Bundesgerichtshof
Urt. v. 14.08.1990, Az.: 1 StR 62/90
Vergewaltigung ; Strafschärfungsgrund; Ungeschützter Geschlechtsverkehr; Strafzumessung
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 14.08.1990
- Aktenzeichen
- 1 StR 62/90
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1990, 11899
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
Fundstellen
- BGHSt 37, 153
- JZ 1991, 932-933 (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
- JuS 1991, 516
- Kriminalistik 1991, 172
- MDR 1990, 1127-1128 (Volltext mit amtl. LS)
- NJ 1991, 232 (amtl. Leitsatz)
- NJW 1991, 185-186 (Volltext mit amtl. LS)
- NStZ 1991, 33-34 (Volltext mit amtl. LS)
- StV 1991, 255-256
Amtlicher Leitsatz
Daß der Geschlechtsverkehr ungeschützt und mit Samenerguß in die Scheide stattfand, kann bei Vergewaltigung strafschärfend berücksichtigt werden.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zur Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Der Angeklagte beanstandet mit seiner Revision in unzulässiger Weise das Verfahren und erhebt Sachrügen. Das Rechtsmittel ist nicht begründet.
Der Erörterung bedarf nur folgendes: Das Landgericht hat beim Strafmaß "zu Lasten des Angeklagten die Tatsache des ungeschützten Geschlechtsverkehrs mit Samenerguß" in die Scheide berücksichtigt. Im Gegensatz zur Entscheidung des 3. Strafsenats vom 26. Oktober 1984 (NStZ 1985, 215) sieht der Senat hierin keinen Rechtsfehler.
In dem vom 3. Strafsenat zu beurteilenden Fall hatte die Strafkammer strafschärfend gewertet, daß der Angeklagte es "bei dem erzwungenen Geschlechtsverkehr zum Samenerguß in die Scheide der Frauen" hatte kommen lassen; er habe keine Rücksicht auf die Folgen genommen und keine Vorkehrungen gegen eine Schwangerschaft der Geschädigten getroffen. Diese Erwägungen liefen - so der 3. Strafsenat - "im Ergebnis auf einen Verstoß gegen das Verbot der Doppelverwertung von Tatbestandsmerkmalen hinaus (§ 46 Abs. 3 StGB)"; denn es gehöre "zum normalen Erscheinungsbild des vom Tatbestand der Vergewaltigung erfaßten Unrechts, daß der Täter den gewaltsamen Geschlechtsverkehr mit einer empfängnisfähigen Frau auch bis zum Samenerguß ausführt" (BGH a.a.O.).
Dem schließt sich der Senat nicht an.
Der Grund, weshalb Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, für die Strafzumessung nicht verwendet werden dürfen, liegt darin, daß diese Umstände es sind, "die den Gesetzgeber bei der Aufstellung des Strafrahmens geleitet haben und daher auf der ganzen Breite dieses Rahmens bereits berücksichtigt sind und vorausgesetzt werden. Sie können daher nicht dazu helfen, die für die einzelne Tat gerechte Strafe innerhalb dieses Rahmens zu bestimmen" (E 1962 S. 181; wortgleich schon E 1956 S. 62).
Nach § 177 StGB kann nur verurteilt werden, wer die dort aufgeführten Tatbestandsmerkmale verwirklicht, wer also eine Frau mit den dort beschriebenen Mitteln zum außerehelichen "Beischlaf" nötigt. Wann dieses Tatbestandsmerkmal vorliegt, hat die Rechtsprechung in Auslegung der Vorschrift festgelegt: Mit dem Eindringen des Gliedes in den Scheidenvorhof ist der Beischlaf vollendet (BGHSt 16, 175).
