Bundesgerichtshof
Beschl. v. 20.04.2006, Az.: 3StR 284/05
Rechtmigkeit einer Rdelsfhrerschaft in einer terroristischen Vereinigung; Rge der Nichteinhaltung der Vorschriften ber die ffentlichkeit des Verfahrens; Ausschluss von Personen unter 16 Jahren; Voraussetzungen fr das Vorliegen von ttiger Reue; Verpflichtung zur Aussetzung des Verfahrens bis zur Herausgabe von Gesprchsprotokollen
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 20.04.2006
- Aktenzeichen
- 3StR 284/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 14924
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
Verfahrensgegenstand
Rdelsfhrerschaft in einer terroristischen Vereinigung u. a.
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Die Verlesung von Protokollen in Anwendung von 253 Abs. 2 StPO ist nur zulssig, wenn ein Zeuge bestreitet, so wie protokolliert, ausgesagt zu haben. Die dann an sich gebotene Vernehmung der Verhrsperson kann bei Vorliegen der Voraussetzungen durch die Verlesung nach 253 Abs. 2 StPO ersetzt werden. Gegenstand einer Beweisaufnahme kann in solchen Fllen aber nur sein, ob der Zeuge im Ermittlungsverfahren anders ausgesagt hat als in der Hauptverhandlung, was gegebenenfalls durch die Verlesung des Protokolls bewiesen wird.
- 2.
Die Vorschrift des 129 Abs. 6 StGB setzt voraus, dass der Tter freiwillige und ernsthafte Bemhungen entfaltet, die darauf gerichtet sind, das Fortbestehen der Vereinigung zu verhindern. Aus Wortlaut und Sinn der Vorschrift folgt dabei zum einen, dass vor Beginn der Bemhungen die Vereinigung als solche noch bestanden hat, also ihre Zwecke oder Ttigkeiten nach wie vor darauf gerichtet waren, Straftaten im Sinne der 129, 129 a StGB zu begehen. Zum anderen ist Voraussetzung, dass nach der Vorstellung des Tters ohne sein Eingreifen die Vereinigung fortbestehen wrde, er aber durch sein Bemhen das Fortbestehen verhindern will.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat
auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhrung des Beschwerdefhrers
am 20.April 2006
gem 349 Abs.2StPO
einstimmig beschlossen:
Tenor:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Kammergerichts Berlin vom 18.Mrz 2004 wird verworfen.
Der Beschwerdefhrer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Grnde
Die Nachprfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
Ergnzend zu den Ausfhrungen des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat:
1.
Die Rge, die Vorschriften ber die ffentlichkeit des Verfahrens seien verletzt worden, weil die Vorsitzende in der Sitzungsverfgung Personen unter 16 Jahren den Zutritt versagt habe, ist unbegrndet. Ist - wie hier - die Sicherheit im Gerichtsgebude nicht ohne weiteres gewhrleistet, drfen im Rahmen einer Sicherheitsverfgung Manahmen, die den Zugang zu einer Gerichtsverhandlung regeln, getroffen werden, wenn fr sie ein verstndlicher Anlass besteht, wobei die Entscheidung hierber im pflichtgemen Ermessen des die Sitzungspolizei ausbenden Vorsitzenden steht (BGHSt 27, 13ff.).
Es ist aus Rechtsgrnden nicht zu beanstanden, dass die Vorsitzende in Ziffer 2 dieser Verfgung Personen, die jnger als 16 Jahre sind, den Zugang generell versagt hat. Nach 175 Abs.1GVG war sie befugt, unerwachsene Personen von der Teilnahme an der Hauptverhandlung auszuschlieen. Dass sie diese Befugnis im Rahmen einer Sicherheitsverfgung pauschal in der Weise ausgebt hat, dass damit junge Menschen, die mehr als zwei Jahre unter der Volljhrigkeitsgrenze sind, allgemein erfasst wurden, zeigt keinen Rechtsfehler auf. In Anbetracht der erforderlichen umfangreichen und personalintensiven Eingangskontrollen, die Wachtmeistern und Polizeikrften bertragen werden mussten, kann jedenfalls fr diese Altersgruppe, bei der eine hohe Wahrscheinlichkeit fr das Fehlen der Erwachsenenreife spricht, eine individuelle Prfung dieser Reife durch das Gericht nicht gefordert werden. Die Entscheidung des Reichsgerichts in RGSt 47, 375f. steht dem nicht entgegen, da ihr keine vergleichbare Situation, die eine Sicherheitsverfgung erforderlich machte, zugrunde lag. Im brigen betraf sie 17-jhrige Zuschauer und hatte fr diese das Erfordernis einer individuellen Prfung mit spezifischen Argumenten fr diese Altersgruppe begrndet (Heiratsfhigkeit, Zulassung zum Militrdienst).
