Bundesgerichtshof
Urt. v. 08.11.1991, Az.: V ZR 260/90
Sittenwidrigkeit; Grobes Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung; Verwerfliche Gesinnung; Handlungsgehilfe; Willensmängel; Kenntnis; Stellvertreter; Vertretungsmacht; Vollmacht; Genehmigung durch den Vertretenen; Sittenwidriges Rechtsgeschäft; Zurechnung
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 08.11.1991
- Aktenzeichen
- V ZR 260/90
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1991, 14170
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
Fundstellen
- DB 1992, 1040-1041 (Kurzinformation)
- DNotZ 1993, 164-166
- IBR 1992, 121 (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
- IBR 1992, 126 (Volltext mit red. LS u. Anm.)
- LM H. 8 / 1992 § 138 (Aa) BGB Nr. 40
- MDR 1992, 343-344 (Volltext mit amtl. LS)
- NJ 1992, 184 (amtl. Leitsatz)
- NJW 1992, 899-900 (Volltext mit amtl. LS)
- WM 1992, 441-442 (Volltext mit amtl. LS)
- ZBB 1992, 218
Amtlicher Leitsatz
1. Vom Vorliegen eines groben Mißverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung, das den Schluß auf eine verwerfliche Gesinnung des Begünstigten zuläßt, kann bereits dann ausgegangen werden, wenn der Wert der Leistung knapp doppelt so hoch ist, wie der Wert der Gegenleistung.
2. Überläßt der Verkäufer die Verhandlungen und den tatsächlichen Vertragsschluß vollständig einer mit der Sachlage allein vertrauten Hilfsperson, muß er sich deren Wissen im Rahmen des § 138 I selbst dann entsprechend § 166 I zurechnen lassen, wenn die Hilfsperson ohne Abschlußvollmacht tätig wurde und der Eigentümer ihr Handeln später genehmigt hat.
Tatbestand:
Der Kläger und seine Ehefrau kauften am 19. November 1986 von den Beklagten zwei je 71,68 qm große und gleich gebaute Eigentumswohnungen, die eine für 50.000 DM die andere für 110.000 DM; die teuerere Wohnung war vermietet. Im Kaufvertrag heißt es, an den Wohnungen seien erhebliche Reparaturen durchzuführen.
Die Beklagten hatten im April 1985 eine Firma Sch. GmbH "mit der Vermakelung" der Wohnungen beauftragt; die Firma wollte sie für je 99.500 DM zum Verkauf anbieten, wovon die Beklagten je 42.500 DM erhalten sollten. Der erzielte Mehrpreis je Wohnung sollte die Maklerprovision darstellen. Diese Verträge kündigten die Beklagten im Oktober 1985. Mitte November 1986 rief eine Firma E. bei den Beklagten an und erhielt deren Zustimmung zum Verkauf der Wohnungen. Am 28. November 1986 unterzeichneten die Beklagten Alleinverkaufsaufträge an die E., wonach erneut ein über 42.500 DM je Wohnung hinausgehender Betrag die Maklerprovision darstellen sollte.
Der Kläger, dessen Ehefrau ihm ihre Ansprüche abgetreten hat, fordert von den Beklagten Rückzahlung der Kaufpreise von zusammen 160.000 DM Zug um Zug gegen lastenfreie Rückauflassung der Wohnungen. Er behauptet, diese seien höchstens je 30.000 DM wert gewesen; die Beklagten hätten das gewußt und wären verpflichtet gewesen, ihn über den offenkundigen Wertverfall aufzuklären.
Landgericht und Oberlandesgericht haben die Klage abgewiesen. Mit seiner Revision erstrebt der Kläger weiterhin Verurteilung der Beklagten zur Zahlung; die Beklagten beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
I. 1. Das Berufungsgericht meint, mit Rücksicht auf § 519 Abs. 3 Nr. 2 ZPO sei es nur gehalten, auf die Frage einzugehen, inwieweit die Beklagten Aufklärungspflichten verletzt hätten; denn der Kläger stütze seine Berufung ausschließlich darauf, die Verkäufer hätten die Käufer darüber aufzuklären gehabt, daß geradezu ein Wertverfall der Wohnungen eingetreten und jede der beiden Wohnungen, wie die Beklagten gewußt hätten, höchstens noch 30.000 DM wahrscheinlich sogar nur 10.000 DM wert gewesen sei.
