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Bundesgerichtshof
Urt. v. 14.06.1994, Az.: VI ZR 236/93

Vorwerfbarkeit eines Diagnoseirrtums als Behandlungsfehler; Spätsymptome einer Polyradikulitis als Folge eines Zeckenbisses; Deutung einer eindeutigen Krankheitserscheinung in völlig unvertretbarer, der Schulmedizin entgegenstehender Weise; Nichterhebung elementarer Kontrollbefunde; Unterbleiben der Überprüfung der ersten Diagnose im weiteren Behandlungsverlauf; Neurologische oder orthopädische Ursachen von Beschwerden; Voraussetzung für eine Parteivernehmung; Einholung eines medizinisches Sachverständigengutachtens bei mangelnder Sachkunde des Gerichts; Abgrenzung zwischen einem Behandlungsfehler und einem groben ärztlichen Fehler

Bibliographie

Gericht
BGH
Datum
14.06.1994
Aktenzeichen
VI ZR 236/93
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1994, 16983
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
OLG Zweibrücken - 14.07.1993

Prozessführer

Paul B., P. straße ..., M. an der ...,

Prozessgegner

Dr. med. Reiner S. D. straße ..., P.,

In dem Rechtsstreit
hat der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs
auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juni 1994
durch
den Vorsitzenden Richter Dr. Steffen und
die Richter Dr. Kullmann, Dr. Lepa, Dr. Müller und Dr. Dressler
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 2. Zivilsenats des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 14. Juli 1993 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger verlangt von dem Beklagten, einem Facharzt für Orthopädie, Schmerzensgeld und Verdienstausfallschaden wegen fehlerhafter Diagnose und Therapie.

2

Seit dem Jahre 1987 war der Kläger bei dem Beklagten in ständiger Behandlung wegen Beschwerden an der Wirbelsäule und den Hüften. Der Beklagte verordnete ihm ein Stützmieder sowie Bewegungsbäder und Reizstrombehandlungen, die bis Mitte Dezember 1988 durchgeführt wurden.

3

Am 20. März 1989 suchte der Kläger den Beklagten erneut auf. Im Krankenblatt vermerkte der Beklagte für diesen Tag: "HWS-Beschwerden". Der Beklagte infiltrierte ihm an diesem Tag und am 22. März 1989 ein Schmerzmittel und ordnete erneut eine Reizstrombehandlung an. Anläßlich einer weiteren Untersuchung am 13. April 1989 diagnostizierte der Beklagte bei dem Kläger Senk- und Spreizfüße und verordnete ihm orthopädische Einlagen.

4

Da sich die Beschwerden des Klägers nicht besserten, überwies der Beklagte den Kläger am 1. Juni 1989 an einen Neurologen. Dieser stellte fest, daß der Kläger von einer Zecke gebissen worden war, was zu einer schweren borrelienindizierten Polyradikulitis geführt hat.

5

Der Kläger hat behauptet, er sei am 20. März 1989 bei dem Beklagten nicht wegen Schmerzen an der Halswirbelsäule vorstellig geworden; er habe vielmehr ausschließlich über ein "Kribbeln" in den Fingern und den Fußzehen sowie über Taubheitsgefühle in den Fußsohlen geklagt und dem Beklagten berichtet, daß die Gefühlsstörungen in Händen und Füßen bei ihm gleichzeitig aufträten.

6

Der Kläger ist der Auffassung, dies habe eine spezifische neurologische Befunderhebung erfordert. Der Beklagte habe ihn daher in der Zeit vom 20. März bis 1. Juli 1989 falsch behandelt.

7

Das Landgericht hat die auf Zahlung eines Schmerzensgeldes von 100.000,00 DM und eines Verdienstausfallschadens von 15.131,52 DM sowie auf Feststellung der Ersatzpflicht des Beklagten bezüglich allen Zukunftsschadens gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Mit der Revision verfolgt der Kläger seine Klageansprüche weiter.

Gründe

8

I.

