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Bundesgerichtshof
Urt. v. 11.11.1997, Az.: VI ZR 146/96

Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld und Ersatz eines unfallbedingten Verdienstausfalls weiterer Unfallschäden; Ablehnung eines Antrag der Klägerin auf Einholung eines neurologischen Gutachtens durch das Berufungsgericht; Fehlende Unterscheidung zwischen Ursachenzusammenhang und Zurechenbarkeit; Zur haftungsrechtlichen Zurechenbarkeit psychischer Folgeschäden; Besondere Anfälligkeit für eine Krankheit aufgrund körperlicher Anomalien oder Dispositionen; Kein Vorliegen einer Rentenneurose oder Begehrensneurose

Bibliographie

Gericht
BGH
Datum
11.11.1997
Aktenzeichen
VI ZR 146/96
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1997, 15008
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
OLG Karlsruhe - 28.03.1996
LG Konstanz

Fundstellen

  • DAR 1998, 66-67 (Volltext mit amtl. LS)
  • MDR 1998, 159 (Volltext mit amtl. LS)
  • NJW 1998, 813-814 (Volltext mit amtl. LS)
  • NZV 1998, 110-111 (Volltext mit amtl. LS)
  • VersR 1998, 200-201 (Volltext mit amtl. LS)
  • zfs 1998, 92-93 (Volltext)

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat
auf die mündliche Verhandlung vom 11. November 1997
durch den Vorsitzenden Richter Groß und
die Richter Dr. Lepa, Dr. Müller, Dr. Dressler und Dr. Greiner
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 9. Zivilsenats in Freiburg des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 28. März 1996 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Am 13. Dezember 1988 fuhr der Erstbeklagte mit seinem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten PKW den mit einer Geschwindigkeit von etwa 30 km/h fahrenden PKW der Klägerin hinten links an. Die äußeren Schäden am Fahrzeug der Klägerin waren gering. Es ist außer Streit, daß der Erstbeklagte den Unfall schuldhaft verursacht hat. Die Zweitbeklagte hat die Reparaturkosten am Fahrzeug der Klägerin, die Sachverständigenkosten, die Nutzungsausfallentschädigung und eine Unkostenpauschale an die Klägerin gezahlt. Außerdem hat die Zweitbeklagte an die Klägerin für erlittenen Personenschaden 2.500,00 DM gezahlt.

2

Die Klägerin hat geltend gemacht, sie habe bei dem Unfall eine schwere HWS-Distorsion davongetragen, die zu einer traumatisch konditionierten Phobie geführt habe. Sie leide fortdauernd an starken Beschwerden im gesamten Wirbelsäulenbereich, an Niedergeschlagenheit sowie an permanenten Kreislaufbeschwerden bis hin zu Lähmungserscheinungen. Wegen dieser Beschwerden könne sie ihren Beruf als Erzieherin nicht mehr ausüben; sie sei arbeitsunfähig und bedürfe bei der Haushaltsführung ständiger Unterstützung. Mit der vorliegenden Klage erstrebt sie die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Schmerzensgeld und zum Ersatz ihres unfallbedingten Verdienstausfalls; außerdem begehrt sie die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz weiterer Unfallschäden.

3

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist ohne Erfolg geblieben.

4

Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe

5

I.

Das Berufungsgericht geht mit dem Landgericht auf dem Boden der eingeholten Sachverständigengutachten davon aus, daß die Klägerin bei dem Unfall ein HWS-Trauma und möglicherweise eine commotio cerebri erlitten hat. Die Schmerzzustände und psychischen Veränderungen, aus denen die Klägerin die Klageansprüche herleite, hätten indes keine unmittelbare körperliche Ursache. Sie seien vielmehr die Folge einer neurotischen Fehlentwicklung, die durch den Unfall ausgelöst worden sei. Damit seien diese Beeinträchtigungen nicht im Rechtssinne durch den Unfall verursacht. Der Unfall sei vielmehr lediglich der Anlaß im Sinne einer Zufallsursache zur Entwicklung dieser Störungen gewesen; sie hätten ebenso aus irgendeinem anderen Anlaß entstehen können. Zur Entscheidung dieses Rechtsstreits böten die eingeholten Sachverständigengutachten eine ausreichende Grundlage; es bedürfe hierzu weder eines neurologischen noch eines neurootologischen Gutachtens.

