasses und bereits geleisteter Zahlungen machte sie auf dieser Grundlage gegenüber der Beklagten zu 1 den noch offenen Betrag von 3.532.862,10 € geltend. Zudem verlangte sie die Rückgabe einer Vertragserfüllungs- und einer Vorauszahlungsbürgschaft nebst Zahlung von Avalzinsen. Da die Beklagte zu 1 die Nachträge nicht anerkannte, hat die Klägerin Klage erhoben.

3

Das Landgericht hat die Beklagten gesamtschuldnerisch zur Herausgabe der Urkunde über die Vertragserfüllungsbürgschaft sowie zur Zahlung der darauf entfallenden Avalzinsen verurteilt. Die Klage im Übrigen hat es als derzeit unbegründet abgewiesen, weil die Schlussrechnung nicht prüfbar sei. In der Berufungsinstanz haben die Beklagten der Streithelferin den Streit verkündet, die darauf dem Rechtsstreit auf deren Seite beigetreten ist. Das Berufungsgericht hat auf die Berufung der Klägerin die Beklagten verurteilt, auch die Vorauszahlungsbürgschaft herauszugeben, Avalzinsen und Werklohn in Höhe von 1.637.709,59 € an sie zu zahlen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten und ihrer Streithelferin, die in der Sache die Zurückweisung der Berufung erstreben.

II.

4

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde ist das Berufungsurteil aufzuheben, soweit zum Nachteil der Beklagten erkannt worden ist. Insoweit ist die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 544 Abs. 7 ZPO. Das Berufungsgericht hat in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch der Beklagten und Streithelferin auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, Art. 103 Abs. 1 GG.

5

1.

Das Berufungsgericht hält die Schlussrechnung der Klägerin für prüfbar und die Restwerklohnforderung für fällig. Die Berechnung der Klägerin sei inhaltlich weitgehend richtig. Dies ergebe sich aus den Ausführungen des Sachverständigen B., dem das Berufungsgericht in fast allen Punkten gefolgt sei. In dem Verfahren hatte der Sachverständige B. zur sachlichen Richtigkeit der Schlussrechnung ein schriftliches Gutachten nebst einer schriftlichen Ergänzung vorgelegt. In der mündlichen Verhandlung am 15. September 2009 hat er viereinhalb Stunden und am 16. September 2009 über drei Stunden lang sein Gutachten erläutert und den Parteien sowie den von der Streithelferin und von der Klägerin beigezogenen Privatsachverständigen Rede und Antwort gestanden. Nach Beendigung der Sachverständigenbefragung hat das Berufungsgericht den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Parteien haben ihre Anträge wiederholt und die Streithelferin sowie die Beklagten sodann übereinstimmend eine Schriftsatzfrist von vier Wochen ab Zugang des Protokolls zur Stellungnahme zum Ergebnis der Beweisaufnahme beantragt. Das Berufungsgericht hat die mündliche Verhandlung geschlossen. Zwischen der Entlassung des Sachverständigen und dem Ende der mündlichen Verhandlung lagen laut Protokoll fünf Minuten. Noch am selben Tag hat das Berufungsgericht das angegriffene Urteil verkündet.

6

2.

Mit diesem Vorgehen hat das Berufungsgericht das rechtliche Gehör der Beklagten und Streithelferin unzulässig verkürzt. Die Prozessbeteiligten sollen nach einer Beweisaufnahme möglichst im gleichen Termin deren Ergebnis erörtern und zur Sache verhandeln, § 279 Abs. 3, § 285 Abs. 1, § 370 Abs. 1 ZPO. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs kann aber im Anschluss an eine Beweisaufnahme die Vertagung oder die Gewährung einer Schriftsatzfrist zum Beweisergebnis gebieten, wenn von einer Partei eine umfassende sofortige Stellungnahme nicht erwartet werden kann, weil sie verständigerweise Zeit braucht, um - in Kenntnis der Sitzungsniederschrift - angemessen vorzutragen. Das kann etwa nach einer komplexen Beweisaufnahme oder nach einer umfassenden Erörterung des Gutachtens der Fall sein (Zöller/Greger, ZPO, 28. Aufl., § 285 Rn. 2; Musielak/Foerste, ZPO, 8. Aufl., § 285 Rn. 2 und § 280 Rn. 7 jeweils m.w.N.) oder auch dann, wenn der Sachverständige in seinen mündlichen Ausführungen neue und ausführlichere Beurteilungen gegenüber dem bisherigen Gutachten abgegeben hat (BGH, Beschluss vom 30. November 2010 VI ZR 25/09, NJW-RR 2011, 428 Rn. 5; Urteil vom 13. Februar 2001 - VI ZR 272/99, NJW 2001, 2796, 2797; vgl. auch BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2008 - VII ZR 200/06, BauR 2009, 681 Rn. 7 = NZBau 2009, 244 = ZfBR 2009, 349; Beschluss vom 15. Oktober 2009 - VII ZR 2/09, BauR 2010, 246 Rn. 4 = ZfBR 2010, 130).

7

a)

Dem wird das Berufungsurteil nicht gerecht. Das Berufungsgericht hätte die beantragte Schriftsatzfrist gewähren müssen.

