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Bundesgerichtshof
Urt. v. 18.06.1996, Az.: VI ZR 325/95

Anspruch auf Schmerzensgeld wegen eines Kunstfehlers; Zulässigkeit einer Berufung; Zubilligung einer "Schmerzensgeldrente"

Bibliographie

Gericht
BGH
Datum
18.06.1996
Aktenzeichen
VI ZR 325/95
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1996, 16052
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
OLG Schleswig - 04.10.1995

Fundstellen

  • MDR 1997, 94 (Volltext mit amtl. LS)
  • NJW-RR 1996, 1210-1211 (Volltext mit red. LS)

Prozessführer

Anneliese G., A., F.

Prozessgegner

Dr. Joachim S., K. 14, K.

Amtlicher Leitsatz

Prozeßerklärungen sind so auszulegen, daß im Zweifel dasjenige gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht.

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat
auf die mündliche Verhandlung vom 18. Juni 1996
durch
den Vorsitzenden Richter Groß und
die Richter Dr. Lepa, Bischoff, Dr. v. Gerlach und Dr. Greiner
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 4. Zivilsenats des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig vom 4. Oktober 1995 aufgehoben.

  2. 2.

    Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die 1942 geborene Klägerin begehrt vom Beklagten, einem niedergelassenen Orthopäden, Ausgleich für eine behauptete Fehlbehandlung. Die Klägerin hatte sich beim Aussteigen aus dem Kraftfahrzeug ihres Ehemannes das linke Knie "verrenkt". Der Beklagte empfahl eine Entfernung des Meniskus links und führte diese am 5. Oktober 1989 aus. Die Klägerin wirft dem Beklagten Behandlungsfehler sowohl im Eingriff wie in der Nachbehandlung vor und behauptet, sie sei weder über die Risiken des Eingriffs noch über die unterschiedlichen Techniken des Eingriffs aufgeklärt worden.

2

In der Klagschrift hat die Klägerin dargelegt, sie könne nicht mehr arbeiten, den Haushalt nicht mehr versorgen und auch mit einer Gehhilfe nur noch kurze Strecken gehen. Das rechtfertige für die immateriellen Beeinträchtigungen und den Verlust der Lebensfreude ein Schmerzensgeld in einer Größenordnung von mindestens 100.000,00 DM. Darüber hinaus sei eine Dauerrente in Höhe von mindestens 1.300,00 DM monatlich zu zahlen. Die Rente sei der materielle Ausgleich für den Verlust der Arbeitskraft im Zwei-Personen-Haushalt der Klägerin und ihres Ehemannes, in dem Arbeit von 20 Stunden/Woche à 15,00 DM anfalle. Die Rente sei auf Lebenszeit der Klägerin zu zahlen, weil sie den Haushalt noch bis ins hohe Alter geführt haben würde. Aus Kostengründen hat die Klägerin "zunächst lediglich einen Teilbetrag hinsichtlich des Rentenanspruchs geltend" gemacht und den eingeklagten Teil auf den letztrangigen Teilbetrag der Rente, hilfsweise auf den jeweils vorrangigen Rentenanspruch gestützt.

3

Das Landgericht hat nach Einholung eines schriftlichen Gutachtens, das der Sachverständige im Termin zur mündlichen Verhandlung des Rechtsstreits mündlich erläutert hat, und nach Anhörung der Klägerin die Klage abgewiesen, weil die Klägerin Behandlungsfehler nicht bewiesen und nicht plausibel gemacht habe, daß sie bei ordnungsgemäßer Aufklärung in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre.

4

Mit ihrer Berufung hat die Klägerin zunächst ausgeführt, sie habe im ersten Rechtszug eine monatliche Schmerzensgeldrente von 500,00 DM verlangt, sich zur Begründung pauschal auf ihren gesamten Vortrag im ersten Rechtszug einschließlich der Beweisangebote berufen und die Ausführungen des Landgerichts zum Behandlungsfehler und zur Aufklärungspflichtverletzung im einzelnen angegriffen. Unter der Überschrift "Höhe des Schmerzensgeldes" hat die Klägerin auf die Schilderung ihrer Beschwerden im ersten Rechtszug verwiesen und die hieraus folgenden Beeinträchtigungen näher dargelegt. In ihrer Haushaltsführung sei sie "naturgemäß entsprechend eingeschränkt".