Das Berufungsgericht stellt fest, daß der Kläger schon am 20. März 1989 an Spätsymptomen einer Polyradikulitis als Folge eines Zeckenbisses gelitten hat und die Diagnose des Beklagten deshalb falsch gewesen ist. Es hält es indes nicht für bewiesen, daß dem Beklagten dieser Diagnoseirrtum als Behandlungsfehler vorzuwerfen ist. Dabei geht es davon aus, daß ein Irrtum in der Diagnose nur dann als Behandlungsfehler gilt, wenn eine eindeutige Krankheitserscheinung in völlig unvertretbarer, der Schulmedizin entgegenstehender Weise gedeutet, elementare Kontrollbefunde nicht erhoben werden oder eine Überprüfung der ersten Diagnose im weiteren Behandlungsverlauf unterbleibt, sofern diese keine Wirkung zeigt. Nach diesen Kriterien ist nach Auffassung des Berufungsgerichts die fehlerhafte Diagnose des Beklagten nicht als Behandlungsfehler zu werten, da es nicht festzustellen vermag, daß der Kläger gegenüber dem Beklagten bereits zu Beginn der neuen Behandlungsperiode am 20. März 1989 über Gefühlsstörungen in Händen und Füßen geklagt hat. Der Beklagte habe mangels auffälliger Befunde, namentlich neurologischer Ausfallserscheinungen, keine Veranlassung gehabt, seine anfängliche Diagnose, die auf den bereits in den Jahren 1987 und 1988 erhobenen Befunden beruht habe, zu überprüfen und den Verdacht zu schöpfen, die Beschwerden hätten möglicherweise andere als orthopädische Ursachen. Nur dann, wenn der Kläger dem Beklagten am 20. März 1989 seine gleichzeitig auftretenden Gefühlsstörungen in Händen und Füßen geschildert hätte, wäre eine spezifische neurologische Befunderhebung erforderlich gewesen.

9

II.

Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht in jeder Hinsicht stand.

10

1.

Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, daß der Kläger für seine Behauptung, er habe dem Beklagten bereits am 20. März 1989 über "kribbelnde" und "einschlafende" Finger und zugleich über entsprechende Erscheinungen in den Zehen und über Taubheitsgefühle an den Fußsohlen berichtet, beweispflichtig ist. Es hat auch in beanstandungsfreier (und von der Revision insoweit nicht angegriffener) Weise dargelegt, daß diese Behauptung durch die Aussagen der Ehefrau des Klägers und dessen Hausarzt Dr. B. nicht bewiesen wurde.

11

2.

Mit Recht wendet sich die Revision allerdings dagegen, daß das Berufungsgericht den Beklagten als Partei vernommen und dessen Aussage verwertet hat.

12

a)

Da sich der Kläger nicht auf eine Parteivernehmung des Beklagten bezogen hatte, durfte das Berufungsgericht eine solche nur unter den Voraussetzungen des § 448 ZPO vornehmen. Voraussetzung für eine Parteivernehmung ist es hiernach, daß das Ergebnis der Verhandlung und einer durchgeführten Beweisaufnahme nicht ausreicht, die richterliche Überzeugung von der Richtigkeit der Darstellung der einen oder anderen Partei zu begründen, daß aber jedenfalls eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der Behauptung besteht; es muß also für die zu beweisende Tatsache bereits "einiger Beweis" erbracht sein (st. Rspr., vgl. z.B. BGH, Urteil vom 05.07.1989 - VIII ZR 334/88 - NJW 1989, 3222, 3223 m.w.N.).

13

Beweisbedürftige Tatsache konnte hier nur sein, daß der Kläger bereits am 20.03.1989 dem Beklagten von dem gleichzeitigen Auftreten der "Einschlaf-" und "Kribbel"-Erscheinungen in den Fingern und den Fußzehen berichtet habe. Dem Berufungsurteil ist aber gerade nicht zu entnehmen, daß es davon ausging, für diese zu beweisende Tatsache sei vor der Parteivernehmung bereits "einiger Beweis" erbracht gewesen. Die Zeugenaussagen haben ersichtlich für das Berufungsgericht keinen Beweis erbracht, auch nicht eine "gewisse Wahrscheinlichkeit". Daß über die angeblich vom Kläger berichteten Beschwerden des Klägers im vom Beklagten geführten Krankenblatt nichts enthalten war, konnte auch nicht "einigen Beweis" für die Behauptung des Klägers erbringen.

14

Der Umstand, daß wegen vorhandener Streichungen und Ergänzungen im Krankenblatt nach Auffassung des Berufungsgerichts zunächst Zweifel verblieben sind, reicht dafür nicht aus. Das Berufungsgericht geht selbst davon aus, daß für die Richtigkeit der Dokumentation im Krankenblatt sogar eine überwiegende Wahrscheinlichkeit spricht.

15

b)

Obwohl das Berufungsgericht hiernach den Beklagten nicht als Partei nach § 448 ZPO vernehmen durfte, verhilft dieser Verfahrensfehler des Berufungsgerichts der Revision allerdings noch nicht zum Erfolg.

16

Das Berufungsgericht hätte danach zwar die Aussage des Beklagten nicht als Beweismittel verwerten dürfen. Aber auch ohne Berücksichtigung dieser Aussage hat der Kläger den von ihm zu erbringenden Beweis nicht geführt. Zu einer Parteivernehmung des Klägers, die die Revision für geboten erachtet, bestand jedenfalls keine Veranlassung.

17

3.

Mit Erfolg rügt die Revision demgegenüber jedoch, daß sich das Berufungsgericht, was den Kenntnisstand des Beklagten am 13. April 1989 und die hieraus herzuleitenden Folgerungen für weitere Diagnose- und Untersuchungsüberlegungen angeht, nicht in verfahrensrechtlich ausreichender Weise mit dem Vorbringen des Klägers und den darin enthaltenen Beweisangeboten auseinandergesetzt hat.