2. Schon der Ausgangspunkt der Erwägungen des Berufungsgerichts ist von Rechtsfehlern beeinflußt.
§ 519 Abs. 3 ZPO bestimmt Form und Inhalt der notwendigen Berufungsbegründung, betrifft also ausschließlich die Frage der Zulässigkeit der Berufung (§ 519 b ZPO). Die Vorschrift besagt danach nur, daß das Berufungsgericht (erst) in eine sachliche Prüfung der Berufung einzutreten hat, wenn das Rechtsmittel den Voraussetzungen des § 519 ZPO entspricht.
Der Umfang der richterlichen Nachprüfungspflicht wird dagegen von den §§ 525, 537 ZPO bestimmt. Die Rechtsanwendung unterliegt danach nicht der Dispositionsfreiheit der Parteien. Das Berufungsgericht hat bei seiner Entscheidung vielmehr selbständig und ohne an die rechtlichen Gesichtspunkte der Parteien oder des ersten Richters gebunden zu sein, den Prozeßstoff nach allen Richtungen von neuem zu prüfen (BGH, Urt. v. 10. Juli 1985, IVa ZR 51/83, NJW 1985, 2828; vgl. auch BGH, Urt. v. 29. April 1986, IX ZR 145/85, NJW-RR 86, 991/992; Gilles, AcP 177, 189, 206 f; Stein/Jonas/Grunsky, ZPO 20. Aufl. § 525 Rdn. 4; - anders Grunsky aaO. § 519 Rdn. 22 und ZZP Bd. 84, 129, 148; weniger weitgehend derselbe ZZP Bd. 88, 49, 60 ff und § 519 Rdn. 23 Wieczorek/Rössler, ZPO 2. Aufl. § 525 A III; einschränkend KG NJW 1983, 291; OLG Bamberg NJW 1979, 2316 [OLG Bamberg 22.05.1979 - 5 U 54/79]). Es hat insbesondere, wenn nur ein prozessualer Anspruch (mit mehrfacher rechtlicher Begründung) erhoben ist, alle in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen zu prüfen (vgl. Rosenberg/Schwab, ZPO 14. Aufl. § 140 III i).
Ob der Kläger tatsächlich, wie das Berufungsgericht meint, seine Klage bzw. seine Berufung beschränkt hat, kann deshalb dahingestellt bleiben.
Das Berufungsgericht durfte danach den Klageanspruch auf Rückzahlung der geleisteten Kaufpreise nicht nur unter dem vom Kläger allein angeführten rechtlichen Gesichtspunkt der Verletzung einer Aufklärungspflicht über den Wert der Kaufobjekte prüfen.
II. Dies hat zur Folge, daß das Urteil des Berufungsgerichts aufgehoben und zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden muß.
1. Ohne Rechtsfehler geht das Berufungsgericht zwar davon aus, daß grundsätzlich eine Pflicht zur Offenlegung über den Wert des Kaufobjektes, selbst wenn dieser (erheblich) unter dem geforderten Preis liegt, nicht besteht.
2. Steht der Wert allerdings in einem auffälligen Mißverhältnis zur geforderten Gegenleistung, muß sich das erkennende Gericht stets die Frage vorlegen, ob der Vertrag nicht nach § 138 Abs. 1 oder 2 BGB nichtig und die Rückforderung des Kaufpreises daher schon nach §§ 812, 818 BGB begründet ist.
So liegt der Fall hier:
a) Das Berufungsgericht ist nicht dem Vortrag des Klägers nachgegangen, die gleichwertigen und zu einem "Gesamtpreis" von 160.000 DM verkauften Wohnungen seien zum Zeitpunkt des Verkaufs höchstens noch je 30.000 DM wert gewesen und die Beklagten hätten dies gewußt. Dieser Wert ist danach für das Revisionsverfahren zugunsten des Klägers zu unterstellen. Dann liegt aber nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ein besonders grobes Mißverhältnis vor, das den Schluß auf eine verwerfliche Gesinnung zuläßt. Dies gilt selbst dann, wenn die Beklagten den ihnen ausbezahlten Kaufpreisanteil von je 42.500 DM für den realen Wert jeder Wohnung hielten. Da nach dem Vortrag des Klägers die unterschiedliche Aufteilung des Kaufpreises auf die zwei Wohnungen lediglich aus "steuerlichen Gründen" vorgenommen worden war, tatsächlich jedoch ein gleicher Kaufpreisanteil gewollt war, wäre jede der beiden Wohnungen für 80.000 DM verkauft worden. Schon in seinem Urteil vom 18. Januar 1980 (V ZR 34/78, WM 1980, 597 f) hat der Senat bei einer Wertrelation von 45.000 DM (Kaufpreis) zu 80.000 DM (Wert des verkauften Grundstücks) ein besonders grobes Mißverhältnis bejaht und in seinem Urteil vom 30. März 1984, V ZR 81/83, WM 1984, 874, 875, bei einem Wertverhältnis von 164.000 DM zu 300.000 DM ebenfalls. In seiner erst nach Erlaß des Berufungsurteils ergangenen Entscheidung vom 18. Januar 1991, V ZR 171/89, NJW-RR 91, 589, hat der Senat ein grobes Mißverhältnis bei einem Wert des Grundstücks von 400.000 DM und einem Kaufpreis von 220.000 DM - bei Zins- und anderen kleinen Vorteilen für den Käufer - angenommen. Danach liegt zwischenzeitlich eine feststehende Senatsrechtsprechung dahin vor, daß bereits dann von einem groben Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung ausgegangen werden kann, wenn der Wert der Leistung knapp doppelt so hoch ist wie der Wert der Gegenleistung.
