Bundesgerichtshof
Urt. v. 17.10.1991, Az.: 4 StR 465/91
Strafzumessung; Verhältnis Rauschtat zum Vollrausch; Strafrahmenverschiebung; Bewertung des Vollrausches; Auffangtatbestand; Schuldunfähigkeit; Verminderte Schuldfähigkeit
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 17.10.1991
- Aktenzeichen
- 4 StR 465/91
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1991, 11928
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlage
Fundstellen
- DAR 1992, 246-247 (Kurzinformation)
- JR 1993, 33-35
- MDR 1992, 504-505 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1992, 1519-1520 (Volltext mit amtl. LS)
- NStZ 1993, 81
- NStZ 1993, 66-69 (Urteilsbesprechung von Prof. Dr. H.-U. Paeffgen)
- StV 1992, 231-232
Redaktioneller Leitsatz
1. Bei der Strafzumessung ergibt sich der beim Vollrausch maßgebliche Strafrahmen allein aus § 323a Abs. 1 und 2 StGB, ungeachtet des Gewichts der begangenen Rauschtat.
2. Dies liegt daran, daß der Gesetzgeber den Vollrausch nicht schärfer bewerten will als die Rauschtat, so daß sich demzufolge auch eine zwingende Strafrahmenverschiebung ergibt.
3. § 323a StGB ist ein Auffangtatbestand, der immer dann angewendet werden muß, wenn die Schuldunfähigkeit nicht ausgeschlossen werden kann.
4. Zwischen dem Vollrausch und der Rauschtat besteht ein Stufenverhältnis, so daß es durchaus zur Anwendung des in dubio pro reo-Grundsatzes kommen kann.
Gründe
1. Das LG hat den Angekl. F. wegen vorsätzlichen Vollrausches in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Den Angekl. P. hat es "wegen Diebstahls in einem schweren Fall und vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis" unter Einbeziehung einer anderweitig verhängten Freiheitsstrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr sowie wegen vorsätzlichen Vollrausches zu einer (gesonderten) Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Ferner wurde gegen den Angekl. P. eine Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis verhängt. 2. Zum Fall II 3 der Urteilsgründe: Die Angekl. hatten sich seit den frühen Morgenstunden des Tattages herumgetrieben und reichlich Alkohol zu sich genommen. Nachdem sie zunächst mit dem späteren Tatopfer D. und einem Nachbarn D. s in dessen Wohnung zusammengesessen hatten, begaben sie sich mit D. gegen dessen Willen in eine benachbarte Wohnung, zu der sie Zugang hatten. Dort setzten sie ihren Alkoholgenuß fort. Im Verlaufe des Nachmittags steigerten sich die Angekl. unter dem Einfluß des genossenen Alkohols in ihrem aggressiven Verhalten gegenüber D.. Sie mißhandelten ihn etwa eine Stunde lang, wodurch er unter anderem zahlreiche Hautabschürfungen, Kratz- und Schnittwunden, einen Nasenbeinbruch sowie eine Vielzahl zum Teil schwerer Verbrennungen und Verbrühungen erlitt.
Das LG hat das Geschehen als gefährliche Körperverletzung (§ 223 a StGB) gewertet. Es hat die Angekl., deren Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit 3,4 bzw. 3, 3 o/oo betrug, jedoch wegen vorsätzlichen Vollrausches (§ 323 a StGB) verurteilt, weil nach sachverständiger Beratung nicht ausgeschlossen werden konnte, daß die Angekl. aufgrund des genossenen Alkohols nicht in der Lage gewesen waren, "das Unrecht der Tat einzusehen oder zumindest nach dieser Einsicht zu handeln". Das ist hier rechtlich nicht zu beanstanden.
Die für diese Tat verhängten Freiheitsstrafen von jeweils vier Jahren können jedoch keinen Bestand haben, weil die Strafkammer den in § 323 a StGB vorgegebenen Bezug zu der im Rausch begangenen Tat nicht rechtsfehlerfrei in ihre Strafzumessungserwägungen einbezogen hat.