5

Sie hat beantragt,

das angefochtene Urteil zu ändern und gemäß dem erstinstanzlichen Klageantrag zu befinden mit einer Maßgabe hinsichtlich der Zinsforderung

6

In der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht hat sie ausgeführt, mit dem Antrag solle primär der Haushaltsführungsschaden wie im ersten Rechtszug und hilfsweise Schmerzensgeld geltend gemacht werden.

7

Das Berufungsgericht hat die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr ursprüngliches Klageziel weiter.

Entscheidungsgründe

8

I.

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im wesentlichen ausgeführt, die Berufung sei unzulässig, weil die Klägerin mit der Berufungsbegründung nicht die Beseitigung der Beschwer des Urteils erstrebe. Versagt worden sei eine Rente gemäß § 843 BGB dafür, daß die Klägerin den ehelichen Haushalt nicht mehr führen könne. Die Klägerin verlange mit der Berufung aber ein Schmerzensgeld, das im ersten Rechtszug nicht selbständig geltend gemacht worden sei. Eine ausreichende Klarstellung, in welchen Punkten und mit welchen Gründen das Urteil des Landgerichts angegriffen werde, sei erst in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht dahin erfolgt, daß die Klägerin auch den behaupteten materiellen Ersatzanspruch weiter verfolge. Es genüge aber nicht, daß eine Beschwer vorhanden sei; mit dem Rechtsmittel müsse die Beseitigung dieser Beschwer erstrebt werden. Dazu sei die pauschale Bezugnahme auf Vortrag erster Instanz nicht ausreichend, weil mit der Berufungsbegründung der Streitgegenstand ausgewechselt worden sei. Das durch Berufungsantrag und Berufungsbegründung ausdrücklich erklärte Ziel könne durch eine pauschale Bezugnahme nicht mehr umgekehrt werden. Hiernach sei die Berufung nicht innerhalb der Berufungsfrist begründet worden und deshalb unzulässig.

9

Das hält den Angriffen der Revision nicht in jeder Hinsicht stand.

10

II.

1.

Im Ansatzpunkt ohne Rechtsfehler geht das Berufungsgericht davon aus, daß eine Berufung unzulässig ist, wenn mit ihr nicht zumindest teilweise die Beseitigung einer in dem angefochtenen Urteil liegenden Beschwer, sondern ausschließlich ein neuer, bisher noch nicht geltend gemachter Anspruch verfolgt wird (vgl. zuletzt BGH, Urteil vom 14. Februar 1996 - VIII ZR 68/95 - unter II. 2. a) - zur Veröffentlichung vorgesehen; Beschluß vom 9. November 1995 - IX ZB 65/95, WM 1996, 420, 421; Senatsbeschluß vom 12. Juli 1994 - VI ZB 43/93, VersR 1994, 1446 unter 1; Urteil vom 8. Juni 1994 - VIII ZR 178/93, NJW 1994, 2896, 2897 unter 2.a)). Daher kann zwar bei einer im übrigen zulässigen Berufung auch ein bisher nicht gestellter Antrag im Wege der Klageänderung gemäß § 263 ZPO in das Berufungsverfahren eingeführt werden. Voraussetzung dafür ist aber, daß der Kläger mit der geänderten Klage zumindest teilweise die ursprüngliche Beschwer angreift.

11

2.

Das Berufungsgericht hat jedoch rechtsfehlerhaft verkannt, daß die Klägerin vorliegend mit der Berufung gerade die in dem erstinstanzlichen Urteil liegende Beschwer angegriffen hat. Die Klägerin wollte ersichtlich ihr erstinstanzliches Begehren weiterverfolgen.