8

aa)

Die Klägerin hat vorgetragen, sie habe die Urkalkulation, die sie den Nachträgen zugrunde gelegt habe, auf der Basis von Kreuzbohrkronen, Durchmesser 70 mm, des Anbieters Fa. I. nach dem Preisstand von 2001 berechnet.

Das Berufungsgericht hat die Kalkulation mit der Bemerkung unbeanstandet gelassen, die Beklagten hätten zu Manipulationen oder zu einem "Hinfrisieren" der Kalkulation nichts vorgebracht. Erstmals im Rahmen der mündlichen Anhörung hat der Sachverständige B. erklärt, er halte die Nachtragskalkulation der Klägerin deshalb für plausibel, weil sich in der Preisliste der Fa. I. von 1994/95 eine Hartmetallbohrkrone mit einem Durchmesser von 70 mm finde. Die Streithelferin hat im Rahmen ihrer Nichtzulassungsbeschwerde dargelegt, dass sie - wäre ihr ein Schriftsatznachlass gewährt worden - nach eigenen Recherchen, die nicht im Verlauf der Anhörung des Sachverständigen B., sondern erst im Anschluss daran möglich gewesen seien, unter Beweisantritt vorgetragen hätte, dass die Preisliste der Fa. I. von 1994/95 eine solche Bohrkrone nicht ausgewiesen habe.

9

bb)

Der Sachverständige B. hat die Nachträge der Klägerin mithilfe eines von ihm entwickelten "kappa-Werts" kalkuliert. Es handelt sich dabei um einen Faktor, mit dem der Mehraufwand zu berechnen sei, der dadurch entstehe, dass statt der angeblich kalkulierten Bohrkronen von 70 mm Durchmesser solche mit 90 mm Durchmesser zum Einsatz gekommen seien. In der mündlichen Anhörung führte der Sachverständige zum "kappa-Wert" aus und legte dar, dass sich für ihn die Plausibilität des Wertes aus einigen Kontrollüberlegungen ergebe. Dazu sei die Zahl der für die Bodenvernagelung kalkulierten und angefallenen Schichten zu vergleichen, wobei von einer Schichtdauer von zwölf Stunden auszugehen sei. In die Schichtzeit seien aber verschiedene Ausfallzeiten einzubeziehen. Weiterhin hat er behauptet, dass die Herstellung einer Gesamtnagellänge von 230 m pro Schicht üblich sei und dass ihm bei der Erstellung des Gutachtens keine Aufmaße vorgelegen hätten. Das Berufungsgericht ist dem Sachverständigen gefolgt. Als Reaktion auf diese teilweise neuen Gesichtspunkte und die insgesamt komplexe und wissenschaftlich ungeklärte Fragestellung sowie zum Beleg der fehlenden Plausibilität des "kappa-Werts" hat die Streithelferin in der Nichtzulassungsbeschwerde detailliert und unter Beweisantritt vorgetragen. Dazu hat sie erklärt, dass eine Stellungnahme im Termin deshalb nicht möglich gewesen sei, weil sie die Aussagen des Sachverständigen B. zunächst anhand seiner früheren Stellungnahmen und ihrer eigenen Unterlagen habe überprüfen und nachvollziehen müssen.

10

cc)

Am 23. August 2009 ging der Streithelferin ein Gutachten des TÜV R. zu, das sich mit der Angemessenheit der Preise für die Nachträge N 9.11 bis N 9.16 befasste. Es wurde ihr vom Berufungsgericht ohne Fristsetzung nach § 411 Abs. 4 Satz 1 ZPO zugeleitet. Das Berufungsgericht hat die von der Klägerin angesetzten Preise für angemessen gehalten und sich darin durch das Gutachten bestätigt gesehen. Die Streithelferin moniert, die Zeit bis zur mündlichen Verhandlung sei nicht ausreichend gewesen, um das Gutachten fachkundig prüfen zu lassen. Diese Prüfung hätte, wofür die Streithelferin Beweis antritt, ergeben, dass das Gutachten unvollständig und sachlich falsch gewesen sei.

11

b)

Indem das Berufungsgericht keine Frist zur Stellungnahme zum Ergebnis der Beweisaufnahme gesetzt, sondern nach Schluss der mündlichen Verhandlung umgehend sein Urteil gesprochen hat, hat es der Streithelferin die Möglichkeit zu einer sachgerechten Reaktion auf den erreichten Verfahrensstand abgeschnitten. Damit hat es ihr Verfahrensgrundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs in entscheidenden Punkten ihres Verteidigungsvorbringens verletzt. Das Berufungsurteil beruht auf diesen Grundrechtsverletzungen. Denn es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht bei der Beurteilung der für seine Überzeugungsbildung zentralen Ausführungen des Sachverständigen B. zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn es den von der Streithelferin in der Nichtzulassungsbeschwerde gehaltenen Vortrag berücksichtigt und gegebenenfalls den angetretenen Beweis erhoben hätte. Dasselbe gilt für die Einwände gegen das Gutachten des TÜV R.

12

3.

In der neuen mündlichen Verhandlung wird sich das Berufungsgericht zudem mit den übrigen in der Nichtzulassungsbeschwerde erhobenen Einwendungen befassen müssen.

Kniffka
Kuffer
Bauner
Safari
Chabestari
Eick

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