Bundesgerichtshof
Beschl. v. 28.03.1995, Az.: 4 StR 106/95
Messerstich; Stichverletzung; Beendeter Versuch; Affekt; Jugendlicher; Tötungsversuch; Versuchter Totschlag; Tötungsvorsatz
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 28.03.1995
- Aktenzeichen
- 4 StR 106/95
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1995, 12984
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
Redaktioneller Leitsatz
1. Werden mehrere Messerstiche von einem aufgeregten Jugendlichen spontan gegen das Opfer ausgeführt, so ist dies in die Prüfung des Tötungsvorsatzes miteinzubeziehen.
2. Wird das Opfer durch die Stichwunden lebensgefährlich verletzt, liegt es nahe, einen beendeten Versuch eines Tötungsdeliktes anzunehmen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von vier Jahren verurteilt.
Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg, weil das angefochtene Urteil keine Erörterungen zu einem möglichen Rücktritt vom Versuch enthält.
1. Nach den Feststellungen stach der Angeklagte in einem Park viermal in kurzer Folge mit einem "Butterfly-Messer" auf T. ein. Dabei nahm er den Tod des Opfers billigend in Kauf. Die "mit eher geringer Intensität" geführten Stiche trafen das Opfer in Brust, Rücken und Oberarm. Ein Stich drang etwa 2 cm tief in den Körper ein und verletzte die Lunge. Als der Freund des Angeklagten, der das Opfer während der Stiche festgehalten hatte, dieses losließ, lief der Angeklagte davon. T. kehrte - unter Atemnot leidend - zur Straße zurück, wo ihm die Hilfe Dritter zuteil wurde.
2. Ob die Jugendkammer von einem beendeten oder unbeendeten Versuch ausgeht, lassen die Urteilsgründe nicht erkennen.
Ein Versuch ist dann als unbeendet anzusehen, wenn der Täter noch nicht alles getan hat, was nach seiner Vorstellung zur Herbeiführung des Erfolges erforderlich oder möglicherweise ausreichend ist. Beendet ist der Versuch, wenn der Täter nach seiner letzten Tathandlung mit der nach den Umständen nicht fernliegenden Möglichkeit rechnet, daß es zur Vollendung keiner weiteren Tathandlung mehr bedürfe (vgl. BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Versuch, unbeendeter 27).
Welche Vorstellung der Angeklagte im Zeitpunkt der letzten Ausführungshandlung hatte, teilt das Urteil nicht mit. Zwar kann sich die Erwähnung, der Täter habe mit dem Tod des Opfers gerechnet, bei offensichtlich lebensgefährlichen Verletzungen erübrigen. So lag es hier jedoch nicht. Weder hatte der Angeklagte die Stiche mit besonderer Wucht geführt, noch ließen der körperliche Zustand des Verletzten oder sein Verhalten unmittelbar nach der Tat auf eine Lebensgefahr schließen.
Damit ist jedoch die Möglichkeit eines unbeendeten Tötungsversuchs in Betracht zu ziehen. Subjektive oder objektive Umstände, die den Angeklagten gehindert haben könnten, sein Tötungsvorhaben weiter zu verfolgen, sind den Feststellungen nicht zu entnehmen. Dies könnte dafür sprechen, daß der Angeklagte freiwillig von der ihm noch möglichen Vollendung der Tat abgesehen hat und deshalb mit strafbefreiender Wirkung zurückgetreten ist.
3. Das vom Landgericht angenommene Konkurrenzverhältnis der Tateinheit zwischen versuchtem Totschlag und gefährlicher Körperverletzung steht im Widerspruch zu der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, nach der Körperverletzungsdelikte wegen Gesetzeskonkurrenz hinter ein versuchtes Tötungsdelikt zurücktreten (vgl. BGHSt 22, 248 [BGH 08.10.1968 - 5 StR 462/68]). Da der Schuldspruch aus anderen Gründen keinen Bestand hat, braucht der Senat nicht darüber zu befinden, ob die Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 20. Oktober 1992 (BGHSt 39, 100, 108) Veranlassung gibt, diese Rechtsprechung mit Blick auf die Klarstellungsfunktion des Schuldspruchs zu überdenken.
4. Für die erneute Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, daß auch bei generell gefährlichen Gewalthandlungen der Schluß auf bedingten Tötungsvorsatz nur dann rechtsfehlerfrei ist, wenn das Gericht in seine Erwägungen alle Umstände einbezogen hat, die ein solches Ergebnis in Frage stellen (st. Rspr.; vgl. BGHR StGB § 212 Abs. 1, Vorsatz, bedingter 5 m.w.N.). Der neue Tatrichter wird daher in die Gesamtwürdigung einzubeziehen haben, daß es sich hier um eine spontane, vom ursprünglichen Tatplan abweichende, in emotional erregter Stimmung begangene Tat handelt, die der alkoholisch enthemmte, zur Tatzeit erst 16 Jahre alte Angeklagte ohne nachvollziehbares Motiv begangen hat.