Bundesgerichtshof
Beschl. v. 09.11.2010, Az.: VIII ZR 209/08
Vereinbarkeit der Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots mit dem Anspruch einer Partei auf rechtliches Gehör; Beachtlichkeit eines Beweisangebotes über eine durch die Partei nur vermutete Tatsache trotz fehlender genauer Kenntnis davon
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 09.11.2010
- Aktenzeichen
- VIII ZR 209/08
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 28154
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Hamburg - 22.09.2006 - AZ: 420 O 13/02
- OLG Hamburg - 20.06.2008 - AZ: 11 U 22/07
Rechtsgrundlage
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Die Statthaftigkeit und die sonstige Zulässigkeit einer Nichtzulassungsbeschwerde richten sich nach § 543 II S. 1 Nr. 2 ZPO, § 544 ZPO und § 26 Nr. 8 EGZPO. Ist sie begründet, führt sie gemäß § 544 VII ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
- 2.
Ein Berufungsurteil verletzt den Anspruch einer Partei auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise, wenn es den von der Partei angebotenen Beweisen für erhebliche Behauptungen nicht nachgegangen ist. Aufgrund der verfassungsrechtlichen Relevanz eines solchen Verfahrensfehlers ist eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich (§ 543 II S. 1 Nr. 2 ZPO).
Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 I GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet. - 3.
Beweisantritte, die darauf zielen, erst aufgrund der Beweisaufnahme die zur Konkretisierung des Parteivorbringens benötigten eigentlichen beweiserheblichen Tatsachen in Erfahrung zu bringen, die sodann behauptet, unter Beweis gestellt und damit zur Grundlage neuen Vortrags gemacht werden sollen, sind unzulässig.
- 4.
Das trifft für Beweisantritte nicht zu, die sich auf konkret behauptete und entscheidungserhebliche Tatsachen beziehen. Dem Erfordernis einer Beweisaufnahme steht auch nicht entgegen, dass Grundlage einer Behauptung eine Vermutung ist. Häufig muss eine Partei Tatsachen behaupten, über die sie eine genaue Kenntnis nicht haben kann, die sie aber nach Lage der Verhältnisse für wahrscheinlich oder möglich hält. Von Rechts wegen ist sie grundsätzlich nicht gehindert, solche Behauptungen in den Prozess einzuführen und eine Beweisaufnahme darüber zu erwirken. Eine Behauptung ist erst dann unbeachtlich, wenn sie ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich "aufs Geratewohl" oder "ins Blaue hinein" aufgestellt worden ist. Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist Zurückhaltung geboten. In der Regel wird nur das Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte den Willkürvorwurf rechtfertigen können.
Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat
am 9. November 2010
durch
den Vorsitzenden Richter Ball, den Richter Dr. Frellesen,
die Richterinnen Dr. Milger und Dr. Hessel sowie
den Richter Dr. Achilles
beschlossen:
Tenor:
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil des 11. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 20. Juni 2008 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 128.155,14 € festgesetzt.
Gründe
I.
Die Parteien sind Handelsvertreter für Zulieferer der Automobilindustrie. Die Klägerin begehrt von der Beklagten Provisionszahlung in Form der hälftigen Abgabe der von der Beklagten verdienten Provisionen aus bestimmten Geschäften.
Die Klägerin verfügt über enge Kontakte zu den Herstellerfirmen S. und V. , die Beklagte unter anderem zu den Herstellerfirmen G. M. und D. B. . Am 25. März 1992 schlossen die Parteien unter Wahl des deutschen Rechts ein "Agreement of Cooperation". Hierin vereinbarten sie in § 6.2 die hälftige Provisionsteilung für den Fall, dass die Beklagte Geschäfte zwischen den Herstellern S. oder V. und eigenen Vertragspartnern vermittelt oder Vertragspartner der Beklagten aufgrund Vermittlungstätigkeit der Beklagten Produkte an Dritte liefern, die Designentwicklungen der Hersteller S. oder V. enthalten.
Zu den von der Beklagten vertretenen Unternehmen gehörten die Zuliefererbetriebe G. F. AG und F. W. . Die G. F. AG produzierte Pleuelstangen und Achsschenkel, der Zulieferer F. W. Motorblöcke.
Die Beklagte ist durch - rechtskräftiges - erstinstanzliches Teilurteil vom 26. März 2004 zur Erteilung eines auf diese Produkte bezogenen Buchauszugs für die Zeit vom 1. Januar 1996 bis zum 25. März 2000 verurteilt worden, da das Gericht die Behauptung der Klägerin, die Produkte enthielten S. -Designentwicklungen, auf der Grundlage eines eingeholten Sachverständigengutachtens für erwiesen hielt.
