Bundesgerichtshof
Beschl. v. 05.02.1992, Az.: 5 StR 677/91
Unbegründetheit eines Rechtsmittels im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO; Berechnung der Belastungswahrscheinlichkeit; Beweiswürdigung einer Wahrscheinlichkeitsaussage
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 05.02.1992
- Aktenzeichen
- 5 StR 677/91
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1992, 16479
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Lüneburg - 01.10.1991
Rechtsgrundlage
Fundstellen
- NStZ 1992, 601-602 (Volltext mit amtl. LS)
- StV 1992, 312-313
Verfahrensgegenstand
Schwere räuberische Erpressung u.a.
Prozessgegner
1. Susanne N. geborene H. aus L. dort geboren am ... 1963
2. Ertan Y. aus W., OT Ho., geboren am ... 1966 in I. (Türkei), zur Zeit in Haft
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat
nach Anhörung des Generalbundesanwalts
am 5. Februar 1992
gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO
einstimmig beschlossen:
Tenor:
- 1.
Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 1. Oktober 1991 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,
- a)
soweit es die Angeklagte N. betrifft,
- b)
soweit es den Angeklagten Y. betrifft, hinsichtlich der Verurteilung wegen schwerer räuberischer Erpressung und im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
- 2.
Die weitergehende Revision des Angeklagten Yapa wird verworfen.
- 3.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten Y. wegen schwerer räuberischer Erpressung und wegen fortgesetzten gemeinschaftlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln unter Einbeziehung von Geldstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sieben Monaten verurteilt und die Angeklagte N. wegen Anstiftung zu schwerer räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Gegen dieses Urteil wenden sich beide Angeklagte mit der Sachrüge. Das Rechtsmittel des Angeklagten Y. ist im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO unbegründet, soweit es sich gegen die Verurteilung wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln und die deswegen ausgesprochene Einzelstrafe richtet. Die weitergehende Revision dieses Angeklagten und die Revision der Angeklagten N. haben Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).
1.
Das Landgericht hat seine Überzeugung, daß der Angeklagte Y. am 30. November 1990, maskiert mit einer Strumpfhose des Sohnes der Angeklagten N., eine Postbotin überfallen und die Herausgabe von ca. 7.500,- DM erzwungen hat, auch auf ein Sachverständigengutachten gestützt, das in der Strumpfhose gefundene Haare (Spurenhaare) mit solchen des Angeklagten und zweier weiterer Tatverdächtiger (Vergleichshaare) vergleicht. Dem Gutachten ist zu entnehmen, daß die Vergleichshaare der Zeugen Ho. und Sch. - beide sind blond - nicht mit den Spurenhaaren übereinstimmen. Dagegen stimmen Merkmale der Spurenhaare und der Haare des - dunkelhaarigen - Angeklagten überein.
Das Landgericht geht - dem Sachverständigen folgend - davon aus, daß
die mikromorphologische Untersuchung die Übereinstimmung zahlreicher Vergleichshaare mit einem Spurenhaar in den Pigmentierungsmerkmalen,
die Untersuchung zur AB O- und Keratintypisierung das Vorhandensein der Merkmale B und Kl bei Spuren- und Vergleichshaaren
ergeben. Dazu hat das Landgericht - wiederum dem Sachverständigen folgend - ausgeführt,
bei der mikromorphologischen Untersuchung der Pigmentierung sei theoretisch mit einer Fehlerquelle von 5 % zu rechnen; die Wahrscheinlichkeit des Fehlers vermindere sich mit der Vielzahl von Haaren, die jeweils Übereinstimmungen mit einem Spurenhaar zeigen. Bei der mitteleuropäischen Bevölkerung trete das Merkmal B bei 10,6 %, das Merkmal Kl bei 75 % auf; bei der türkischen Bevölkerung, der Angeklagte ist türkischer Abstammung, trete das Merkmal B mit einer Häufigkeit von 17,9 % auf;
die Kombination der Merkmale ergebe nach der Produktregel eine "Wahrscheinlichkeit für einen anderen Täter" (als den Angeklagten) von 0,3975 % (5 % × 10,6 % × 75 % = 0,3975 %). Damit spreche das Untersuchungsergebnis mit "außerordentlich hoher Wahrscheinlichkeit" für die Spurenverursachung durch den Angeklagten Yapa.
2.
Damit hat das Landgericht bei der Beweiswürdigung eine Wahrscheinlichkeitsaussage zugrunde gelegt, die rechtlicher Prüfung nicht standhält. Zweifelhaft ist, ob der Tatrichter bei der statistischen Wahrscheinlichkeit des Auftretens des Merkmals B auf die "mitteleuropäische Bevölkerung" abstellen durfte.
Fehlerhaft ist jedenfalls, daß die Fehlerquote, die bei der Untersuchung der Pigmentierung auftritt, mit der Häufigkeit des Auftretens von Haarmerkmalen bei anderen Personen als dem Täter gleichgesetzt worden ist.
Außerdem darf die hier benutzte Produktregel bei der Berechnung der Merkmalswahrscheinlichkeit nur dann zugrunde gelegt werden, wenn die Merkmale voneinander unabhängig sind. Dazu verhält sich das Urteil nicht. Denkbar ist, daß die Häufigkeit des Auftretens der Merkmale von der Pigmentierung abhängt oder daß die beiden Merkmale ihrerseits voneinander abhängig sind, daß also Korrelationen im Sinne von bedingten Wahrscheinlichkeiten vorliegen (vgl. Knußmann NStZ 1991, 175, 176).
Schließlich beantwortet die vom Landgericht vorgenommene Berechnung nur die Frage der Merkmalswahrscheinlichkeit, nämlich die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten der Merkmalskombination unter der Bedingung, daß das Vergleichshaar nicht vom Täter stammt. Die Wahrscheinlichkeit, daß der Angeklagte Täter ist (Belastungswahrscheinlichkeit), kann indes auf diese Weise nicht beantwortet werden (vgl. Hellmiß NStZ 1992, 24; zur Vaterschafts- und Merkmalswahrscheinlichkeit bei der biostatistischen Vaterschaftsbegutachtung vgl. BGH NJW 1982, 2124; 1990, 2312).
3.
Die Annahme des Landgerichts, die Übereinstimmung der Merkmale beim Vergleich der Haare entspreche einer "außerordentlich hohen Wahrscheinlichkeit für die Spurenverursachung durch den Angeklagten", wäre dennoch hinzunehmen, wenn das Landgericht damit nur zum Ausdruck gebracht hätte, daß der Haarvergleich den Angeklagten belaste und die ebenfalls verdächtigen Ho. und Sch. dagegen entlaste. Das hätte aber zur Voraussetzung gehabt, daß sich das Landgericht aufgrund anderer Indizien rechtsfehlerfrei überzeugt hätte, daß eine vierte Person als Täter ausscheidet. Von letzteren geht das Landgericht zwar aus. Der Senat kann aber nicht ausschließen, daß sich der Tatrichter durch die Annahme eines hohen Wahrscheinlichkeitswertes für die Täterschaft des Angeklagten den Blick dafür verstellt hat, daß auch eine andere Person als der Angeklagte und die beiden Zeugen Ho. und Sch. in Betracht kommen kann.
4.
Die Aufhebung der Verurteilung des Angeklagten Yapa wegen schwerer räuberischer Erpressung führt dazu, daß auch der Schuldspruch gegen die Angeklagte N. wegen Anstiftung zu dieser Tat aufgehoben werden muß.
Horstkotte
Schäfer
Häger
Nack