Bundesgerichtshof
Urt. v. 20.09.1994, Az.: VI ZR 336/93
Möglichkeit der Unterbrechung eines Revisionsverfahrens durch Eröffnung eines Insolvenzverfahrens; Anspruch auf Schadensersatz bei Betrug im Zusammenhang mit Warenterminoptionsgeschäften; Voraussetzungen für Beginn der Verjährung eines deliktischen Anspruches; Rechtmäßigkeit der Annahme einer ausreichenden Kenntnis eines deliktischen Gläubigers über Schadenshergang und den Personalien des Schädigers durch ein Anschreiben der Kriminalpolizei; Zulässigkeit der Gleichstellung der Unkenntnis von dem Schadenshergang und von der Person des Schädigers mit der Kenntnis aufgrund Versäumung der Aufklärung des Sachverhaltes durch einen Rechtsanwalt
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 20.09.1994
- Aktenzeichen
- VI ZR 336/93
- Entscheidungsform
- Schlussurteil
- Referenz
- WKRS 1994, 17423
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- OLG München - 07.03.1989
- LG München I - 26.07.1988
Rechtsgrundlagen
Fundstellen
- JurBüro 1995, 108 (Kurzinformation)
- NJW 1994, 3092-3094 (Volltext mit red. LS)
Prozessführer
Alfons D., U. straße ..., M.
Prozessgegner
1. Gerd W., P. Straße ..., M.
2. Brigitte S. geb. F., K. Straße ..., M.
3. Thomas S., G.-M.-Straße ..., M.
Redaktioneller Leitsatz
- a)
Nur wenn es sich um weniger komplizierte Sachverhalte handelt, kann man davon ausgehen, daß der Geschädigte dadurch, daß er im Strafprozeß als Zeuge aussagen mußte, die Kenntnis i.S.d. § 852 Abs. 1 BGB erlangt und damit den entsprechenden Beginn der Verjährungsfrist ausgelöst hat.
- b)
Nur wenn der Hinweis auf die Unkenntnis von Schaden und Schädiger als mißbräuchlich zu beurteilen ist, kann eine grob fahrlässig verschuldete Unkenntnis des Geschädigten i.S.d. § 852 Abs. 1 BGB angenommen werden.
In dem Rechtsstreit
hat der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs
auf die mündliche Verhandlung vom 20. September 1994
durch
den Vorsitzenden Richter Dr. Steffen und
die Richter Dr. Lepa, Bischoff, Dr. v. Gerlach und Dr. Dressler
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 18. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 7. März 1989 auch insoweit aufgehoben, als über die Berufung der Beklagten zu 2) erkannt worden ist.
Auch die Berufung der Beklagten zu 2) gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 26. Juli 1988 wird zurückgewiesen.
Von den Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte zu 2) ihre außergerichtlichen Kosten. Die übrigen Kosten tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.
Von den Kosten des Revisionsverfahrens trägt die Beklagte zu 2) ihre außergerichtlichen Kosten selbst. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers tragen die Beklagten als Gesamtschuldner. Von den Gerichtskosten des Revisionsverfahrens tragen die Beklagten die Verfahrensgebühr als Gesamtschuldner. Die Urteilsgebühr trägt der Beklagte zu 1).
Tatbestand
Die E.-GmbH vertrieb von Dezember 1977 bis April 1979 über Telefonverkäufer Warenterminoptionen. Der Kläger erwarb von ihr solche Optionen und erlitt dabei in der Zeit von April 1978 bis Februar 1979 einen Verlust von 53.565,40 DM. Wegen dieses Verlustes nimmt er die Beklagten mit einer am 21. Januar 1988 bei Gericht eingereichten und am 29. Januar bzw. 24. Februar 1988 zugestellten Klage auf Schadensersatz in Anspruch. Die Beklagten waren an der E.-GmbH beteiligt und betätigten sich für sie als Telefonverkäufer bzw. Verkaufsleiter. Sie wurden wegen ihrer Tätigkeit für die E.-GmbH durch Urteil des Landgerichts M. vom 12. August 1981 wegen Betrugs verurteilt; nach Aufhebung dieses Urteils durch den Bundesgerichtshof wurden sie im November 1983 bzw. Februar 1984 erneut - rechtskräftig - wegen Betrugs verurteilt.