In dem daraufhin erstellten Buchauszug hat die Beklagte mitgeteilt, sie habe Verkäufe der streitigen Produkte weder vermittelt noch hierfür Provisionen erhalten. Die Klägerin hält diese Angaben für falsch und hat mit Schriftsatz vom 8. Dezember 2005 ihren Antrag unabhängig von dem ihr durch die Beklagte erteilten Buchauszug beziffert. Sie hat vorgetragen, in der Zeit vom 1. Januar 1996 bis zum 25. März 2000 habe der Automobilzulieferer F. W. eine im Einzelnen (nach Jahr, Autohersteller und Fahrzeugmodell) aufgegliederte Anzahl von Motorblöcken zu einem Einzelpreis von je 100 € geliefert. Im gleichen Zeitraum habe die Automobilzulieferin G. F. AG eine im Einzelnen (s.o.) aufgegliederte Anzahl an Pleuelstangen und Achsschenkeln zu einem Preis von 3,08 € bzw. 13,05 € je Satz geliefert. Die Lieferung dieser Teile, die auf S. -Design zurückgingen, sei durch die Beklagte vermittelt worden, die dafür 3 % Provision auf den Listenpreis erhalten habe. Zum Beweis für ihren - von der Beklagten umfassend bestrittenen - Vortrag hat sie sich auf das Zeugnis diverser Personen berufen, die als Mitarbeiter bei F. W. , bei der G. F. AG, bei S. und bei der A. O. AG tätig sind.
Grundlage der klägerischen Berechnung ist eine als Anlage K 37 vorgelegte Studie der Global Insight Inc., die die Produktionszahlen einzelner Kraftfahrzeuge, geordnet nach Hersteller, Herstellungsort, verwandter Modellplattform, Modell, Hubraum und Zylinder auflistet. Informationen zu Lieferungen und Preisen von einzelnen Bauteilen enthält die Studie jedoch ebenso wenig wie Angaben darüber, ob und gegebenenfalls welche Geschäfte die Beklagte vermittelt und welche Provision sie dafür bekommen hat. Bezüglich der von ihr genannten Lieferpreise hat die Klägerin sich darauf berufen, es handele sich um die Angebotspreise der jeweiligen Automobilzulieferer. Der von ihr zugrunde gelegte Provisionssatz von 3 % sei der übliche Provisionssatz, den die Beklagte auch mit anderen Automobilzulieferern regelmäßig vereinbart habe.
Die Klägerin hat auf der Basis des von ihr dargestellten Sachverhalts den von ihr beanspruchten Provisionsanteil von 50 % berechnet und in erster Instanz beantragt, die Beklagte zur Zahlung von 2.664.990,25 € zuzüglich Zinsen zu verurteilen. Das Landgericht hat den Zahlungsantrag ohne Beweisaufnahme abgewiesen. Die Klägerin hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt, soweit Provisionsansprüche für die Zeit vom 1. Januar 2000 bis zum 25. März 2000 in Höhe von 128.155,14 € zuzüglich Zinsen abgewiesen wurden. Das Berufungsgericht hat die Berufung durch Urteil vom 20. Juni 2008 - ebenfalls ohne Beweisaufnahme - zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin.
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist statthaft und auch sonst zulässig (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 544 ZPO, § 26 Nr. 8 EGZPO). Sie hat auch in der Sache Erfolg.
1.
Das Berufungsgericht hat ausgeführt:
Der Vortrag der Klägerin sei zwar an sich hinreichend konkret, um den Klageanspruch schlüssig zu begründen. Die Klägerin habe durch ihre Behauptung, die Beklagte habe für die Vermittlung von Zubehörteilen, die eine Designentwicklung von S. enthielten, Provisionen im genannten Umfang verdient, die notwendigen Einzelheiten vorgetragen. Allerdings seien die Beweisangebote der Klägerin für den von der Beklagten bestrittenen Vortrag unzulässig, da es sich erkennbar um "Behauptungen ins Blaue" hinein handele. Die Klägerin habe selbst eingeräumt, dass sie ihre Behauptungen allein auf die Auskunft der Global Insight Inc. zu stützen vermöge, da die Auskünfte der Beklagten ihr nicht weitergeholfen hätten. Diese Auskunft der Global Insight Inc. stelle aber nur eine allgemein zugängliche Produktionsliste dar. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass sämtliche der von der Klägerin behaupteten Fahrzeuge mit Motorblöcken, Pleuelstangen und Achsschenkeln der Zulieferer F. W. und G. F. AG ausgestattet worden seien, die Beklagte diese Geschäfte vermittelt und dafür eine Provision in Höhe von 3 % des Listenpreises der Zubehörteile erhalten habe, gebe es nicht. Vielmehr sei ersichtlich, dass der Vortrag und insbesondere der Beweisantritt der Klägerin nur erfolgt seien, um die Richtigkeit des Buchauszugs der Beklagten vom 8. August 2004 überprüfen zu können und durch die Beweisaufnahme möglicherweise konkrete Einzelheiten zu erfahren.