b) Bestätigt sich der Vortrag des Klägers zum Wert der Eigentumswohnungen und läßt sich feststellen, daß die Beklagten selbst ihre Leistung mit (allenfalls) nur 42.500 DM bewerteten - wofür sprechen könnte, daß sie sich mit einem an sie auszuzahlenden Kaufpreis in dieser Höhe begnügten so liegt der Schluß auf einer verwerflichen Gesinnung der Beklagten, die zur Nichtigkeit des Geschäfts nach § 138 Abs. 1 BGB führen würde, nahe. Denn nach der Lebenserfahrung, die regelmäßig auch der Begünstigte teilt, werden außergewöhnliche Zugeständnisse nicht ohne besondere, den Benachteiligten in seiner Entscheidungsfreiheit hemmende, Umstände gemacht (Senatsurt. v. 18. Januar 1985, V ZR 123/83, WM 1985, 948; vgl. auch Senatsurteile v. 30. Januar 1981, V ZR 70/80, WM 1981, 404 ff und v. 12. Dezember 1986, V ZR 100/85, WM 1987, 353).
c) Schon danach kann die Entscheidung nicht bestehenbleiben; sie ist aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dieses wird Feststellungen zum Wert der Wohnungen und einer Kenntnis der Beklagten hiervon treffen sowie prüfen müssen, ob sich angesichts der Umstände des Verkaufs der Schluß auf das Vorliegen der nach § 138 Abs. 1 BGB erforderlichen subjektiven Merkmale bei den Beklagten ziehen läßt.
4. In diesem Zusammenhang wird der Kläger bei der erneuten Verhandlung Gelegenheit haben, auf den Vortrag der Revision zurückzukommen, daß sich die Beklagten auch einen Kenntnisstand der E. und deren Mitarbeiters St.nach § 166 BGB zurechnen lassen müßten. Die Revision verweist insoweit zu Recht auf einen möglichen Widerspruch im Urteil des Berufungsgerichts; BU 10 unten/11 oben ist angeführt, die E. habe Mitte November 1986 die Beklagten angerufen und von diesen die "Zustimmung zum Verkauf" erhalten; am 28. November hätten die Beklagten einen Alleinverkaufsauftrag der E. zum Verkauf der beiden Wohnungen unterschrieben. BU 12 lehnt das Berufungsgericht aber eine Verantwortlichkeit der Beklagten für Handlungen der E. oder ihres Mitarbeiters mit der Begründung ab, diese sei weder als Verhandlungsgehilfin noch mit dem Vertragsabschluß in vollmachtloser Vertretung beauftragt worden. Es übergeht den Umstand, daß die Beklagten nach ihrem Vortrag die Verhandlungen sowie die Vertragsgestaltung und die Unterzeichnung beim Notar vollständig der E. überlassen haben. Überläßt aber der Verkäufer die Verhandlungsführung und den tatsächlichen Vertragsabschluß vollständig einer mit der Sachlage allein vertrauten Hilfsperson, muß er sich deren Wissen auch im Rahmen des § 138 Abs. 1 BGB entsprechend § 166 Abs. 1 BGB zurechnen lassen; dies gilt auch dann, wenn die Hilfsperson ohne Abschlußvollmacht gehandelt und der Eigentümer das Handeln später genehmigt hat (vgl. BGHZ 83, 293, 297; Palandt/Heinrichs, BGB 50. Aufl. § 166 Rdn. 3). Läßt sich bei Vorliegen eines objektiven Mißverhältnisses eine Kenntnis der Beklagten persönlich hiervon oder von den sonstigen die Sittenwidrigkeit begründenden Umständen nicht feststellen, so wird es weiterer Sachaufklärung und weiterer Feststellungen zum Kenntnisstand der E. und St. sowie einer Zurechnung dieses Wissens zu Lasten der Beklagten bedürfen.