6

II.

Diese Erwägungen halten den Angriffen der Revision nicht stand.

7

1.

Allerdings greift die Verfahrensrüge der Revision nicht durch. Die Revision erblickt eine Verletzung der §§ 286, 412 ZPO darin, daß es das Berufungsgericht abgelehnt hat, dem Antrag der Klägerin auf Einholung eines neurootologischen Gutachtens zu folgen. Das Berufungsgericht konnte indes das neurologische und psychiatrische Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. F. und Dr. St. verfahrensfehlerfrei als ausreichend ansehen. Diese Sachverständigen haben sich in ihrem Ergänzungsgutachten vom 1. Juni 1994 mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Erstattung eines neurootologischen Gutachtens weitere Erkenntnisse erwarten lasse. Sie haben dies unter Hinweis auf ihre vorherigen Ausführungen mit der Begründung verneint, die von der Klägerin vorgebrachten Beschwerden lägen nicht auf dem neurootologischen Fachgebiet und seien nicht durch Krankheitsbilder aus diesem Bereich zu erklären. Es ist auch aus den Ausführungen der Revision nicht erkennbar, daß die fachliche Kompetenz der beiden Sachverständigen zweifelhaft wäre oder einer der übrigen Gründe vorläge, die den Tatrichter zur Einholung eines weiteren Gutachtens veranlassen müssen (vgl. BGHZ 53, 245, 259).

8

2.

Die Revision wendet sich hingegen mit Recht gegen die Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht die Einstandspflicht der Beklagten für die gesundheitlichen Belastungen verneint hat, auf die die Klägerin die Klageansprüche stützt.

9

a)

Das Berufungsurteil läßt, wie die Revision zutreffend darlegt, die gebotene Unterscheidung zwischen Ursachenzusammenhang und Zurechenbarkeit nicht deutlich werden. Das Berufungsgericht führt aus, daß die Beeinträchtigungen, für die die Klägerin Ersatz begehrt, nicht durch den vom Erstbeklagten verschuldeten Unfall im Rechtssinne verursacht worden seien. Zugleich heißt es im Berufungsurteil aber auch, daß der Unfall (lediglich) Anlaß oder Zufallsursache für die Entwicklung der Störungen gewesen sei, auf die die Klägerin ihre Klageansprüche stützt. In den Entscheidungsgründen des landgerichtlichen Urteils, denen das Berufungsgericht beitritt, wird dargelegt, daß die bei der Klägerin eingetretene neurotische Entwicklung im Unfallgeschehen ihren Ursprung hat. Danach ist der Unfall der "Auslöser" für die psychischen Reaktionen der Klägerin. Dies bedeutet aber, daß er damit deren Ursache im haftungsrechtlichen Sinn ist (vgl. Senat BGHZ 132, 341, 347, 349).

10

b)

Die Erwägungen des Berufungsgerichts, das von einer Verursachung "im Rechtssinne" spricht, dürften indes dahin zu verstehen sein, daß es nicht die (logisch und naturwissenschaftlich verstandene) Ursächlichkeit des Unfalls für die jetzigen gesundheitlichen Belastungen der Klägerin, sondern die rechtliche Zurechenbarkeit der Schadensfolgen verneinen will. Auch unter diesem Gesichtspunkt scheitern die Klageansprüche aber nicht.