Der Kläger hat behauptet, die Beklagten, die im Warentermingeschäft versiert gewesen seien, hätten von vornherein den Plan gefaßt, auf die Londoner Optionsprämien hohe Aufschläge zu nehmen. Die E.-GmbH habe deshalb auf die Optionsprämien Aufschläge von etwa 100 % erhoben, ohne daß ihre Telefonverkäufer die Anleger hierüber aufgeklärt hätten. Nach dem Werbematerial hätten die Anleger den Eindruck gewinnen müssen, daß sie nahezu den an der Börse verlangten Preis zahlten, während die E.-GmbH - dem Plan der Beklagten folgend - in Wahrheit im Durchschnitt nur knapp 55 % für den Einsatz an der Warenterminbörse vorgesehen habe.
Die Beklagten haben die Einrede der Verjährung erhoben.
Das Landgericht hat der Klage (mit Ausnahme eines Zinsabschlags) stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage abgewiesen. Mit seiner Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts waren Schadensersatzansprüche des Klägers gegen die Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB bei Einreichung seiner Klage am 21. Januar 1988 nach § 852 Abs. 1 BGB längst verjährt. Von seinem Schaden habe der Kläger durch eine Mitteilung der E.-GmbH bereits Ende 1978/Anfang 1979 Kenntnis erlangt. Ende 1979 habe er einen Fragebogen der Kriminalpolizei erhalten und durch ein Anschreiben der Staatsanwaltschaft M. erfahren, daß gegen die Beklagten - u.a. wegen der Geschäfte, die die E.-GmbH mit ihm getätigt habe - wegen Betrugs ermittelt werde. Am 14. Oktober 1980 sei er in dem Strafverfahren, das zur Verurteilung der Beklagten wegen Betrugs geführt habe, vor Gericht als Zeuge vernommen worden. Bei dieser Sachlage sei es ihm zuzumuten gewesen, einige Monate nach seiner Zeugenvernehmung - spätestens im Herbst 1981 - durch einen beauftragten Rechtsanwalt Akteneinsicht nehmen zu lassen, um hierdurch die für die Klagebegründung erforderliche Kenntnis von dem anspruchsbegründenden Schadenshergang und den "genauen Daten" der Beklagten zu erhalten. Damit sei davon auszugehen, daß die dreijährige Verjährungsfrist bereits 1981 zu laufen begonnen habe. Andere als deliktische Ansprüche stünden dem Kläger gegen die Beklagten nicht zu.
II.
Am 16. Januar 1990 ist über das Vermögen der Zweitbeklagten das Konkursverfahren eröffnet worden, so daß das Revisionsverfahren gegen sie nach § 240 ZPO unterbrochen war. Der Senat hat deshalb zunächst über die Revision gegen die Beklagten zu 1) und 3) entschieden, und zwar dahin, daß er unter teilweiser Aufhebung des Berufungsurteils die Berufungen dieser Beklagten gegen das landgerichtliche Urteil zurückgewiesen hat (Urteil vom 10. April 1990 - VI ZR 174/89 - VersR 1991, 1032).
Das Konkursverfahren ist am 14. April 1992 gemäß § 204 KO eingestellt worden. In dem Termin zur mündlichen Verhandlung über die gegen sie gerichtete Revision war die Zweitbeklagte trotz rechtzeitiger Ladung nicht vertreten. Der Senat hat deshalb auf Antrag des Revisionsklägers durch Versäumnisurteil entschieden. Dieses Urteil beruht jedoch inhaltlich nicht auf einer Säumnisfolge, sondern berücksichtigt den gesamten derzeitigen Sach- und Streitstand (vgl. BGHZ 37, 79, 81 f.).
III.
Die Revision erweist sich auch insoweit als begründet, als sie sich gegen die Zweitbeklagte richtet. Die Erwägungen, die den Senat im Urteil vom 10. April 1990 zur teilweisen Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückweisung der Berufungen der Beklagten zu 1) und 3) gegen das landgerichtliche Urteil geführt haben, gelten auch in bezug auf die Zweitbeklagte.
Mit dem Berufungsgericht geht der Senat davon aus, daß der Kläger gegen die Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB einen Anspruch auf Ersatz des Schadens erlangt hat, den er durch die Warenterminoptionsgeschäfte mit der E.-GmbH erlitten hat. Die Beklagten haben im zweiten Rechtszug nicht mehr in Frage gestellt, daß sie den Tatbestand des Betrugs zum Nachteil des Klägers verwirklicht haben. Die Verjährung dieses deliktischen Anspruchs, auf die sie sich berufen, bestimmt sich nach § 852 Abs. 1 BGB. Danach kommt es darauf an, ob der Kläger früher als drei Jahre vor der Einreichung der Klage am 21. Januar 1988 als ein zur Unterbrechung der Verjährung geeigneter Umstand (§§ 209 BGB, 270 Abs. 3 ZPO) von seinem Schaden einschließlich des Schadenshergangs und der Person der Beklagten als Schädiger Kenntnis erlangt hat. Dies ist nicht der Fall. Der Kläger hat von dem Schadenshergang und der Verantwortlichkeit der Beklagten hierfür vor dem 21. Januar 1985 keine Kenntnis erhalten.
