Bundesgerichtshof
Urt. v. 18.01.1994, Az.: 1 StR 745/93
Beweisantizipation; Beweisantrag; Ladung im Ausland; Zeuge; Feststellungen; Ablehnung
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 18.01.1994
- Aktenzeichen
- 1 StR 745/93
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1994, 12473
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlage
Fundstellen
- BGHSt 40, 60 - 64
- JZ 1995, 209-210 (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
- JurBüro 1994, 533 (Kurzinformation)
- MDR 1994, 604 (Volltext mit amtl. LS)
- NJ 1994, 288 (amtl. Leitsatz)
- NJW 1994, 1484-1485 (Volltext mit amtl. LS)
- NStZ 1994, 448 (amtl. Leitsatz)
- NStZ 1994, 351-352 (Volltext mit amtl. LS)
- StV 1994, 229-231
- VRS 1994, 133
Redaktioneller Leitsatz
Das Gericht ist vom Beweisantizipationsverbot befreit, wenn von einer Partei eine Entscheidung über einen Beweisantrag, der die Vernehmung eines im Ausland zu ladenden Zeugen zum Inhalt hat, beantragt wird. Es muß im Falle der Ablehnung diese Antrages die Gründe ausführen, die die Ansicht des Gerichts, die Zeugenaussage sei für die Entscheidungsfindung unerheblich, stützen.
Gründe
Der Angeklagte wurde wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln (Fall II 1 der Urteilsgründe; Strafe: sieben Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe) sowie wegen eines weiteren Delikts des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Fall II 2 der Urteilsgründe; Strafe: drei Jahre Freiheitsstrafe) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Darüber hinaus wurde dem Angeklagten im Hinblick auf die Tat im Fall II 2 der Urteilsgründe die Fahrerlaubnis entzogen, sein Führerschein eingezogen und für eine Neuerteilung eine Sperrfrist von drei Jahren verhängt.
I. Seine gegen dieses Urteil gerichtete Revision hat mit einer Verfahrensrüge teilweise Erfolg:
1. Im Fall Ziffer II 1 der Urteilsgründe hat die Strafkammer insgesamt sieben Einzelakte festgestellt.
Im Fall Ziffer II 1 f hat der Angeklagte nach den Urteilsfeststellungen am 22. März 1988 zufällig den Zeugen K. zwischen Wildflecken und Langenleiten getroffen, mit ihm ein Rauschgiftgeschäft vereinbart und dies am nächsten Tag durchgeführt.
Diese Feststellung ist im wesentlichen auf die von der Strafkammer als glaubwürdig angesehene Aussage des Zeugen K. gestützt.
Der Angeklagte hat sich demgegenüber darauf berufen, er habe sich zur Tatzeit in Spanien aufgehalten, und hat hierfür Beweis angeboten:
a) Im Hauptverhandlungstermin vom 9. Februar 1993 stellte er folgenden Beweisantrag:
" (Es) wird beantragt die Vernehmung der Zeugin B. O.
Die Zeugin wird bekunden, daß sich der Angeklagte ab dem 22. 08. 1988 in Spanien aufgehalten hat und am 22. 08. 1988 im Hotel "Maritim" in, Costa Brava, Espania, übernachtet hat. ... "
Diesen Antrag hat die Strafkammer unter Berufung auf § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO durch einen im Hauptverhandlungstermin vom 9. März 1993 verkündeten Beschluß abgelehnt und zur Begründung folgendes ausgeführt:
"Selbst wenn die Zeugin O. die oben angegebene Behauptung bekunden würde, so hätte die Strafkammer im Wege der Beweiswürdigung zu werten, ob sie dieser Aussage der Zeugin O. oder der Aussage des Zeugen Mat. K. Glauben schenkt, da sich diese beiden Aussagen hinsichtlich des Anklagepunktes 8 der Anklageschrift vom 06. 03. 1990 widersprechen. Denn der Zeuge Mat. K. bekundet, daß er den Angeklagten am 22. 03. 1988 auf der Straße von Langenleiten nach Wildflecken getroffen und den Kauf und die Lieferung von 250 g Amphetamin verabredet habe, woraufhin der Angeklagte am darauffolgenden 23. 03. 88 das Amphetamin in einem "Bunker" hinterlegt und die bereits abgelegte Kaufsumme von ca. 5. 000, -- DM in Empfang genommen habe."
b) Im Hauptverhandlungstermin vom 11. Mai 1993 legte der Angeklagte eine Rechnung des Hotels "Maritim" in (Spanien) vom 30. März 1988 vor. Die Rechnung ist auf seinen Namen ausgestellt und betrifft Übernachtungen vom 22. März bis 29. März 1988.
Zugleich stellte er folgenden Beweisantrag: "Weiterhin wird beantragt,
die Vernehmung der Zeugin Me. R., zu laden unter der o.g. Anschrift des Hotel Maritim.