12

Der Vortrag der Klägerin in der Berufungsbegründung war nicht eindeutig, sondern auslegungsbedürftig und auslegungsfähig. Die Klägerin hatte den erstinstanzlichen Klagantrag ausdrücklich wiederholt und zum Gegenstand ihres Berufungsbegehrens gemacht. Nach fälschlicher Schilderung der Prozeßgeschichte dahin, die Klägerin habe den Beklagten auf eine Schmerzensgeldrente in Anspruch genommen, nimmt die Berufungsbegründung auf die Darstellung der durch den Eingriff angeblich verursachten Beschwerden der Klägerin im ersten Rechtszug pauschal Bezug, weist auf fortdauernde Schmerzen und Gehbeschränkungen hin und endet damit, die Klägerin sei "in ihrer Haushaltsführung""naturgemäß entsprechend eingeschränkt". Das Berufungsgericht hat darin die Geltendmachung eines selbständigen Anspruchs gesehen, der erstinstanzlich nicht neben dem Anspruch auf Ersatz des Vermögens Schadens geltend gemacht worden sei. Diese Auslegung bindet den Senat nicht. Das Revisionsgericht kann Prozeßerklärungen vielmehr in freier Würdigung selbst auslegen (vgl. BGHZ 115, 286, 290 [BGH 09.10.1991 - VIII ZR 88/90]; BGH, Urteil vom 28. Februar 1996 - VIII ZR 241/94 - ZIP 1996, 711 ff. = WM 1996, 1007 ff. - unter III 1. a); vom 13. Dezember 1995 - XII ZR 194/93, NJW 1996, 838, 839 unter II. 1.b).bb); vom 25. Oktober 1995 - VIII ZR 42/94, NJW 1996, 250, 252 unter B II. 1. b)). Die Auslegung durch den Senat ergibt, daß mit der Berufungsbegründung die Abweisung des geltend gemachten Anspruchs der Klägerin auf Ersatz ihres Haushaltsführungsschadens angegriffen wurde. Das Berufungsgericht, das die Prozeßerklärung der Klägerin so versteht, daß die Berufung unzulässig wäre, verstößt gegen den Auslegungsgrundsatz, wonach im Zweifel dasjenige gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht (vgl. BGH, Beschluß vom 9. Februar 1993 - XI ZB 2/93 - VersR 1994, 193; Urteil vom 9. Oktober 1991 - VIII ZR 88/90 - ZIP 1992, 477, 478 unter II. 1. b)aa)). Das Berufungsgericht berücksichtigt in diesem Zusammenhang zu wenig, daß die Klägerin in der Berufungsbegründung auf ihren erst instanzlichen Antrag abgehoben hat und - wenn auch in einem mit "Höhe des Schmerzensgeldes"überschriebenen Absatz - ausgeführt hat, die Klägerin sei in ihrer Haushaltsführung entsprechend (den zuvor geklagten Beschwerden) eingeschränkt. Diese Umstände wiesen den Leser der Berufungsbegründung darauf hin, daß die Klägerin gegen die Abweisung ihres im ersten Rechtszug geltend gemachten Begehrens vorgehen, nicht aber an dessen Stelle ein neues Begehren setzen wollte. In die gleiche Richtung deutet auch die irrtümliche Darstellung des erstinstanzlichen Begehrens der Klägerin als eines Schmerzensgeldbegehrens. Im übrigen hätte die Klägerin klar zu erkennen geben müssen, wenn sie von dem ursprünglichen Streitgegenstand hätte abweichen wollen (vgl. BGH, Urteil vom 25. September 1986 - II ZR 31/86 - NJW-RR 1987, 124, 125 unter 2.a)). Das war nicht der Fall. Auch das Berufungsgericht hat den Vortrag der Klägerin zu ihrem Begehren im ersten Rechtszug als "irrtümlich" erkannt. Unter diesen Umständen aber war auch bei der Würdigung der Berufungsbegründung nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften, sondern der wirkliche Wille der Partei zu berücksichtigen und ein offensichtlicher Irrtum zu "berichtigen" (vgl. BGH, Beschluß vom 11. November 1993 - VII ZB 24/93 - NJW-RR 1994, 568 unter II. 1.a)). Mithin hat die Klägerin hinreichend deutlich mit ihrer Berufung ihr ursprüngliches Klageziel auf Zahlung einer Rente als Ersatz ihres Haushaltsführungsschadens weiter verfolgt.

Groß
Dr. Lepa
Bischoff
Dr. v. Gerlach
Dr. Greiner