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Bundesgerichtshof
Urt. v. 09.04.1991, Az.: VI ZR 106/90

Wirkungen des Beziehens eines Feststellungsantrags allein auf noch nicht ausgeglichene materielle Schäden im Wege der Auslegung durch ein Berufungsgericht; Wirkungen von Auslegungen des Berufungsgerichts; Voraussetzungen des Verneinens eines Feststellungsinteresses bei schweren Verletzungen; Grad der Aussagekraft einer kernspintomographischen Untersuchung gegenüber anderen Untersuchungsformen; Umfang der Beweislast zur Begründung einer Ersatzpflicht für psychische Auswirkungen eines Unfalls

Bibliographie

Gericht
BGH
Datum
09.04.1991
Aktenzeichen
VI ZR 106/90
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1991, 15789
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
OLG Frankfurt am Main - 27.02.1990

Fundstellen

  • DAR 1991, 259-260 (Volltext mit amtl. LS)
  • DAR 1992, 209 (Kurzinformation)
  • MDR 1992, 32 (Volltext mit amtl. LS)
  • NJ 1991, 425 (amtl. Leitsatz)
  • NJW 1991, 2347-2348 (Volltext mit amtl. LS)
  • NZV 1991, 386-387 (Volltext mit amtl. LS)
  • VersR 1991, 704-705 (Volltext mit amtl. LS)

Prozessführer

Karl M., H. straße 6, M.,

Prozessgegner

1) Michael T., S. 33, W.,

2) C. V. AG,
vertreten durch den Vorstand, O. straße 11, K.,

In dem Rechtsstreit
hat der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs
auf die mündliche Verhandlung vom 9. April 1991
durch
den Vorsitzenden Richter Dr. Steffen
und die Richter Dr. Kullmann, Dr. Macke, Dr. Lepa und Dr. v. Gerlach
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 22. Zivilsenats in Darmstadt des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 27. Februar 1990 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil des Klägers erkannt worden ist.

In diesem Umfang wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand:

1

Der damals 35 Jahre alte Kläger hat am 17. Dezember 1973 bei einem Verkehrsunfall, den der Erstbeklagte mit seinem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten Kraftfahrzeug verschuldet hat, eine Hirnkontusion oder eine Gehirnerschütterung, eine etwa 15 cm lange Platzwunde auf der linken Stirnseite, ein sog. Hornersyndrom am rechten Auge (zurückgesunkener Augapfel, Verschmälerung der Lidspalte und Verengung der Pupille), eine Fraktion beider Schienbeinköpfe mit bleibender Bewegungseinschränkung, Arthrosebildung und Muskelverschmächtigung sowie verschiedene Prellungen und Schürfwunden erlitten. In der Folgezeit stellten sich bei ihm psychoorganische Defekte ein, deren Ursache zwischen den Parteien streitig ist. Sie äußern sich in einer Wesensveränderung, geistiger Leistungsschwäche, Sprachstörungen, Lähmungserscheinungen und Verminderung des Geschlechtstriebs. Wegen seiner geistigen Leistungsschwächen konnte der Kläger seine vor dem Unfall ausgeübte Arbeit als Lager ist nicht fortführen und auch keine andere Erwerbstätigkeit aufnehmen. Medizinisch geleitete Versuche, ihn wieder in das Berufsleben einzugliedern, schlugen fehl. Seit Juli 1974 bezieht er eine Unfall-, seit September 1976 eine Erwerbsunfähigkeitsrente.

2

Die Zweitbeklagte hat auf den von dem Kläger geltend gemachten materiellen Schaden 5.000,00 DM und als Schmerzensgeld im August 1.978,00 DM 17.000 sowie im Mai 1979 weitere 5.000,00 DM gezahlt. Der Kläger macht geltend, auch die bei ihm aufgetretenen psychoorganischen Defekte seien auf den Unfall zurückzuführen. Er begehrt die Feststellung, daß die Beklagten zum Ersatz seiner noch nicht ausgeglichenen Schäden aus dem Unfall vom 17. Dezember 1973 verpflichtet seien, und ihre Verurteilung zur Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes sowie einer Schmerzensgeldrente.

