Bundesgerichtshof
Urt. v. 10.01.1995, Az.: VI ZR 31/94
Tatsachenbehauptung; Darlegungsnot; Fehlende Sachkunde; UnzulässigeTatsachenausforschung
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 10.01.1995
- Aktenzeichen
- VI ZR 31/94
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1995, 15303
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlage
Fundstellen
- BB 1995, 540 (Volltext mit amtl. LS)
- BauR 1995, 734-737 (Volltext mit amtl. LS)
- DB 1995, 521 (Volltext mit amtl. LS)
- JuS 1995, 648 (Volltext mit amtl. LS)
- MDR 1995, 407-408 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1995, 1160-1161 (Volltext mit amtl. LS)
- VersR 1995, 433-435 (Volltext mit amtl. LS)
- VuR 1995, 132-136 (Volltext mit amtl. LS)
- zfs 1995, 247-249 (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
Amtlicher Leitsatz
Kann eine Prozeßpartei mangels nur bei einem besonders Sachkundigen vorhandener Kenntnis von Einzeltatsachen (hier: Anhaltspunkte für Holzschutzmittelvergiftung) nicht umhin, von ihr zunächst nur vermutete Tatsachen als Behauptung in einen Rechtsstreit einzuführen, so liegt keine unzulässige "Ausforschung" vor.
Tatbestand:
Die Kläger verlangen von der Beklagten als der Herstellerin der Holzschutzmittel Xyladecor und Xyladecor 200 Schadensersatz wegen Gesundheitsschäden, die ihnen durch die Verwendung dieser Mittel entstanden sein sollen, sowie Ersatz der für Sanierungsarbeiten in ihrem Haus entstandenen Kosten.
Hierzu haben die Kläger vorgetragen, in ihrem Einfamilienhaus seien die im Erdgeschoß befindlichen Profilholzdecken in der Zeit von 1976 bis 1988 mit Holzschutzmitteln nachbehandelt worden. Dazu seien bis etwa im Jahre 1978 das pentachlorphenol (PCP) - und lindanhaltige Xyladecor und später das Mittel Xyladecor 200 verwendet worden, das anstelle von PCP als Wirkstoffe Furmecyclox und Dichlorfluanid enthalten habe. Auch beim Ausbau einer Einliegerwohnung im Keller des Hauses seien etwa 40 m Profilholzfläche mit diesen Holzschutzmitteln gestrichen worden.
Nach Beginn der Anstreicharbeiten im Jahre 1976 habe der Erstkläger unter derart schweren Schmerzen im Mundbereich gelitten, daß ihm auf ärztliches Anraten hin zehn, im wesentlichen noch gesunde Zähne gezogen worden seien, ohne daß eine Besserung des schlechten Gesundheitszustandes eingetreten sei.
Durch Ausgasung der Holzschutzmittel aus den damit behandelten Holzflächen seien auch die Innenräume ihres Wohnhauses stark mit PCP, Lindan, Dioxinen und Furanen belastet worden. Dadurch seien seit dem Jahre 1976 bei allen Klägern, vornehmlich der Zweitklägerin, Gesundheitsstörungen und -schäden eingetreten. Diese seien durch folgende Erscheinungsbilder gekennzeichnet: allgemein nachlassende Leistungskraft, Konzentrationsschwäche, Kopfschmerzen, Kreislaufstörungen, Stoffwechselstörungen, Einschlaf- und Durchschlafstörungen, Verschlechterung des Sehvermögens, rheumaähnliche Schmerzen im Bereich der Gliedmaßen, Schwindel, Schwitzen, häufige Infekte, Blutdruckschwankungen und oft leicht erhöhte Temperatur. Die in den Produkten der Beklagten enthaltenen Inhaltsstoffe hätten ihr Immunsystem sowie ihr peripheres und zentrales Nervensystem in irreversibler Weise geschädigt.