2.
Die Rge, das Kammergericht habe Aussetzungsantrge bis zur Herausgabe der vollstndigen Gesprchsprotokolle des Bundesamtes fr Verfassungsschutz mit dem Zeugen M. zu Unrecht abgelehnt, ist unbegrndet. Das Tatgericht war weder unter dem Gesichtspunkt der gerichtlichen Sachaufklrungspflicht (244 Abs.2StPO), der Rcksichtnahme auf die Belange der Verteidigung (338 Nr.8StPO), noch des fairen Verfahrens (Art.6MRK) verpflichtet, den Aussetzungsantrgen zu entsprechen; eine vernderte Sachlage im Sinne des 265 Abs.4StPO war - entgegen der Auffassung der Revision -ohnehin nicht gegeben. Das Kammergericht hat in seinen Beschlssen unter Orientierung an den von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelten Grundstzen die wesentlichen Belange - Wahrheitsermittlung einerseits, Verfahrensbeschleunigung andererseits - erkannt und unter Bercksichtigung der konkreten Umstnde des Falles gegeneinander abgewogen (BGH NStZ 1985, 466ff.). Es hat dabei bercksichtigt, dass zwar bereits eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung auf Aufhebung der Sperrerklrung in erster Instanz vorgelegen hat, diese aber nicht rechtskrftig war und dass ihr im brigen nicht die Verpflichtung zur Herausgabe der ungeschwrzten Protokolle entnommen werden konnte. Angesichts einer Sachlage, die wesentlich dadurch gekennzeichnet ist, dass es nicht um die vllige Sperrung eines Zeugen als Beweisperson - wie sonst hufig im Zusammenhang mit Entscheidungen nach 96StPO - geht, sondern dass hier der Zeuge M. persnlich fr eine auergewhnlich lange Befragung im Ermittlungsverfahren und ebenso im spteren Hauptverfahren zur Verfgung gestanden hat, durfte das Kammergericht den geschwrzten Passagen eine allenfalls geringe potentielle Beweisbedeutung beimessen. Denn die Befragung des Zeugen durch den Verfassungsschutz hat erst nach Abschluss eines wesentlichen Teils der Vernehmungen im Ermittlungsverfahren stattgefunden. Damit konnten aber die Aussageentwicklung zwischen Ermittlungsverfahren und der Hauptverhandlung nachverfolgt und etwaige Abweichungen - wie geschehen - nher beleuchtet werden. Unter diesen Umstnden lag kein Sachverhalt vor, aufgrund dessen sich das Gericht zur weiteren Aufklrung gedrngt sehen musste. Damit war eine Aussetzung nicht nur nicht geboten, sie htte vielmehr dem Gebot der rechtsstaatlich geforderten Beschleunigung des Strafverfahrens widersprochen (BVerfGE 63, 45, 68f.).
3.