3

Das Landgericht hat der Feststellungsklage stattgegeben und die Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 65.000,00 DM abzüglich der bereits geleisteten Beträge und einer Schmerzensgeldrente von monatlich 300,00 DM bis ins Jahr 2003 und von monatlich 200,00 DM in der anschließenden Zeit bis zum Lebensende des Klägers verurteilt. Dabei hat es die psychoorganischen Defekte des Klägers als Unfallfolgen angesehen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht ausgesprochen, daß die Beklagten zum Ersatz der noch nicht ausgeglichenen materiellen Schäden des Klägers verpflichtet seien, und dem Kläger lediglich ein Schmerzensgeld von 35.000,00 DM abzüglich der bereits erfolgten Zahlungen zuerkannt; es hat eine Schadensersatzpflicht für die psychoorganischen Defekte des Klägers verneint. Mit seiner Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

Entscheidungsgründe:

4

I.

Das Berufungsgericht sieht das Feststellungsbegehren des Klägers, welches es allerdings allein auf seine noch nicht ausgeglichenen materiellen Schäden bezieht, als in vollem Umfang begründet an, bemißt indes das Schmerzensgeld wesentlich niedriger als das Landgericht und versagt im Gegensatz zu diesem die Zubilligung (auch) einer Schmerzensgeldrente, weil der Kläger nicht bewiesen habe, daß die bei ihm aufgetretenen psychoorganischen Defekte auf eine bei dem Verkehrsunfall erlittene Hirnschädigung zurückzuführen seien. Das Berufungsgericht stützt sich dabei auf das Ergebnis einer von ihm angeordneten kernspintomographischen Untersuchung des Hirns des Klägers durch Prof. Dr. F., bei der sich kein Hinweis auf eine kontusionelle Hirnschädigung ergeben habe. Hierdurch werde das Ergebnis der in erster Instanz tätig gewordenen Sachverständigen, die die psychoorganischen Defekte des Klägers "mehr oder weniger" auf eine unfallbedingte Hirnschädigung zurückgeführt hätten, widerlegt oder doch schwer erschüttert, zumal die Kernspintomographie den von den anderen Sachverständigen angewandten Untersuchungsmethoden überlegen sei. Soweit der Kläger die ergänzende Anhörung eines der erstinstanzlichen Sachverständigen beantragt habe, sei nicht ersichtlich, daß dieser über geeignetere Forschungsmittel als die Kernspintomographie verfüge.

5

II.

Das Berufungsurteil hält der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.

6

1.