Die Zeugin arbeitet seit zumindest 1988 als Angestellte in der Rezeption des Hotel Maritim.
Sie wird bekunden, daß Herr Ro. M. in der Zeit vom 22. 03. -29. 03. 1988 in dem o.g. Hotel übernachtet hat und ihm dementsprechend die Rechnung vom 30. 03. 1988 zur Begleichung erstellt wurde."
Diesen Antrag hat die Strafkammer ebenfalls unter Berufung auf § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO durch einen im Hauptverhandlungstermin vom 27. Mai 1993 verkündeten Beschluß abgelehnt und zur Begründung folgendes ausgeführt:
"Selbst wenn die benannte Zeugin (gemeint ist damit die Zeugin R.) die im Beweisantrag angegebene Tatsache bekunden sollte, so steht diese insofern im Gegensatz zu der Aussage des Zeugen Mat. K., der bekundete, am 22. 3. 1988 den Angeklagten auf der Straße zwischen Wildflecken und Langenleiten getroffen zu haben. Im übrigen setzt die Inrechnungstellung eines angemieteten Hotelzimmers nicht voraus, daß dieses auch vom Angeklagten tatsächlich genutzt wurde, selbst wenn es auf seinen Namen reserviert war.
2. Dieses Vorgehen beanstandet die Revision mit Erfolg.
a) Der durch Artikel 2 Nr. 4 des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 (BGBl I 50, 51) neu geschaffene § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO bestimmt, daß Beweisanträge, die auf die Vernehmung von Zeugen gerichtet sind, deren Ladung im Ausland zu bewirken ist, nach den gleichen Grundsätzen zu bescheiden sind wie Beweisanträge auf Einnahme eines Augenscheins.
Unabhängig davon, ob im Einzelfall die Ladung des Zeugen mit Schwierigkeiten verbunden ist, und unabhängig davon, ob und in welchem Umfang mit der Ladung des Zeugen eine Belastung des internationalen Rechtshilfeverkehrs in Strafsachen verbunden ist (zu diesem im Gesetzgebungsverfahren hervorgehobenen Umstand vgl. BRDrucks. 314/91 S. 103), ist angesichts dieser gesetzlichen Regelung allein entscheidend, ob die Beweiserhebung nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist. Maßgebendes Kriterium ist daher, ob die Erhebung des beantragten Beweises ein Gebot der Aufklärungspflicht ist (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 41. Aufl. § 244 Rdn. 43 f, 78; Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß 5. Aufl. S. 740 jew. m.w.Nachw.). Daraus folgt, daß das Gericht, anders als bei der Bescheidung sonstiger Beweisanträge gemäß § 244 Abs. 3 StPO, hier vom Verbot der Beweisantizipation befreit ist. Es darf also seine Entscheidung davon abhängig machen, welche Ergebnisse von der Beweisaufnahme zu erwarten sind und wie diese zu erwartenden Ergebnisse zu würdigen wären. Kommt das Gericht dabei unter Berücksichtigung sowohl des Vorbringens zur Begründung des Beweisantrags als auch der in der bisherigen Beweisaufnahme angefallenen Erkenntnisse zu dem Ergebnis, daß der benannte Zeuge die Beweisbehauptung nicht werde bestätigen können, oder daß ein Einfluß auf seine Überzeugung auch dann sicher ausgeschlossen sei, wenn der benannte Zeuge die in sein Wissen gestellte Behauptung bestätigen werde, ist eine Ablehnung des Beweisantrags rechtlich nicht zu beanstanden.
b) Eine dementsprechende Ablehnung eines solchen Beweisantrags bedarf jedoch eines Gerichtsbeschlusses (§ 244 Abs. 6 StPO), der die für die Ablehnung wesentlichen Gesichtspunkte, wenn auch nicht in allen Einzelheiten, so doch in ihrem tatsächlichen Kern verdeutlichen muß (vgl. Herdegen in KK 3. Aufl. § 244 Rdn. 85). Die Begründung des Ablehnungsbeschlusses hat die Funktion, den Antragsteller davon zu unterrichten, wie das Gericht den Antrag sieht, damit er in der Lage ist, sich in seiner Verteidigung auf die Verfahrenslage einzustellen, die durch die Antragsablehnung entstanden ist. Zugleich soll durch die Gründe des Ablehnungsbeschlusses auch dem Revisionsgericht die rechtliche Überprüfung des Beschlusses ermöglicht werden (st. Rspr., vgl. die Nachw. bei Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO. § 244 Rdn. 41a).
c) Diesen Anforderungen werden die genannten Beschlüsse nicht gerecht.
(1) Davon, daß die in den Anträgen benannten Zeuginnen die in ihr Wissen gestellten Tatsachen nicht würden bestätigen können, geht die Strafkammer ersichtlich nicht aus.