Das Kammergericht hat den "Hilfsbeweisantrag" auf Verlesung smtlicher 42 Protokolle ber die Vernehmung des Zeugen M. durch die Ermittlungsbehrden im Ergebnis zu Recht zurckgewiesen. Allerdings htte dieser Antrag, wenn er als Beweisantrag zu qualifizieren wre, nicht nach 244 Abs.3 Satz1 i. V. m. 250StPO abgelehnt werden drfen, da 250StPO nur eine ersetzende, nicht aber eine ergnzende Verlesung von Vernehmungsprotokollen verbietet. Tatschlich handelt es sich jedoch nicht um einen Beweisantrag, da es an der Angabe bestimmter Beweistatsachen fehlt. Darunter sind konkrete, im Einzelnen bezeichnete Sachverhalte zu verstehen, die der Wahrnehmung unterliegen (vgl. Herdegen in KK 5. Aufl. 244 Rdn. 45). Solche Sachverhalte sind nicht benannt. Vielmehr verfolgt der Antrag das erklrte Ziel, zu nher benannten Bewertungen der Qualitt der Angaben des Zeugen zu gelangen. Dies wird in der Revisionsbegrndung dahin zusammengefasst, dass damit zum einen die Widersprchlichkeit der Angaben und zum anderen die Rolle des Zeugen als Ermittlungsgehilfe bewiesen werden sollte. Zu Recht hat sich das Tatgericht auch unter dem Gesichtspunkt der Aufklrungspflicht nicht zur Verlesung der Protokolle verpflichtet gesehen.
4.
Mit der auf 253 Abs.2StPO gesttzten Rge, das Kammergericht habe es zu Unrecht abgelehnt, bestimmte Passagen der Protokolle ber die Vernehmung des Zeugen M. im Ermittlungsverfahren zum Beweis von Widersprchen zu verlesen, macht die Revision in der Sache eine Verletzung der Aufklrungspflicht (244 Abs.2StPO) oder eine rechtsfehlerhafte Zurckweisung eines Beweisantrags (244 Abs.3StPO) geltend; ein Versto gegen 253 Abs.2StPO kommt nur in Betracht, wenn Protokolle verlesen worden sind (was hier gerade nicht geschehen ist), obwohl die Voraussetzungen der Vorschrift nicht vorliegen.
Die Rge ist unbegrndet. Die Verlesung von Protokollen in Anwendung von 253 Abs.2StPO - wie sie die Revision hier fr geboten erachtet - ist nur zulssig, wenn ein Zeuge bestreitet, so wie protokolliert, ausgesagt zu haben. Die dann an sich gebotene Vernehmung der Verhrsperson kann bei Vorliegen der Voraussetzungen durch die Verlesung nach 253 Abs.2StPO ersetzt werden (BGH NStZ 2002, 46f.).
Gegenstand einer Beweisaufnahme kann in solchen Fllen aber nur sein, ob der Zeuge im Ermittlungsverfahren anders ausgesagt hat als in der Hauptverhandlung, was gegebenenfalls durch die Verlesung des Protokolls bewiesen wird. Rumt der Zeuge indes - etwa nach Vorhalt - ein, so wie protokolliert ausgesagt zu haben, ist diese Tatsache bewiesen und bedarf keines weiteren Beweises mehr. So liegt es hier. Der Zeuge M. hat erklrt, dass alle von ihm unterzeichneten Protokolle richtig gefasst sind. Damit war eine weitere Beweisaufnahme nicht mehr geboten. Dagegen kann die Frage, ob zwischen der zutreffend protokollierten Aussage des Zeugen im Ermittlungsverfahren und der in der Hauptverhandlung tatschlich ein Widerspruch besteht, nicht durch eine Tatsachenfeststellung im Wege der Beweisaufnahme, sondern nur durch die beweiswrdigende Bewertung beider Aussagen geklrt werden.
5.
Auch mit der sachlichrechtlichen Beanstandung, die Voraussetzungen einer ttigen Reue nach 129 a Abs.7 i. V. m. 129 Abs.6StGB seien zu Unrecht verneint worden, kann die Revision keinen Erfolg haben. Nach den zum Ende der Vereinigung getroffenen Feststellungen hat der Angeklagte B. zusammen mit jedenfalls den weiteren Mitgliedern H. und G. der terroristischen Vereinigung bis zumindest Mrz 1995 angehrt. Zu welchem Zeitpunkt danach und unter welchen Umstnden die Vereinigung beendigt worden ist, konnte dagegen nicht festgestellt werden. Ebenso wenig konnte geklrt werden, ob - und gegebenenfalls unter welchen Umstnden - der Angeklagte B. schon vorher ausgeschieden war.