Nach der Sanierung des Hauses im Sommer 1991 sei zwar eine leichte Besserung des Gesamtzustandes und der allgemeinen Leistungsfähigkeit eingetreten. Die Gesundheitsstörungen bestünden jedoch weiterhin. Alle Kläger seien nach wie vor häufig müde, hätten Einschlaf- und Durchschlafstörungen, Verdauungsstörungen sowie Konzentrationsstörungen. Außerdem führten bei ihnen zahlreiche Umweltgifte, denen jeder ausgesetzt ist (z.B. Pestizide, Zigarettenrauch, Reinigungsmittel), zu schweren Krankheitsschüben. Sie führen das darauf zurück, daß bei ihnen eine sogenannte chemische Sensibilisierung eingetreten sei, die eine grundlegende Besserung nicht mehr erwarten lasse.
Wegen der erlittenen Gesundheitsschäden verlangen die Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld. Außerdem beanspruchen sie als Schadensersatz für die von ihnen selbst geleisteten Sanierungsarbeiten einen Betrag von 21.000 DM sowie weitere 4.000 DM als Ersatz für eine Schrankwand, für Bücher und Matratzen. Ferner begehren sie Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz ihres weiteren durch die Verarbeitung der Holzschutzmittel der Beklagten entstandenen und noch entstehenden materiellen und immateriellen Schadens.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Kläger hatte keinen Erfolg. Mit ihrer Revision verfolgen die Kläger ihre Klageansprüche weiter.
Entscheidungsgründe
I. Das Berufungsgericht unterstellt, daß die Kläger in ihrem Haus seit dem Jahre 1976 in größeren Mengen Xyladecor und Xyladecor 200 verwendet und damit eine Holzfläche von insgesamt 150 qm behandelt haben. Es geht auch davon aus, daß das Holzschutzmittel Xyladecor die Wirkstoffe Lindan und PCP und das Mittel Xyladecor 200 nur noch Lindan enthalten haben, und daß diese Stoffe bei entsprechender Konzentration geeignet sind, nachhaltige Gesundheitsschäden auszulösen.
Dem vom Landgericht eingeholten Sachverständigengutachten entnimmt das Berufungsgericht, daß zur Zeit der Begutachtung in dem Haus der Kläger zwar die in der Raumluft ermittelte Konzentration an Lindan und PCP in einem relativ niedrigen Bereich gelegen hat, daß aber die Konzentration an Polychlorid und Dioxinen und an Furanen in einem Bereich lag, der aus Vorsorgegründen nicht mehr tolerierbar war. Im Anschluß an die Imprägnierung hätten zudem die Raumluftkonzentrationen unter Berücksichtigung der Verdunstungshalbwertzeit von 3-5 Jahren weitaus höher gelegen und hätten in Kombination mit den verdunsteten Lösungsmitteln zu einer Sensibilisierung geführt haben können.
Das Berufungsgericht hält es demnach für möglich, daß die Holzschutzprodukte der Beklagten im Hause der Kläger zu einer gesundheitsgefährdenden Konzentration von PCP und Lindan sowie von polychlorierten Dioxinen und Furanen geführt haben. Dies führt jedoch nach Auffassung des Berufungsgerichts zu keiner Schadensersatzverpflichtung der Beklagten gegenüber den Klägern. Hinsichtlich der behaupteten Gesundheitsschäden fehle eine nachvollziehbare und einer Beweisaufnahme zugängliche Darstellung eines bestimmten Schadens an Körper oder Gesundheit der Kläger, und zwar auch im Sinne einer Sensibilisierung, insbesondere die Angabe bestimmter Krankheitsbefunde bzw. meßbarer Untersuchungsergebnisse (Anstieg der Transaminasen im Blut, Erhöhung von Blutfettgehalten, des Cholesterinspiegels, Veränderungen im Blutbild oder des Blutdrucks). Nach den von den Klägern geschilderten Symptomen unterscheide sich ihr Gesundheitszustand nicht grundlegend von demjenigen großer Teile der übrigen Bewohner Deutschlands. Es würde nach Auffassung des Berufungsgerichts auf eine unzulässige Ausforschung hinauslaufen, etwa durch ein Sachverständigengutachten ermitteln zu lassen, welcher Kläger zu welchem Zeitpunkt wegen welcher Krankheit behandelt worden sei.