Alle Täter, die diese Merkmale verwirklicht haben, sind sich in einem gleich: Sie werden - im Normalfall - mit Freiheitsstrafe zwischen zwei und fünfzehn Jahren bestraft; denn sie haben alle das gleiche getan: den Tatbestand des § 177 StGB vollendet. Diese Gemeinsamkeit endet indes, sobald mehr ins Spiel kommt als nur die bloße Vollendung des Tatbestands. Alles, was die Tat im übrigen begleitet oder sonst prägt, ist nicht mehr bloße Tatbestandserfüllung, sondern "Art der Ausführung", die als Strafzumessungsgrund "namentlich in Betracht kommt" (§ 46 Abs. 2 StGB). Folgerichtig führen die Entwürfe 1956 und 1962 das oben wiedergegebene Zitat fort:
"Das bedeutet allerdings nicht, daß es dem Richter verwehrt wäre, die besondere Art, in der solche Umstände des Tatbestands im Einzelfall gegeben oder verwirklicht sind, bei der Strafzumessung zu verwerten" (E 1962, E 1956 je a.a.O.)
Die Modalitäten des in § 177 StGB genannten Tatbestandsmerkmals "Beischlaf" sind vielfältig. Das gilt für die Art des Eindringens, dessen Zeitdauer und - neben weiterem - auch dafür, ob der Geschlechtsverkehr ungeschützt durchgeführt wurde und Samenerguß in die Scheide stattgefunden hat. Daß Samenerguß zur Vollendung des Tatbestands nicht gehört, ist seit langem gesicherte Rechtsprechung (RGSt 4, 23).
Damit steht fest, daß § 46 Abs. 3 StGB dem Richter nicht verbietet, bei der Strafzumessung nach § 177 StGB zu berücksichtigen, ob die Vergewaltigung ungeschützt erfolgte und mit Samenerguß in die Scheide verbunden war.
Allerdings verwendet der 3. Strafsenat (NStZ 1985, 215) - wie dies auch in anderen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs geschieht (vgl. etwa BGH NStZ 1981, 343 (Gewinnstreben bei Betrug und Untreue)) - den Begriff des "normalen Erscheinungsbildes" (gleichbedeutend: "Normalfall", "Regeltatbild", "regelmäßiges Erscheinungsbild"), zu dem bei § 177 StGB der Geschlechtsverkehr "mit einer empfängnisfähigen Frau auch bis zum Samenerguß" gehöre. Jedoch verkennt diese Auffassung die oben aufgezeigte Grenze des § 46 Abs. 3 StGB. Um "ungeschriebene Tatbestandsmerkmale" handelt es sich hier nicht; wäre dies der Fall, hinge die Vollendung der Tat davon ab, daß sie vorliegen. Darüber hinaus bietet das Gesetz keine Handhabe, andere - mehr oder weniger häufig oder auch "regelmäßig" vorkommende, die Straftat in ihrer Ausgestaltung mit prägende Umstände den "Merkmalen des gesetzlichen Tatbestands" (§ 46 Abs. 3 StGB) als ungeschriebene Merkmale gleichzusetzen.
In Wirklichkeit handelt es sich hier um die Frage, ob Modalitäten der Tatausführung im konkreten Fall hinreichendes Gewicht und hinreichende Unterscheidungskraft zu anderen Spielarten der Tatbestandsvollendung haben, um - unterschieden nach strafschärfenden und strafmildernden Gesichtspunkten - bei der Zumessung der Strafe ins Gewicht zu fallen. Die weitere Argumentation macht deutlich, daß hier das Gebiet des § 46 Abs. 3 StGB verlassen wird:
"Der Vergewaltiger, der in der vom Landgericht erwogenen Richtung Rücksicht walten läßt, mag im Einzelfall Strafmilderung verdienen. Ein Grund zur Strafschärfung liegt allein in der Unterlassung von Vorkehrungen gegen eine Schwängerung jedenfalls nicht" (BGH NStZ 1985, 215).