a)
Auf der Grundlage dieser Feststellungen hat das Kammergericht die Voraussetzungen einer ttigen Reue ohne Rechtsfehler verneint. Die Vorschrift des 129 Abs.6StGB setzt insoweit voraus, dass der Tter freiwillige und ernsthafte Bemhungen entfaltet, die darauf gerichtet sind, das Fortbestehen der Vereinigung zu verhindern. Aus Wortlaut und Sinn der Vorschrift folgt dabei zum einen, dass vor Beginn der Bemhungen die Vereinigung als solche noch bestanden hat, also ihre Zwecke oder Ttigkeiten nach wie vor darauf gerichtet waren, Straftaten im Sinne der 129, 129a StGB zu begehen; zum anderen ist Voraussetzung, dass nach der Vorstellung des Tters ohne sein Eingreifen die Vereinigung fortbestehen wrde, er aber durch sein Bemhen das Fortbestehen verhindern will.
b)
Eine solche Ttigkeit hat das Kammergericht bei keinem der Angeklagten feststellen knnen, es musste sie auch nicht nach dem Zweifelssatz zu ihren Gunsten unterstellen. Fr entlastende Angaben eines Angeklagten gilt der Grundsatz, dass der Tatrichter sich eine berzeugung von deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit aufgrund des gesamten Ergebnisses der Beweisaufnahme zu bilden hat. Er darf solche Angaben, fr deren Richtigkeit keine zureichenden Anhaltspunkte bestehen und deren Wahrheitsgehalt fraglich ist, nicht ohne weiteres als unwiderlegt hinnehmen und seiner Entscheidung zugrunde legen, nur weil es fr das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt (vgl. BGHSt 34, 29, 34; BGHR StPO 261 Einlassung 6 und berzeugungsbildung 29; BGH NStZ 2002, 48). Fr die bloe Unterstellung entlastender Sachverhaltsgestaltungen bei schweigenden Angeklagten gilt dies erst recht.
Ausreichende Anhaltspunkte dafr, dass entsprechende Verhinderungsbemhungen eines oder mehrerer der Beteiligten stattgefunden hatten, ergeben sich entgegen der Auffassung der Revision nicht allein daraus, dass die Vereinigung ihre Ttigkeit - irgendwann nach dem Mrz 1995 - eingestellt hat. Denn es sind mehrere Sachverhaltsgestaltungen denkbar und sogar nahe liegend, die zu einer Beendigung auf andere Weise gefhrt haben: Mglich erscheint es etwa, dass eines oder mehrere der verbliebenen Mitglieder ihre Mitarbeit einseitig aufgegeben haben, weil sie - wie zuvor die frheren Mitglieder S. und E. - ein Weitermachen fr sinnlos erachtet haben oder wie M. aus sonstigen Grnden ausgeschieden sind, ohne dass sie sich bemht haben, das Fortbestehen der Vereinigung zu verhindern. Auch knnte zwischen den Restmitgliedern ein unberbrckbarer Streit ber die weitere Strategie entstanden sein, der zur Beendigung der Vereinigung gefhrt hat.
c)
Schlielich hat das Kammergericht die Voraussetzungen einer ttigen Reue zutreffend auch fr den Fall verneint, dass die verbliebenen Mitglieder einvernehmlich zum Ergebnis gekommen sind, dass sich ihre Ziele nicht erreichen lassen und ein Weitermachen somit sinnlos geworden ist. Ein solches Scheitern steht der Annahme von Freiwilligkeit entgegen; es kann auch nicht davon die Rede sein, dass ein sonst zu erwartendes Fortbestehen verhindert worden wre. Insoweit liegen die Umstnde anders als in dem von der Verteidigung herangezogenen Fall des "Autonomen Zusammenschlusz Magdeburg (AZ-MD)", bei dem ein Teil der Mitglieder einen Auflsungsbeschluss initiiert und dabei erwartet hatte, dass die Mitglieder, die an sich weitermachen wollten, das Ergebnis eines solchen Beschlusses akzeptieren wrden (vgl. OLG Naumburg, Urt. vom 21.Oktober 2003 - 2StE 8/03-2(1/03)).
Winkler
Pfister
von Lienen
Hubert