11

aa)

Grundsätzlich haftet der Schädiger für alle gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die der Geschädigte durch die Schädigungshandlung davonträgt. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um organisch oder psychisch bedingte Folgewirkungen handelt. Die Zurechnung solcher Schäden scheitert auch nicht daran, daß sie auf einer konstitutiven Schwäche des Verletzten beruhen; es entspricht ständiger Rechtsprechung, daß sich der Schädiger nicht darauf berufen kann, daß der Schaden nur deshalb eingetreten ist oder ein besonderes Ausmaß erlangt hat, weil der Verletzte infolge von körperlichen Anomalien oder Dispositionen für die aufgetretene Krankheit besonders anfällig gewesen ist. Dies gilt grundsätzlich auch für psychische Schäden, die aus einer besonderen seelischen Labilität des Geschädigten erwachsen (vgl. Senat BGHZ 132, 341, 345 m.w.N.).

12

Indes hat die Rechtsprechung - Billigkeits- und Zumutbarkeitserwägungen folgend - einer solchen Schadenszurechnung für psychische Folgen stets Grenzen gezogen. Solche Ausgrenzungen aus dem Kreis zurechenbarer Schadensfolgen kommen jedoch nur für einen kleinen Sektor gesundheitlicher Belastungen des Geschädigten in Betracht. So hat der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß der Schädiger nicht für die Folgen einstehen muß, die dadurch entstehen, daß die Schädigungshandlung zu einer Renten- und Begehrensneurose führt. Diese Ausgrenzung betrifft die Fälle, in denen der Geschädigte den Schadensfall in dem neurotischen Streben nach Versorgung und Sicherung lediglich zum Anlaß nimmt, den Schwierigkeiten und Belastungen des Erwerbslebens auszuweichen (vgl. Senat BGHZ 132, 341, 346 m.w.N.). Eine weitere Eingrenzung der Schadenszurechnung kommt dann in Betracht, wenn das schädigende Ereignis ganz geringfügig ist (Bagatelle) und nicht gerade eine etwa vorhandene spezielle Schadensanlage des Verletzten trifft, wenn also die psychische Reaktion des Verletzten im konkreten Fall wegen ihres groben Mißverhältnisses zum Anlaß schlechterdings nicht mehr verständlich ist (vgl. Senat, BGHZ 132, 341, 346 m.w.N.; Senatsurteile vom 25. Februar 1997 - VI ZR 101/96 - VersR 1997, 752, 753 und vom 4. März 1997 - VI ZR 243/95 - VersR 1997, 751).

13

bb)

Nach den Feststellungen der Vorinstanzen geht es hier nicht um einen Fall einer Renten- oder Begehrensneurose. Die Feststellungen erlauben aber auch nicht die Wertung, daß die psychische Reaktion der Klägerin auf das Unfallereignis wegen ihres groben Mißverhältnisses zum Anlaß schlechterdings nicht mehr verständlich ist. Die Klägerin hat durch den Unfall eine HWS-Distorsion und möglicherweise eine reversible Hirnfunktionsstörung erlitten. Diese Verletzungen können nicht als ganz geringfügige Beeinträchtigungen im Sinne einer Bagatelle (vgl. hierzu Senatsurteil vom 11. November 1997 - VI ZR 376/96 - zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt) gewichtet werden. Erst recht lassen die Feststellungen der Vorinstanzen nicht den Schluß zu, daß die psychische Reaktion der Klägerin zu den erlittenen Verletzungen in einem groben Mißverhältnis steht und deshalb nicht mehr verständlich ist. Dies bedeutet, daß die Voraussetzungen für eine Ausgrenzung der Beeinträchtigungen der Klägerin aus dem Kreis zurechenbarer Schadensfolgen nicht vorliegen.

14

III.

Da das Berufungsgericht - aus seiner Sicht folgerichtig - zu den von der Klägerin geltend gemachten Ansprüchen keine weiteren Feststellungen getroffen hat, war das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Groß
Dr. Lepa
Dr. Müller
Dr. Dressler
Dr. Greiner