Bundesgerichtshof
Urt. v. 22.03.1988, Az.: 4 StR 35/88
Revision gegen Verurteilung wegen Sexuellen Missbrauchs an Kindern; Nicht vorschriftsgemäß besetzte Strafkammer als absoluter Revisionsgrund ; Zu richterlichen Dienstregelungen nach dem Geschäftsverteilungsplan; Feststellung einer Verhinderung ; Zum Verbot aus der Zeugnisverweigerung eines Angehörigen gegen den Angeklagten nachteilige Schlüsse zu ziehen; Richter; Vertretung; Verhinderung; Revision
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 22.03.1988
- Aktenzeichen
- 4 StR 35/88
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1988, 12062
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Bochum - 24.09.1987
Rechtsgrundlagen
- § 21e GVG
- § 222a StPO
- § 222b StPO
- § 52 StPO
- § 176 StGB
- § 174 StGB
- § 349 Abs. 2 StPO
- § 338 Nr. 1 StPO
Fundstellen
- NStZ 1988, 325
- StV 1988, 287
Verfahrensgegenstand
Sexueller Mißbrauch von Kindern u.a.
Amtlicher Leitsatz
Der zur Vertretung berufene Richter kann seine Verhinderung nicht selbst feststellen. Zuständig hierfür ist der Präsident des LG, der grundsätzlich vor Inangriffnahme der richterlichen Tätigkeit, spätestens aber im Verfahren nach §§ 222a, 222b StPO, in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise die Feststellung treffen muß, daß der Richter an der Mitwirkung verhindert ist.
In der Strafsache hat
der 4 Strafsenat des Bundesgerichtshofs
nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers
am 22. März 1988
gemäß § 349 Abs. 4 StPO
beschlossen:
Tenor:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bochum vom 24. September 1987 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten "wegen fortgesetzten sexuellen Mißbrauchs von Kindern in Tateinheit mit fortgesetztem sexuellen Mißbrauch von Schutzbefohlenen" (richtig müßte es heißen: wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch von Schutzbefohlenen in zwei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen) zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Der Angeklagte rügt mit seiner Revision die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Verfahrensbeschwerde, die Strafkammer sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen (§ 338 Nr. 1 StPO), Erfolg.
1.
Der nach dem Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts zuständige Vorsitzende der Strafkammer war wegen Urlaubs an der Mitwirkung verhindert. Dadurch wurde die Strafkammer beschlußunfähig. Für diesen Fall bestimmte der Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts für das Jahr 1987, daß "die Mitglieder der 1. Vertretungskammer in den einander folgenden Vertretungsfällen reihum in der Reihenfolge ihres Dienstalters ..., beginnend mit dem jüngsten, .... als Richter in die von dem Ausfall betroffene Kammer" eintreten (Nr. 2.11), wobei "der Sitzungsdienst in der eigenen Kammer ... dem Sitzungsdienst als Vertreter in einer anderen Kammer" vorgehen sollte (Nr. 2.4).
Die Vertretungskammer für die hier zuständige 3. Strafkammer war die 8. Strafkammer des Landgerichts. Da das dienstjüngste Mitglied der 8. Strafkammer bereits einmal zur Vertretung herangezogen worden war und das zweitjüngste Mitglied wegen Urlaubs nicht mitwirken konnte, wäre nun der Vorsitzende der 8. Strafkammer zur Mitwirkung berufen gewesen. An seiner Stelle hat jedoch wiederum das dienstjüngste Mitglied in der Hauptverhandlung mitgewirkt.