Die Revision beanstandet zu Recht, daß das Berufungsgericht den Feststellungsantrag des Klägers im Tatbestand des angefochtenen Urteils "der Sache nach", d.h. im Wege der Auslegung und damit außerhalb der Beweiskraftwirkung nach § 314 Satz 1 ZPO, allein auf noch nicht ausgeglichene materielle Schäden bezogen hat. Der erkennende Senat ist an diese Auslegung des Berufungsgerichts nicht gebunden, hat vielmehr den Klageantrag, da es sich um eine prozessuale Frage handelt, eigenständig zu beurteilen. Danach erstreckt sich hier der Feststellungsantrag auch auf weitere immaterielle Schadensfolgen. Der Kläger hat vor dem Landgericht ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 24. Juni 1982 die Feststellung begehrt, daß die Beklagten verpflichtet seien, "sämtliche" weiteren und künftigen Schäden aus dem Unfallereignis zu ersetzen. Dies umfaßt schon dem Wortlaut nach auch immaterielle Schäden. Das Landgericht hat ebenfalls dahin tenoriert, daß die Beklagten verpflichtet seien, "sämtliche" weiteren und künftigen Schäden zu ersetzen, und seine dahingehende Entscheidung allgemein damit begründet, daß nach dem Schweregrad der Verletzungen mit weiteren Unfallfolgen gerechnet werden müsse (LGU S. 8); auch dies erfaßt ggfls. weitere immaterielle Schadensfolgen. Durch seinen Antrag auf Zurückweisung der Berufung der Beklagten hat der Kläger sodann zum Ausdruck gebracht, daß er diesen umfassenden Feststellungsausspruch des Landgerichts aufrechterhalten sehen wolle. Nach alledem ist von einem auch weitere immaterielle Schäden einbeziehenden Feststellungsantrag auszugehen und ist insoweit von dem Berufungsgericht noch eine Entscheidung zu treffen. Der Senat weist hierzu darauf hin, daß das Feststellungsinteresse bei so schweren Verletzungen, wie sie der Kläger erlitten hat, nur verneint werden kann, wenn aus der Sicht des Klägers bei verständiger Beurteilung kein Grund bestehen kann, mit Spätfolgen wenigstens zu rechnen (s. zuletzt Senatsurteil vom 30. Oktober 1990 - VI ZR 340/89 - VersR 1991, 320, 322 m.w.N.).

7

2.

Weiter sind die Erwägungen, aus denen das Berufungsgericht bei der Bemessung des sog. Schmerzensgeldes (§ 847 BGB) die Berücksichtigung der psychoorganischen Defekte des Klägers abgelehnt hat, von Rechtsfehlern beeinflußt.

8

a)

Freilich ist das Berufungsurteil insoweit nicht zu beanstanden, als sich das Berufungsgericht auf den Standpunkt stellt, es sei nicht bewiesen, daß die psychoorganischen Defekte des Klägers auf eine bei dem Unfall erlittene organische Hirnschädigung zurückzuführen seien. Nach dem von dem Berufungsgericht eingeholten kernspintomographischen Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. F. sind im Hirn des Klägers keine kontusionellen Schäden zu erkennen und Hirnsubstanzdefekte nicht nachweisbar. Zwar können, wie der Sachverständige selbst ausführt, Residuen feiner cerebraler Faserzerreissungen und Zellschädigungen der kernspintomographischen Untersuchung entgehen. Unbeschadet dessen handelt es sich, wie eine von dem Berufungsgericht vorbereitend eingeholte sachverständige Auskunft ergibt, um eine - auch im Vergleich zur Computertomographie - besonders aussagekräftige Untersuchungsmethode zur Erfassung von, auch zurückliegenden, kontusionellen Hirnschäden und Hirnsubstanzbeeinträchtigungen. Unter diesen Umständen durfte das Berufungsgericht angesichts des Ergebnisses der kernspintomographischen Untersuchung ohne Rechtsfehler davon ausgehen, daß der Kläger den Nachweis einer unfallbedingten Hirnsubstanzschädigung als Ursache für die bei ihm aufgetretenen psychoorganischen Defekte nicht zu führen vermag.

9

b)

Das Berufungsgericht hat sich indes zu Unrecht auf die Prüfung beschränkt, ob den psychoorganischen Defekten des Klägers eine unfallbedingte Hirnsubstanzschädigung zugrunde liegt und sie in dieser Weise eine unfallbedingte physische Ursache haben. Nach der Rechtsprechung des Senats hat der Schädiger grundsätzlich auch für die psychischen Auswirkungen eines von ihm zu verantwortenden Unfalls einzustehen. Eine Grenze findet die Schadensersatzpflicht in diesen Fällen nur dort, wo sich in den psychischen Ausfallerscheinungen bei wertender Betrachtung letztlich nur das allgemeine Lebensrisiko des Verletzten aktualisiert; es fehlt dann am Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen der Verletzungshandlung und der Neurose. Generell ist dagegen eine organische Ursache der psychischen Auswirkungen nicht Voraussetzung für die Ersatzpflicht des Schädigers. Vielmehr genügt die hinreichende Gewißheit, daß die psychisch bedingten Ausfälle ohne den Unfall nicht aufgetreten wären (s. zu alledem Senatsurteile vom 21. September 1982 - VI ZR 130/81 - VersR 1982, 1141, 1142; vom 12. November 1985 - VI ZR 103/84 - VersR 1986, 240, 241; vom 2. Oktober 1990 - VI ZR 353/89 - NJW 1991, 747 und vom 12. März 1991 - VI ZR 232/90 - zur Veröffentlichung bestimmt).

