Suche

Nutzen Sie die Schnellsuche, um nach den neuesten Urteilen in unserer Datenbank zu suchen!

Bundesgerichtshof
Urt. v. 05.12.1995, Az.: 1 StR 580/95

Beweiswürdigung; Aussage gegen Aussage; Beweismöglichkeiten; Aufklärungspflicht

Bibliographie

Gericht
BGH
Datum
05.12.1995
Aktenzeichen
1 StR 580/95
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1995, 12315
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Fundstelle

  • StV 1996, 249

Amtlicher Leitsatz

Je weniger gesichert ein Beweisergebnis erscheint, je gewichtiger die Unsicherheitsfaktoren sind, je mehr Widersprüche bei der Beweiserhebung zutage getreten sind, desto größer ist der Anlaß für das Gericht, trotz der erlangten Überzeugung weitere erkennbare Beweismöglichkeiten zu benutzen. Dies gilt in besonderem Maße in Fällen von Aussage gegen Aussage. Die Anforderungen, die an die Beweiswürdigung in derartigen Fällen zu stellen sind, gelten in vergleichbarer Weise auch für die Anforderungen, die in derartigen Fällen an den Umfang der Aufklärungspflicht zu stellen sind.

Gründe

1

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in sieben Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit sexueller Nötigung, sämtlich begangen zum Nachteil seiner am 1. Oktober 1980 geborenen Stieftochter Sch., zu Freiheitsstrafe verurteilt.

2

Die Revision des Angeklagten hat mit einer Aufklärungsrüge Erfolg.

3

Die Verurteilung des die Taten bestreitenden Angeklagten stützt sich im wesentlichen auf die Aussagen der Geschädigten. Diese hat bekundet, daß es im Jahre 1991 dreimal zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten gekommen sei sowie zu vier weiteren Vorfällen im Sommer 1992.

4

Der Angeklagte habe die Geschädigte schon früher häufig verprügelt. Nach dem ersten sexuellen Vorfall habe sie "noch mehr Angst" vor dem Angeklagten gehabt.

5

Die Revision rügt mit Recht, daß die Strafkammer ihre Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) dadurch verletzt hat, daß sie nicht die Zeugin B. vernommen habe. Wie die Revision zutreffend vorträgt, befindet sich in den Akten ein Vermerk des ermittlungsführenden Kriminalbeamten, wonach Frau B. ihn (von sich aus) angerufen und ihm folgendes mitgeteilt habe: Während des Zeitraums, in dem es im Jahre 1992 zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten gekommen sein soll, sei die Mutter der Geschädigten - die Ehefrau des Angeklagten - im Krankenhaus gewesen. Sie, Frau B., habe der Geschädigten angeboten, während der Abwesenheit der Mutter, in ihrer (Frau B.'s) Wohnung zu schlafen. Dies habe die Geschädigte mit dem Bemerkungen abgelehnt, sie schlafe in ihrem eigenen Bett zu Hause, "sie hätte ja keine Angst vor M.".

6

Aufgrund dieses aktenkundigen Vorgangs hätte sich der Strafkammer die Vernehmung der Zeugin aufdrängen müssen:

7

Die Strafkammer stützt die Bewertung der Geschädigten als glaubwürdig nicht zuletzt auf ein Gutachten der Sachverständigen L.. Diese hatte in ihrem schriftlichen Gutachten noch ausgeführt, es bestünden "erhebliche Unsicherheiten bei der Glaubwürdigkeitsfrage, die sich vor allem aus einer Vielzahl von Widersprüchen ergeben, die nicht mit einem natürlichen Nachlassen der Erinnerungsfähigkeit zu erklären sind ... . Das Verhalten der Zeugin im Rahmen der Exploration entsprach nicht dem einer sich auf sichere Erinnerungen stützenden Zeugin."

8

Aufgrund des Aussageverhaltens der Geschädigten in der Hauptverhandlung änderte die Sachverständige ihre Auffassung und kam zu dem Ergebnis, daß die Geschädigte "konstant ihre Angaben gemacht" habe, die "keine Widersprüche zu den Angaben vor der Polizei aufwiesen"; daher bestünden keine Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Aussagen.

9

Angesichts dieser Beweislage gebot hier die Aufklärungspflicht die Vernehmung der Zeugin B.:

10

Ob die vom Gericht auf Grund der verwendeten Beweismittel gewonnene Überzeugung ausreicht oder ob zu ihrer Absicherung oder Überprüfung weitere Beweismittel heranzuziehen sind, ist auf der Grundlage von Verfahrensablauf und Beweislage des Einzelfalls zu beurteilen. Je weniger gesichert ein Beweisergebnis erscheint, je gewichtiger die Unsicherheitsfaktoren sind, je mehr Widersprüche bei der Beweiserhebung zu Tage getreten sind, desto größer ist der Anlaß für das Gericht, trotz der erlangten Überzeugung weitere erkennbare Beweismöglichkeiten zu benutzen (vgl. Gollwitzer in Löwe/Rosenberg StPO 24. Aufl. § 244 Rdn. 68). In besonderem Maße gilt dies dann, wenn - wie hier - Aussage gegen Aussage steht. Die Anforderungen, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs an die Beweiswürdigung in derartigen Fällen zu stellen sind (vgl. hierzu BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1; BGH StV 1990, 99;  1992, 556 f; BGH bei Kusch NStZ 1994, 228 m.w.Nachw.), gelten in vergleichbarer Weise auch für die Anforderungen, die in derartigen Fällen an den Umfang der Aufklärungspflicht zu stellen sind (vgl. BGH StV 1990, 99).

11

Angesichts der hohen Bedeutung, welche die Sachverständige trotz der zunächst von ihr selbst geäußerten Zweifel und ihr folgend die Strafkammer der Konstanz der Aussagen der Geschädigten vor der Polizei einerseits und in der Hauptverhandlung andererseits beimißt, kann der Senat nicht sicher ausschließen, daß die Glaubwürdigkeit der Geschädigten anders beurteilt worden wäre, wenn - was angesichts des genannten Aktenvermerks nahelag - die Zeugin B. bekundet hätte, daß die Angaben der Geschädigten zu ihrer großen Angst vor dem Angeklagten im Widerspruch zu Angaben stehen, die sie ausdrücklich und unaufgefordert während des Tatzeitraums zu dieser Frage gemacht hat, und wenn sie darüber hinaus auch die ihr gebotene Möglichkeit, sich dem Angeklagten für einige Zeit zu entziehen, nicht ausgenutzt hat.