1.
Mit dem Berufungsgericht ist der Senat der Auffassung, daß der Kläger durch das Anschreiben der Kriminalpolizei vom April 1979 noch keine ausreichende Kenntnis von dem Schadenshergang und den Personalien der Beklagten erlangt hat. Zwar verlangt § 852 Abs. 1 BGB nicht die Kenntnis des Schadenshergangs in allen Einzelheiten, vielmehr reicht für den Verjährungsbeginn im allgemeinen eine solche Kenntnis aus, die es dem Geschädigten erlaubt, eine hinreichend aussichtsreiche - wenn auch nicht risikolose - und ihm daher zumutbare Feststellungsklage zu erheben (st. Rspr., vgl. BGHZ 102, 246, 248 m.w.N.). Erforderlich ist jedoch, daß der Geschädigte aufgrund seines Kenntnisstandes in der Lage ist, eine auf eine deliktische Anspruchsgrundlage gestützte Schadensersatzklage schlüssig zu begründen (vgl. Senatsurteil vom 6. Februar 1990 - VI ZR 75/89 - VersR 1990, 539 [BGH 06.02.1990 - VI ZR 75/89] m.w.N.). Dazu gaben dem Kläger die Angaben in dem Anschreiben der Kriminalpolizei noch keine Möglichkeit. Dort heißt es lediglich, daß gegen die "Verantwortlichen" der E.-GmbH "wegen Verdachts des Betrugs" Ermittlungen geführt werden. Auf welche Erkenntnisse sich dieser Verdacht stützte, wurde nicht gesagt. Ebenso blieb offen, wer die "Verantwortlichen" sind. Hier kam eine Vielzahl von Personen, angefangen von dem jeweiligen Telefonverkäufer über den Verkaufsleiter bis hin zur Geschäftsführung, in Betracht.
Die Feststellungen des Berufungsgerichts lassen auch nicht erkennen, daß der Fragebogen dem Kläger einen Kenntnisstand vermittelt hätte, der ihn in die Lage versetzt hätte, sich über die Vorgänge, die innerhalb der E.-GmbH zu seinem Schaden geführt haben, und über die Verantwortlichkeit der Beklagten für den Schadenshergang ein hinreichend klares Bild zu machen.
Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, daß dem Kläger die Zeugenvernehmung vom 14. Oktober 1980 die Kenntnis von dem Schadenshergang und der Verantwortlichkeit der Beklagten hierfür vermittelt hätte, die § 852 Abs. 1 BGB für den Verjährungsbeginn voraussetzt. Zwar wird bei einfachen Sachverhalten die Vernehmung als Zeuge dem Geschädigten häufig eine hinreichende Kenntnis von der Schädigungshandlung und dem Schädiger verschaffen. Um einen solchen Fall geht es hier aber nicht. Die wirtschaftlichen Abläufe und Zusammenhänge, die bei Warenterminoptionsgeschäften zu Verlusten führen, sind für den Nichteingeweihten in der Regel nicht durchschaubar. Dies ist auch der Grund dafür, daß die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dem Vermittler von Warenterminoptionsgeschäften weitreichende Aufklärungspflichten auferlegt hat (vgl. etwa BGH, Urteile vom 17. November 1986 - II ZR 79/86 - NJW 1987, 641 und vom 1. Dezember 1986 - II ZR 57/86 - NJW 1987, 641 ff.). Im übrigen handelte es sich hier um ein ungewöhnlich umfangreiches Verfahren, das sich gegen 17 Beschuldigte richtete. Bei dieser Sachlage könnte von einer hinreichenden Kenntnis allenfalls dann ausgegangen werden, wenn festzustellen wäre, daß in der Zeugenvernehmung des Klägers auch für ihn als juristischen Laien die Sachverhaltselemente klar herausgestellt worden sind, aus denen sich die Tatumstände für die objektive und subjektive Seite eines Betruges der Beklagten ergaben. Hierzu ist weder etwas festgestellt noch ersichtlich.