2.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
Das Berufungsurteil verletzt den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise, indem es dem von der Klägerin angebotenen Beweis für ihre Behauptung, die Beklagte habe im Jahr 2000 für die Vermittlung von Lieferverträgen über Zubehörteile, die auf eine S. -Designentwicklung zurückgingen, im einzelnen dargestellte Provisionen erhalten, nicht nachgegangen ist. Aufgrund der verfassungsrechtlichen Relevanz des Verfahrensfehlers ist eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO).
a)
Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (BVerfG, WM 2009, 671, 672 [BVerfG 10.02.2009 - 1 BvR 1232/07]; BGH, Beschluss vom 12. Juni 2008 - V ZR 223/07, [...] Rn. 5; Urteil vom 2. April 2009 - I ZR 16/07, TranspR 2009, 410 Rn. 23 mwN; Senatsbeschluss vom 11. Mai 2010 - VIII ZR 212/07, [...] Rn. 10). Dies ist vorliegend der Fall, denn es handelte sich entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht um einen unzulässigen Ausforschungsbeweis.
aa)
Beweisantritte, die darauf zielen, erst aufgrund der Beweisaufnahme die zur Konkretisierung des Parteivorbringens benötigten eigentlichen beweiserheblichen Tatsachen in Erfahrung zu bringen, die sodann behauptet, unter Beweis gestellt und damit zur Grundlage neuen Vortrags gemacht werden sollen, sind unzulässig (BGH, Urteil vom 4. März 1991 - II ZR 90/90, NJW-RR 1991, 888 unter II 2 b). Vorliegend ist diese Fallgestaltung allerdings nicht gegeben. Die Klägerin hat die behaupteten entscheidungserheblichen Tatsachen (Vorhandensein und Höhe der Provisionseinkünfte der Beklagten für die Vermittlung von im einzelnen benannten Geschäften über konkret angegebene Teile, die auf einem S. -Design beruhen) unmittelbar selbst zum Gegenstand des Beweisantrags gemacht. Stellt sich dieser Sachvortrag als richtig heraus, so steht fest, dass der Anspruch der Klägerin besteht (vgl. BGH, Urteil vom 4. März 1991 - II ZR 90/90, aaO).
bb)
Dem Erfordernis einer Beweisaufnahme steht auch nicht entgegen, dass Grundlage der klägerischen Behauptung eine Vermutung ist. Häufig muss eine Partei Tatsachen behaupten, über die sie eine genaue Kenntnis nicht haben kann, die sie aber nach Lage der Verhältnisse für wahrscheinlich oder möglich hält. Von Rechts wegen ist sie grundsätzlich nicht gehindert, solche Behauptungen in den Prozess einzuführen und eine Beweisaufnahme darüber zu erwirken. Eine Behauptung ist erst dann unbeachtlich, wenn sie ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich "aufs Geratewohl" oder "ins Blaue hinein" aufgestellt worden ist (BGH, Urteil vom 27. Mai 2003 - IX ZR 283/99, NJW-RR 2004, 337 unter II 1 mwN).
Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist Zurückhaltung geboten. In der Regel wird nur das Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte den Willkürvorwurf rechtfertigen können (BGH, Urteil vom 27. Mai 2003 - IX ZR 283/99, aaO mwN). Derartiges zeigt die Beklagte nicht auf. Im Gegenteil ist unstreitig, dass die Firmen G. F. AG und F. W. zu den Auftraggebern der Beklagten gehören. Das Berufungsgericht ist ferner davon ausgegangen, dass die Firma G. F. Pleuelstangen und Achsschenkel und der Zulieferer F. W. Motorblöcke produziert haben. Angesichts des eingeholten Sachverständigengutachtens (GA I/113 ff.) erscheint es nahe liegend, dass zumindest die Pleuelstangen für den Motor V6 3.0 t des Fahrzeugtyps S. 9-5 und die Achsschenkel des Fahrzeugtyps S. 9-3, die sich durch eine Veränderung der Gussform auszeichnen, auf eine S. -Designentwicklung zurückgehen und insoweit einen Provisionsteilhabeanspruch der Klägerin begründen können. Die als Anlage K 37 vorgelegte Studie der Global Insight Inc. enthält Produktionszahlen der genannten Fahrzeugtypen. Angesichts dieser Umstände ist die Annahme eines willkürlichen Vortrags nicht gerechtfertigt.
b)
Damit hat das Berufungsgericht das Verfahrensgrundrecht der Klägerin auf Gewährung des rechtlichen Gehörs verletzt. Das Berufungsurteil beruht auf dieser Grundrechtsverletzung. Denn es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht bei Erhebung der angebotenen Beweise zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.
Dr. Frellesen
Dr. Milger
Dr. Hessel
Dr. Achilles