Die Kläger hätten auch nicht die Notwendigkeit aufgezeigt, alle behandelten Holzflächen austauschen zu müssen. Aber auch soweit der Sachverständige die Notwendigkeit zur Entfernung der Holzflächen bejaht habe, könne die Berufung nicht zu einem Teilerfolg der Klage führen. Wenn die Kläger umfangreiche Eigenleistungen erbracht hätten, dann hätten sie jedenfalls die vorhandenen Rechnungen über den Materialeinkauf vorlegen müssen.
II. Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand.
Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts haben die Kläger schlüssig dargelegt, daß ihnen gegen die Beklagte Schadensersatzansprüche zustehen können.
1. Gesundheitsschäden
Die Kläger haben, wie die Revision mit Recht rügt, die Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch gegen die Beklagten aus § 823 Abs. 1 BGB wegen Verletzung ihrer Gesundheit schlüssig dargelegt. Sie haben im einzelnen vorgetragen, unter welchen zahlreichen Beschwerden sie leiden und behauptet, bei ihnen sei jetzt eine sog. chemische Sensibilisierung eingetreten und ihr Immunsystem sowie ihr peripheres und zentrales Nervensystem seien in irreversibler Weise geschädigt. Dazu haben sie darauf hingewiesen, die Hervorrufung feststellbarer Veränderungen am menschlichen Immunsystem durch die langzeitige inhalative Aufnahme von PCP, Lindan, Dioxinen und Furanen auch im Niedrigdosenbereich sei heute in Wissenschaftskreisen unbestritten, und daraus den Schluß gezogen, die in den Produkten der Beklagten enthaltenen Inhaltsstoffe hätten zu diesen Gesundheitsschäden geführt. Das reicht in einem Fall wie dem vorliegenden zur Darlegung eines Gesundheitsschadens und seiner Ursachen aus.
Im Streitfalle kommt nun sogar noch hinzu, daß das gewerbsmäßige Herstellen und Inverkehrbringen von PCP bereits durch Verordnung vom 12. Dezember 1989 (BGBl I S. 2235) verboten wurde, da nach Auffassung der Bundesregierung für dessen umweltgefährliche Wirkungen ausreichende naturwissenschaftliche Erkenntnisse vorlagen (BR-Drucks. 420/89 vom 7. August 1989, S. 5). In der amtlichen Begründung zu der PCP-Verbotsverordnung wurde erwähnt, daß immer wieder Gesundheitsschäden der Verbraucher mit der Anwendung PCP-haltigen Holzschutzmittel in Zusammenhang gebracht und dabei viele der Symptome genannt worden seien, die auch bei den Klägern aufgetreten sein sollen (vgl. BR-Drucks. 420/89, S. 7). In der vom Bundesumweltministerium im September 1992 herausgegebenen Schrift "Umweltpolitik - Konzeption der Bundesregierung zur Verbesserung der Luftqualität in Innenräumen" ist ausgeführt, daß es ernst zu nehmende Hinweise darauf gebe, daß gesundheitliche Schäden durch die Anwendung von Holzschutzmitteln in Innenräumen aufgetreten seien. Als Inhaltsstoffe, die diese Schäden ausgelöst haben könnten, seien besonders PCP und Lindan diskutiert worden.
Das Berufungsgericht räumt selbst ein, daß einige der von den Klägern behaupteten Gesundheitsstörungen, wie Veränderungen des Blutdrucks und ansteigende Herzfrequenz, zu den typischen Schädigungen durch PCP gehören (vgl. auch LG München II, VuR 1988, 155, 157). Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts unterscheiden sich die von den Klägern geschilderten Symptome auch grundlegend von dem Gesundheitszustand großer Teile der übrigen Bewohner Deutschlands. Das Berufungsgericht verkennt, daß die Kläger auch behauptet haben, ihr Immunsystem und ihr zentrales und peripheres Nervensystem seien irreversibel geschädigt. Bei dieser Sachlage vermag der erkennende Senat dem Berufungsgericht nicht darin zu folgen, daß es auf eine unzulässige Ausforschung hinauslaufe, durch Sachverständigengutachten ermitteln zu lassen, ob die von den Klägern behaupteten Gesundheitsstörungen bei ihnen tatsächlich vorliegen und ob diese Schädigungen auf Ausgasungen aus den mit dem Holzschutzmittel der Beklagten gestrichenen Holzflächen zurückzuführen sind. Letzteres vermuten die Kläger zwar bisher nur. Aber auch dann, wenn eine Partei mangels Kenntnis von Einzeltatsachen nicht umhin kann, von ihr zunächst nur vermutete Tatsachen als Behauptung in einen Rechtsstreit einzuführen, liegt keine unzulässige "Ausforschung" vor (vgl. Senatsurteil vom 9. Juli 1974 - VI ZR 112/73 - LM § 138 ZPO Nr. 14 = NJW 1974, 1710 m.w.N.).