18

Auch nach den Bekundungen des Beklagten selbst hat der Kläger jedenfalls am 13. April 1989 über "Einschlafen" der Finger und über Schmerzen in den Füßen berichtet. Der Kläger seinerseits hat in der Berufungsbegründung vorgetragen, diese unstreitige Information hätte "für den Beklagten Anlaß sein müssen, die Ursache nicht im orthopädischen, sondern im neurologischen Bereich zu suchen und unverzüglich entsprechende Überweisung an einen Neurologen zu veranlassen". Zum Beweis hat sich der Kläger auf Sachverständigengutachten bezogen.

19

Da dieser Vortrag des Klägers nicht an streitige, vom Berufungsgericht nicht als erwiesen angesehene Tatsachenbehauptungen anknüpfte, sondern an unstreitige, vom Beklagten eingeräumte Tatsachen (Information am 13.04.1989 über Taubheitsgefühle in den Händen und über "schmerzende" Füße), hätte sich das Berufungsgericht hiermit auseinandersetzen und, da es über eigene Sachkunde nicht verfügte, ein medizinisches Sachverständigengutachten zu der Frage einholen müssen, ob der Beklagte aus ärztlicher Sicht aufgrund dieses unstreitigen Kenntnisstandes zu weiteren Maßnahmen, insbesondere der Konsultation eines Neurologen, veranlaßt gewesen wäre.

20

III.

Da die Revision zutreffend darauf hinweist, daß der Kläger dem Berufungsgericht zur Kausalitätsfrage unter Bezugnahme auf seine erstinstanzlichen Ausführungen und Beweisantritte ausreichenden Sachvortrag unterbreitet hatte, konnte das Berufungsurteil nicht mit anderer Begründung aufrecht erhalten werden. Es mußte vielmehr aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden, damit die unterlassene Sachverständigenbegutachtung nunmehr vorgenommen wird.

21

Für die neue Verhandlung wird noch darauf hingewiesen, daß das Berufungsgericht an die Bewertung eines Diagnoseirrtums als Behandlungsfehler zu strenge Anforderungen gestellt hat.

22

Was das Berufungsgericht als Behandlungsfehler wertet, ist nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats bereits ein grober ärztlicher Fehler (vgl. Senatsurteil vom 10. November 1987 - VI ZR 39/87 - VersR 1988, 293, 294 = AHRS 6562/20). Zwar sind Irrtümer bei der Diagnosestellung oft nicht die Folge eines vorwerfbaren Versehens des behandelnden Arztes, da die Symptome einer Erkrankung nicht immer eindeutig sind, sondern auf die verschiedensten Ursachen hinweisen können (Senatsurteil vom 14. Juli 1981 - VI ZR 35/79 - VersR 1981, 1033 = AHRS 6560/4; OLG Bamberg. Urteil vom 18. Oktober 1990 mit NA-Beschluß des Senats vom 9. Juli 1991 - VI ZR 41/91 - VersR 1992, 578 = AHRS 1820/16). Soweit die Diagnoseirrtümer lediglich auf eine Fehlinterpretation der Befunde zurückzuführen sind, hat sie der erkennende Senat deshalb stets nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet (vgl. Steffen, Neue Entwicklungslinien der BGH-Rechtsprechung zum Arzthaftungsrecht, 5. Aufl., S. 46). Im übrigen begründet aber das Nichterkennen jeder erkennbaren Erkrankung und der für sie kennzeichnenden Symptome immer einen Schuldvorwurf, sofern nicht ganz besondere Umstände vorliegen (Senatsurteil vom 30. Mai 1958 - VI ZR 139/57 - VersR 1958, 545 = AHRS 6510/6). Unterläßt der Arzt deshalb die Überprüfung seiner ersten Diagnose im weiteren Behandlungsverlauf, dann gilt das entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht nur dann als Behandlungsfehler, wenn die begonnene Therapie keine Wirkung zeigt, sondern auch bereits dann, wenn Krankheitserscheinungen auftreten, die für die angenommene Erkrankung untypisch sind (Senatsurteil vom 28. Mai 1985 - VI ZR 264/83 - VersR 1985, 886, 887 = AHRS 2002/7) oder auch für eine andere Erkrankung sprechen können (vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 17. Oktober 1986 mit NA-Beschluß des Senats vom 2. Juni 1987 - VI ZR 269/86 - VersR 1988, 41 = AHRS 1864/8 und OLG Oldenburg, Urteil vom 1. Juni 1988 mit NA-Beschluß des Senats vom 24. Januar 1989 - VI ZR 195/88 - VersR 1989, 481 = AHRS 1945/4).

Dr. Steffen,
Dr. Kullmann,
Dr. Lepa,
Dr. Müller,
Dr. Dressler