(2) Die Feststellung, daß den Beweisbehauptungen entsprechende Aussagen gewürdigt werden müßten, verdeutlicht nicht, warum diese Würdigung mit Sicherheit ergeben würde, daß diesen Aussagen nicht zu folgen wäre. Konkrete Gründe dafür, daß derartige Aussagen auf keinen Fall die Aussage des Zeugen K. entkräften könnten, ergeben sich aus den Beschlüssen nicht.
In diesem Zusammenhang ist auch die vorgelegte Rechnung zu berücksichtigen. Es mag dahinstehen, ob der bloße Hinweis darauf, daß die Inrechnungstellung eines angemieteten Hotelzimmers nicht dessen tatsächliche Benutzung belege, auch ohne konkretisierende Ausführungen eine hinlängliche Stütze für eine solche Annahme wäre. Jedenfalls macht dieser Hinweis aber nicht deutlich, warum eine Aussage falsch wäre, die bestätigt, daß das Zimmer von demjenigen benutzt worden ist, auf den die Rechnung ausgestellt ist.
(3) Besonderheiten, die eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO.), sind nicht erkennbar. Es ist nicht ersichtlich, daß etwa zwischen dem Angeklagten und den Zeuginnen derartige Beziehungen bestanden hätten, die den Wert entlastender Aussagen von ihnen von vornherein erheblich mindern würden, oder daß etwa die Richtigkeit der Aussage des Zeugen K. von weiteren Erkenntnissen bestätigt würde, die zu bedeutsam wären, als daß eine hierauf gestützte Überzeugung von gegenteiligen Zeugenaussagen noch ernsthaft in Frage gestellt werden könnte.
c) Der aufgezeigte Mangel führt nicht nur zur Aufhebung der Feststellungen im Fall II 1 f der Urteilsgründe, sondern auch zur Aufhebung der Feststellungen im Falle II 1 e. Auch diese Feststellungen sind in ihrem wesentlichen Teil nur auf die Aussage des Zeugen K. gestützt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Strafkammer auch in diesem Fall seine Glaubwürdigkeit anders beurteilt hätte, wenn sie seine Aussagen im Fall II 1 f als widerlegt angesehen hätte.
II. Da die Strafkammer die vom Zeugen K. geschilderten Vorgänge - für sich genommen den Angeklagten nicht beschwerend - als Teilakte einer fortgesetzten Handlung angesehen hat, führt die Aufhebung des Urteils in diesen Punkten zur Aufhebung des Schuldspruchs unter II 1 insgesamt (vgl. Pikart in KK 3. Aufl. § 353 Rdn. 15 m.w.Nachw.).
Jedoch hat der Senat die Feststellungen hinsichtlich der übrigen Einzelakte aufrechterhalten. Das hiergegen gerichtete Revisionsvorbringen beschränkt sich auf Erwägungen tatsächlicher Art, die im Revisionsverfahren unbeachtlich sind. Die Strafkammer hat Gesichtspunkte, die gegen die Glaubwürdigkeit der Zeugen Z. und D. sprechen könnten, eingehend erwogen. Ihre Überzeugung, gleichwohl seien diese Aussagen glaubwürdig, beruht auf rechtlich nicht zu beanstandenden Erwägungen. Darauf, ob auch eine andere Beurteilung möglich wäre, kommt es nicht an.
Die Verfahrensrüge hinsichtlich des Zeugen Sch. ist nicht zulässig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), da das zugrunde liegende Verfahrensgeschehen nicht erkennbar wird.
Der Schuldspruch und die ihm zugrunde liegenden Feststellungen im Fall II 2 der Urteilsgründe sind ebenfalls nicht zu beanstanden.
III. Die Aufhebung des Schuldspruchs im Fall II 1 führt hier nicht nur zur Aufhebung der in diesem Fall verhängten Einzelstrafe und der Gesamtstrafe, sondern wegen des inneren Zusammenhangs der Taten auch zur Aufhebung der Einzelstrafe im Fall II 2. Die nur auf den Fall II 2 der Urteilsgründe gestützte Entziehung der Fahrerlaubnis und die Bemessung der Sperrfrist für eine Neuerteilung sind dagegen ohne den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler. Insoweit kann der Rechtsfolgenausspruch daher bestehen bleiben.
IV. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:
1. Eine (etwaige) Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 MRK stellt einen besonderen Strafmilderungsgrund dar, der neben dem strafmildernden Gesichtspunkt des Zeitablaufs zwischen Tat und Aburteilung bestehen kann und als solcher eigenständig zu berücksichtigen und in den Urteilsgründen zu erörtern ist (BGH StV 1992, 452 m.w.Nachw.).
2. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Anrechnungsentscheidung gemäß § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB in den Urteilstenor aufzunehmen (vgl. die Nachw. bei Hürxthal in KK 3. Aufl. § 260 Rdn. 41).
V. Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen die Kostenentscheidung des angefochtenen Urteils ist durch die (teilweise) Zurückverweisung gegenstandslos geworden.