10

Vorliegend lassen es die in erster Instanz eingeholten Sachverständigengutachten, deren Inhalt sich der Kläger nach allgemeinen Grundsätzen, soweit ihm günstig, zu eigen gemacht hat (s. hierzu Senatsurteil vom 8. Januar 1991 - VI ZR 102/90 - zur Veröffentlichung bestimmt), jedenfalls als möglich, wenn nicht gar als wahrscheinlich erscheinen, daß die hier in Frage stehenden Ausfallerscheinungen des Klägers in dem vorerörterten Sinne eine psychisch bedingte Unfallfolge darstellen. So hat der Sachverständige Prof. Dr. L. in seinem Gutachten vom 26. Juli 1985 ähnlich wie bereits in seinem vorangegangenen Gutachten vom 13. August 1983 die Auffassung vertreten, es sei "mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, daß das Gefühl, unschuldig in einen Unfall verwickelt und dadurch geschädigt worden zu sein, wesentlich die Gesamtentwicklung des Herrn M. (= des Klägers) nach 1973 bestimmt hat" (GA Bl. 197, 144); in dem Gutachten vom 13. August 1983 ist in demselben Sinne von einer möglichen psychischen unfallbedingten Beeinträchtigung (GA Bl. 139) und davon die Rede, daß psychogene Mechanismen den jetzigen Zustand des Klägers bewirkt hätten (GA Bl. 143). Nach dem von dem neurologischen Sachverständigen Prof. Dr. Fi. mitverantworteten Gutachten des Dipl.-Psychologen R. sind die Ausfälle des Klägers "zwangslos als psychischer Defektzustand nach erlittener Hirncontusion zu erklären" (GA Bl. 254). Für den Sachverständigen Privatdozent Dr. D. ergibt sich der heutige Zustand des Klägers "aus einem Zusammenwirken zwischen Unfallschädigung und ungünstiger psychogener Verarbeitung" (GA Bl. 278). In seiner Anhörung vor dem Landgericht hat derselbe Sachverständige die Ausfallerscheinungen des Klägers insgesamt als Unfallfolgen bezeichnet (GA Bl. 314).

11

Mit diesen und anderen in dieselbe Richtung weisenden Ausführungen der Sachverständigen hat sich das Berufungsgericht als Folge seiner rechtsfehlerhaft auf die Suche nach einer organischen Ursache verengten Sicht nicht auseinandergesetzt. Das von ihm allein zugrundegelegte Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. F. nimmt entsprechend dem auf die organische Seite beschränkten Gutachtensauftrag zu der Frage, ob es sich bei den Ausfallerscheinungen des Klägers um psychische Unfallauswirkungen handelt, nicht Stellung. Der Rechtsstreit war daher auch aus diesem Grund unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit sich dieses in Auswertung der bereits vorliegenden Sachverständigengutachten und einer etwaigen ergänzenden Beweisaufnahme nunmehr eine Meinung dazu bildet, ob die bei dem Kläger aufgetretenen Ausfallerscheinungen psychisch vermittelte Unfallfolgen darstellen; bejahendenfalls sind sie bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen.

Dr. Steffen
Dr. Kullmann
Dr. Macke
Dr. Lepa
Dr. v. Gerlach