2.
Im Gegensatz zum Berufungsgericht ist der Senat der Auffassung, daß die Unkenntnis des Klägers von dem Schadenshergang und der Verantwortlichkeit der Beklagten seiner Kenntnis nicht deshalb gleichgestellt werden kann, weil er es im Jahre 1981 versäumt hat, den Sachverhalt durch einen Rechtsanwalt aufklären zu lassen.
Die Vorschrift des § 852 Abs. 1 BGB setzt für den Beginn der Verjährung die positive Kenntnis des Geschädigten von dem Schaden einschließlich des Schadenshergangs und dem Schädiger voraus. Allerdings hat der Senat § 852 Abs. 1 BGB auch dann angewandt, wenn der Geschädigte einen den Lauf der Verjährung auslösenden Kenntnisstand positiv nicht besessen, wohl aber die Möglichkeit gehabt hat, sich die erforderlichen Kenntnisse in zumutbarer Weise ohne nennenswerte Mühe zu beschaffen. Damit soll indes - dem Rechtsgedanken des § 162 BGB folgend - nur dem Geschädigten die sonst bestehende Möglichkeit genommen werden, die Verjährungsfrist mißbräuchlich dadurch zu verlängern, daß er die Augen vor einer sich aufdrängenden Kenntnis verschließt. Der Senat hat stets (zuletzt im Urteil vom 10. April 1990 - VI ZR 174/89 - a.a.O.) mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß diese Rechtsprechung nicht in dem Sinne mißverstanden werden darf, daß bereits eine - sei es auch grob fahrlässig - verschuldete Unkenntnis der vom Gesetz geforderten positiven Kenntnis gleichstehe; vielmehr betrifft diese Rechtsprechung nur die Fälle, in denen es der Geschädigte versäumt, eine gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit wahrzunehmen (vgl. Senatsurteil vom 16. Mai 1989 - VI ZR 251/88 - VersR 1989, 914, 915 m.w.N.), und letztlich das Sichberufen auf die Unkenntnis als Förmelei erscheint, weil jeder andere in der Lage des Geschädigten unter denselben konkreten Umständen die Kenntnis gehabt hätte.
Nach diesen Grundsätzen kann hier die Unkenntnis des Klägers über den Schadenshergang und die Verantwortlichkeit der Beklagten hierfür seiner Kenntnis nicht gleichgestellt werden. Die Aufklärungsinitiative, die das Berufungsgericht dem Kläger ansinnt, geht weit über die Mühewaltung hinaus, die im Rahmen des § 852 BGB von einem Geschädigten unter dem Gesichtspunkt des § 162 BGB erwartet werden kann. Die Beauftragung eines Rechtsanwalts, Akteneinsicht zu nehmen und die anspruchsbegründenden Sachverhaltselemente festzustellen, ist mit einem Kostenaufwand verbunden, auf den der Geschädigte sich nicht einzulassen braucht, um dem Vorwurf des mißbräuchlichen Sich-Verschließens im Rahmen des § 852 BGB zu entgehen. Dem läßt sich auch nicht entgegenhalten, der Kläger habe für seine Schadensersatzklage gegen die Beklagten ohnehin einen Rechtsanwalt einschalten müssen. Die Frage der Zumutbarkeit kostenträchtiger Aufklärungsaktivitäten ist aus der Sicht des Geschädigten zu entscheiden, der noch nicht weiß, ob die Beauftragung eines Rechtsanwalts zu einer erfolgversprechenden Klage führen wird; für ihn ist der Aufwand von Kosten, deren Ausgleich ungewiß ist, nicht zumutbar. Daran ändert auch nichts, daß der Kläger später einen Rechtsanwalt beauftragt hat. Er hat damit mehr getan, als von ihm nach den zu § 852 Abs. 1 BGB entwickelten Grundsätzen erwartet werden kann.
IV.
Da nicht ersichtlich ist, daß der Kläger auf eine andere Weise früher als drei Jahre vor der Verjährungsunterbrechung Kenntnis von dem Schadenshergang und der Verantwortlichkeit der Beklagten für seinen Schaden erlangt hat, und auch sonst Bedenken gegen eine Einstandspflicht der Beklagten nicht hervorgetreten sind, war das landgerichtliche Urteil auch hinsichtlich der Zweitbeklagten wiederherzustellen.
Dr. Lepa
Bischoff
Dr. v. Gerlach
Dr. Dressler