Für solche Ausführungen ist im Bereich des § 46 Abs. 3 StGB kein Raum. Es gibt kein "Merkmal des gesetzlichen Tatbestandes", das zwar strafmildernd, nicht aber strafschärfend wirken könnte. Zumessungserheblich - positiv wie negativ - kann nur sein, was nicht mehr bloßes Tatbestandsmerkmal ist und damit von § 46 Abs. 3 StGB nicht erfaßt wird.
Entsprechend hat sich die Frage, ob bei der Strafzumessung von einem "normativen Normalfall" oder einem "normalen Erscheinungsbild" auszugehen sei, nicht im Zusammenhang mit § 46 Abs. 3 StGB, sondern bei der - aus der Sicht des § 46 Abs. 3 StGB zulässigen - Strafzumessung erhoben, wobei keine Rolle spielt, ob es sich um den "Normalfall" eines Tatbestandsmerkmals oder den "Normalfall" eines anderen zumessungserheblichen Umstandes (etwa: "nicht in Geldnot", vgl. BGHSt 34, 345) handelt.
Einen (normativen) Normalfall kennt das Gesetz nicht (BGH a.a.O. S. 351).
Tatsächlich ist hier - jenseits und unabhängig von § 46 Abs. 3 StGB - die Frage der Erheblichkeit und Gewichtung von Tatmodalitäten bei der Strafzumessung angesprochen. Nicht jeder Umstand, der einer Straftat (oder ihrem Täter) anhaftet, ist als Zumessungsgrund geeignet; es kann sein, daß er, weil häufig vorkommend, über das Maß der Schuld im Einzelfall wenig aussagt. Jedoch ist das weithin Sache des Tatrichters; er hat im Einzelfall die Bewertung und Gewichtung vorzunehmen und in einer Gesamtschau die Strafe zuzumessen (vgl. BGHSt 34, 345 (349)).
Der Senat hat keinen Zweifel, daß die Tatsache des ungeschützten Geschlechtsverkehrs mit Samenerguß in die Scheide zumessungserheblich sein kann. In der Rechtsprechung war nie umstritten, daß, wo das Strafgesetzbuch die Vollziehung des Beischlafs verbietet, dies "jedenfalls auch der Verhinderung unerwünschter Zeugung" dient (BGHSt 16, 175 (177)); eine gewisse Entsprechung findet das in § 218a Abs. 2 Nr. 2 StGB. Auch die Entscheidung, ein Kind zu empfangen, gehört zur freien Selbstbestimmung der Frau.
Mit dieser Auffassung wird der Frage, ob die Vergewaltigung mit Samenerguß in die Scheide verbunden war, nicht etwa deshalb die Strafzumessungsrelevanz abgesprochen, weil Umstände, die den einem Tatbestand zugrundeliegenden gesetzgeberischen Zweck kennzeichnen, nicht für die Strafzumessung verwendet werden dürfen. Auch der gesetzgeberische Zweck findet seinen Ausdruck im Tatbestand und seiner Auslegung durch die Rechtsprechung. Soweit § 177 StGB auch vor ungewollter Schwangerschaft schützen soll, greift dieser Schutz schon ein, wenn es um die Vollendung des Tatbestands, also um das Eindringen des Gliedes in den Scheidenvorhof geht. Alle weiteren Umstände geben Aufschluß, in welcher Art und Weise dem gesetzgeberischen Anliegen zuwidergehandelt wurde, und sind taugliche Strafzumessungsgründe.
Neuerdings kommt bei der Frage, ob Samenerguß in die Scheide die Strafzumessung beeinflussen kann, der Umstand hinzu, daß damit die erhöhte Gefahr einer HIV-Infektion verbunden sein kann.
Der 3. Strafsenat hat auf Anfrage mitgeteilt, daß er im Hinblick auf die Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen (BGHSt 34, 345) an seiner früheren Rechtsprechung in der in BGH NStZ 1985, 215 wiedergegebenen allgemeinen Form nicht festhält.