Da die in § 223 a Abs. 1 StGB für die gefährliche Körperverletzung angedrohte Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren betragen kann, war die Strafkammer nach § 323 a Abs. 2 StGB grundsätzlich nicht gehindert, den Strafrahmen des § 323 a Abs. 1 StGB auszuschöpfen. § 323 a StGB soll als Gefährdungsdelikt der generellen Gefährlichkeit entgegenwirken, die allen strafrechtlich geschützten Rechtsgütern mit jedem die Schuldfähigkeit ausschließenden Rausch erwächst (BGHSt 16, 124, 125; 32, 48, 53). Bezieht sich der Schuldvorwurf somit allein auf das schuldhafte Herbeiführen des gefährlichen Zustandes, so liegt es in der Konsequenz des Tatbestandes, daß die Strafe bei leichteren Rauschdelikten unter Umständen die für die Rauschtat angedrohte Strafe erreichen kann, während die Strafe bei schwereren Rauschdelikten um vieles unter der für diese angedrohten Höchststrafe liegt (Spendel in LK StGB 10. Auflage § 323 a Rdn. 286 ). Insoweit handelt es sich um eine Entscheidung innerhalb des Spielraumes gesetzgeberischen Ermessens, die auch von Verfassung wegen nicht zu beanstanden ist (BVerfG, Beschluß vom 27. September 1978 - 1 BvR 1042/78 - bei Spiegel DAR 1979, 181). Der für die Strafzumessung beim Vollrausch maßgebliche Strafrahmen ergibt sich deshalb ungeachtet des Gewichts der begangenen Rauschtat allein aus § 323 a Abs. 1 und 2 StGB.
Aus dem Gesetz läßt sich allerdings nicht unmittelbar entnehmen, ob auch im Rahmen des § 323 a Abs. 2 StGB die bei einer Verurteilung wegen der Rauschtat nach § 49 Abs. 1 StGB vorgeschriebenen Strafrahmenverschiebungen zu beachten sind, ob also etwa eine im Vollrausch begangene Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung - ebenso wie bei einem schuldfähigen Täter nach §§ 223 a Abs. 1, 27 Abs. 2 Satz 2, 49 Abs. 1 StGB - höchstens mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren und neun Monaten bestraft werden darf. Jedoch zeigt sich der innere Zusammenhang von Vollrausch und Rauschtat schon an der Bedeutung der Rauschtat als Bedingung der Strafbarkeit (BGHSt 16, 124, 127 ), in der Abhängigkeit von Strafantrag, Ermächtigung und Strafverlangen in § 323 a Abs. 3 StGB, im Vorrang der actio libera in causa (BGHSt 2, 14, 17 f; 17, 333, 336 ), in der zulässigen Berücksichtigung von Anzahl, Schwere und Auswirkungen der Rauschtaten als Anzeichen der Gefährlichkeit des Rauschzustandes (BGHSt 16, 124, 127; 23, 375, 376; BGH VRS 34, 349; 41, 93, 96 ) sowie im Charakter des Delikts als Auffangtatbestand (BGHSt 32, 48, 50, 51). Dies spricht dafür, daß der Gesetzgeber den Vollrausch gegenüber der Rauschtat jedenfalls nicht schärfer gewertet wissen will, so daß eine zwingende Strafrahmenverschiebung auch im Rahmen des § 323 a Abs. 2 StGB Beachtung finden müßte.
Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob auch bei einer lediglich fakultativen Strafmilderung - wie bei § 21 oder § 23 Abs. 2 StGB - die mögliche Strafrahmenverschiebung nach § 49 Abs. 1 StGB im Rahmen des § 323 a Abs. 2 StGB berücksichtigt werden muß. Denn dann wäre eine konkrete Betrachtungsweise dahingehend erforderlich, ob nach den Umständen des Einzelfalles bei einem (vermindert) schuldfähigen Täter von der Milderungsmöglichkeit Gebrauch gemacht worden wäre. Hier könnte sich ein Wertungswiderspruch ergeben, da es ungereimt erscheinen würde, wenn bei einer von einem Rauschtäter begangenen gefährlichen Körperverletzung ebenso wie bei einem (voll) schuldfähigen Täter ein Strafrahmen bis zu fünf Jahren eröffnet wäre, bei einem erheblich vermindert schuldfähigen Täter aber nur ein solcher bis zu drei Jahren und neun Monaten. Eine allgemeine Versagung der Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB in Fällen rauschbedingter Verminderung der Schuldfähigkeit mit Höchststrafe bis zu fünf Jahren, wodurch dieser Wertungswiderspruch vermieden werden könnte (vgl. Foth DRiZ 1990, 417 und NJ 1991, 386 ), hat der Bundesgerichtshof bisher abgelehnt (vgl. BGHSt 35, 143, 145; BGHR StGB vor § 1 minder schwerer Fall Strafrahmenwahl 4; StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 13; BGH StV 1990, 157 jeweils m.w.Nachw. ). Ob hier eine Strafrahmenverschiebung in Betracht zu ziehen ist oder ob eine Berücksichtigung nur im Rahmen der konkreten Strafzumessung nach § 46 StGB erfolgen kann, bedarf im vorliegenden Fall aber keiner abschließenden Entscheidung. Denn die Strafkammer hätte hier bedenken müssen, daß die Schuldunfähigkeit der beiden Angekl. lediglich nicht auszuschließen war, sie möglicherweise also nur erheblich vermindert schuldfähig waren. Die Verurteilung wegen Vollrausches war nur deswegen erfolgt, weil § 323 a StGB einen Auffangtatbestand darstellt. Ist aber das Verhältnis von Vollrausch zum Verletzungstatbestand (Rauschtat) ein Stufenverhältnis, das die Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo rechtfertigt (BGHSt 32, 48, 57 ), so versteht es sich von selbst, daß dem Verurteilten daraus im Rahmen der Strafzumessung keine Nachteile erwachsen dürfen (BGH StV 1986, 5; vgl. auch BGH NStZ 1987, 70; StV 1988, 328, 329 ). Die Strafkammer hätte deshalb beachten müssen, daß für die Angekl., wären sie wegen gefährlicher Körperverletzung im Zustand verminderter Schuldfähigkeit verurteilt worden, eine Strafe aus dem nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmen des § 223 a Abs. 1 StGB, d.h. nur bis zur Grenze von drei Jahren und neun Monaten, in Betracht gekommen wäre.
Zwar erscheint es nach dem Zusammenhang der Urteilsgründe möglich, daß die Strafkammer angesichts des angenommenen Verschuldensgrades und der Vorbelastung beider Angekl. eine Strafmilderung nicht in Betracht gezogen hätte (vgl. dazu BGHSt 35, 143, 145, 146 m.w. Nachw. ). Denn eine Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 StGB kann abgelehnt werden, wenn der Täter bereits zuvor unter Alkoholeinfluß straffällig geworden ist und deshalb wußte, daß er in einem solchen Zustand zu vergleichbaren Straftaten neigt (BGH NStZ 1986, 114, 115 m.w.Nachw. ). Die im Rahmen der Strafzumessung erörterten Gesichtspunkte sind jedoch nicht von solchem Gewicht, daß hier eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Zweifelssatzes auf die Strafzumessung entbehrlich gewesen wäre.
So hat die Strafkammer dem Angekl. F. vorgehalten, er sei "mehrfach wegen unter Alkoholeinfluß begangener Delikte strafrechtlich in Erscheinung getreten". Die mitgeteilten Vorstrafen weisen jedoch insoweit neben den Verurteilungen wegen fahrlässigen Vollrausches in den Jahren 1974 und 1987 - Verwarnung und Geldauflage bzw. Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu 20 DM - nur Trunkenheitsdelikte im Verkehr aus. Ob auch die den zahlreichen anderen Vorverurteilungen zugrunde liegenden Straftaten im Zusammenhang mit alkoholischer Beeinflussung standen, läßt sich dem Urteil nicht entnehmen. Somit versteht sich ein erhöhter Schuldvorwurf für die im Jahre 1990 begangene Tat jedenfalls nicht von selbst.
Auch die gegen den Angekl. P. angeführten Strafschärfungsgründe hätten bei Annahme verminderter Schuldfähigkeit eine Strafmilderung nach § 49 StGB nicht ohne weiteres ausgeschlossen. Seine nicht einschlägigen Vorstrafen begründen insoweit keinen besonderen Schuldvorwurf. Daß diese "ihm seine schädliche Neigung zu Gewaltdelikten deutlich vor Augen geführt" haben, rechtfertigt nicht den strafschärfenden Vorwurf, es bestehe "durch Minderung und Ausschluß des Steuerungs- und Hemmungsvermögens im Rauschzustand die Gefahr, daß er seine schädlichen Neigungen hemmungslos auslebt".
Die gegen die Angekl. wegen Vollrausches verhängten Freiheitsstrafen von jeweils vier Jahren können deshalb keinen Bestand haben.