Es bedurfte entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts auch keiner Angabe "von medizinischen Daten im zeitlichen Ablauf und zugeordnet zu einer bestimmten Person". Die Kläger hatten behauptet, daß bei ihnen Gesundheitsschäden eingetreten seien, die dem Bild einer Holzschutzmittelvergiftung entsprechen, wie sie im Schrifttum und auch in der amtlichen Begründung zur PCP-Verbotsverordnung beschrieben sind. War das aber der Fall, dann war das Berufungsgericht ohne Rücksicht darauf, ob die Kläger noch weitere Angaben gemacht haben, verpflichtet, das beantragte Sachverständigengutachten einzuholen (vgl. auch OLG Düsseldorf, VuR 1992, 109). Dies galt vor allem im Streitfall, da die Kläger vorgetragen hatten, ein erfahrener Toxikologe und Innenraumlufthygieniker sei in der Lage festzustellen, ob die von ihnen behaupteten Erkrankungen durch Produkte der Beklagten ausgelöst worden sind.
2. Sachschäden
a) Aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen E. geht das Berufungsgericht zwar rechtlich einwandfrei davon aus, daß nur die Beseitigung der sog. Primärquellen erforderlich ist, und daß bei abwaschbaren, waschbaren und reinigungsfähigen Sachen eine Reinigung genügte. Die Revision rügt aber mit Recht, daß die Kläger, wie das Berufungsgericht selbst im Tatbestand des Berufungsurteils erwähnt, vorgetragen haben, im gesamten Erdgeschoß seien die Profilholzdecken in den Jahren 1976 bis 1988 mit Holzschutzmitteln der Beklagten nachgestrichen worden. Diese Anstriche ließen sich nicht durch Reinigung entfernen. Es ist deshalb für das Revisionsgericht nicht nachzuvollziehen, daß ein Teil der mit Holzschutzmittel behandelten Holzflächen keine sog. Primärquelle sein soll.
b) Die Revision wendet sich auch mit Recht dagegen, daß das Berufungsgericht von den Klägern verlangt hat, die Kosten der Sanierung durch Rechnungen über den Materialeinkauf zu belegen. Die Kläger hatten gemäß § 249 Satz 2 BGB Anspruch auf Ersatz der zur Sanierung erforderlichen Kosten. Ein Kläger, der selbst repariert oder auf Reparatur verzichtet, kann Ersatz der im Reparaturgewerbe entstehenden Kosten einschließlich Mehrwertsteuer verlangen (vgl. BGHZ 61, 56, 58; Senatsurteil vom 20. Juni 1989 - VI ZR 334/88 - VersR 1989, 1056). Zur schlüssigen Geltendmachung der Ersatzansprüche genügte daher die Behauptung, bei Ausführung der Arbeiten durch ein Fachunternehmen wären hierfür Kosten in Höhe von 40.000 DM angefallen. Das Berufungsgericht mußte über diese Behauptung Beweis erheben.
c) Aufgrund der bisher getroffenen Feststellungen ist mit der Revision davon auszugehen, daß es sich bei der Bücherwand, die aus porösem Holz bestanden haben soll, um eine sog. Primärquelle gehandelt hat. In einem solchen Fall hätten die Kläger auch Anspruch auf Ersatz der hierfür aufzuwendenden Sanierungskosten. Sollten die Bücher und Matratzen reinigungsfähig sein, wie das Berufungsgericht offenbar meint, dann hätte es den ersatzfähigen Schaden nach § 287 ZPO schätzen müssen.
III. Da das Berufungsgericht verfahrensfehlerhaft die Durchführung einer Beweisaufnahme unterlassen hat, war das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.