Der Vorsitzende der 8. Strafkammer hat dazu nach Eingang der Revisionsbegründung eine dienstliche Äußerung folgenden Inhalts abgegeben:
"Wegen starker Belastung mit eigenen Rechtsprechungsaufgaben als Vorsitzender der 8. großen und der 5. kleinen Strafkammer war ich an einer Vertretung bei der 3. großen Strafkammer am 17.09.1987 verhindert. Insbesondere hatte ich die Hauptverhandlung für das Umfangsverfahren gegen Z. u.a. - 8 KLs 47 Js 264/86 - vorzubereiten, in dem am 05.10.1987 die jetzt noch andauernde Hauptverhandlung begann. Außerdem hatte ich den Vorsitz wahrzunehmen in der Hauptverhandlung der 8. großen Strafkammer am 16.09.1987 und in der Hauptverhandlung der 5. kleinen Strafkammer am 18.09.1987."
2.
Auf Grund der dienstlichen Äußerung des zur Vertretung berufenen Vorsitzenden Richters steht fest, daß der Verhinderungsfall eigener Sitzungstätigkeit (Nr. 2.4 des Geschäftsverteilungsplanes) am Hauptverhandlungstag in dieser Sache nicht vorlag. Die Frage, ob der Vorsitzende Richter als Vertreter verhindert war, war damit nicht - wie im Falle des Urlaubs oder der Erkrankung - offenkundig. Es bedurfte daher einer von zuständiger Stelle zu treffenden Ermessensentscheidung darüber, welcher Aufgabe - der Tätigkeit in der eigenen oder derjenigen in der Vertreterkammer - der Vorrang vor der anderen zukam (BGHSt 12, 33, 36; 18, 162, 163; 21, 174, 175). Ein Grundsatz, daß die allgemeine Diensttätigkeit in der "eigenen" Strafkammer stets derjenigen als Vertreter in einer anderen Strafkammer vorgeht, besteht nicht (vgl. BGHSt 25, 163, 164); auch der Geschäftsverteilungsplan ging hiervon gerade nicht aus, sondern bestimmte einen Vorrang nur bei auf denselben Tag fallendem Sitzungsdienst.
Der zur Vertretung berufene Vorsitzende Richter konnte seine Verhinderung nicht selbst feststellen. Zuständig hierfür war vielmehr der Präsident des Landgerichts (BGHSt 12, 33, 35; 12, 113, 114; 18, 162; 25, 163; BGH NJW 1974, 870). Dieser hätte grundsätzlich vor Inangriffnahme der richterlichen Tätigkeit (BGHSt 21, 174, 179), spätestens aber im Rahmen des Verfahrens nach §§ 222 a, 222 b StPO (BGHSt 30, 268), in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise die Feststellung treffen müssen, daß der Vorsitzende der 8. Strafkammer an der Mitwirkung in dieser Sache verhindert sei. Da es an einer solchen Feststellung des Landgerichtspräsidenten fehlt, war das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt; dies begründet die Revision (vgl. Rieß NStZ 1982, 296 [BGH 23.03.1982 - 1 StR 674/81]; Hanack in Löwe/Rosenberg 24. Aufl. § 338 StPO Rdn. 25).
3.
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, daß das Aussageverhalten der Zeugin Linda J. entgegen der in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 4. März 1988 (S. 4) geäußerten Ansicht - nicht uneingeschränkt zur Prüfung, ob die den Angeklagten belastenden Angaben glaubhaft sind, herangezogen werden darf (BGHSt 22, 113). Das Verbot, aus der Zeugnisverweigerung eines Angehörigen gegen den Angeklagten nachteilige Schlüsse zu ziehen, gilt unabhängig davon, ob der zur Zeugnisverweigerung Berechtigteüberhaupt keine Angaben macht (BGH MDR 1979, 1040) oder im Ermittlungsverfahren nicht aussagt und sich erst in der Hauptverhandlung äußert (BGHSt 34, 324, 327 = NStZ 1987, 373). Ob es auch anzunehmen ist, wenn der Zeuge zunächst auf sein Zeugnisverweigerungsrecht verzichtet und ausgesagt, dann aber den Verzicht während der Vernehmung gemäß § 52 Abs. 3 Satz 2 StPO widerrufen hat (so Pelchen in KK 2, Aufl. § 52 StPO Rdn. 42), bedarf hier keiner EntScheidung, da das Urteil schon aus dem zu 2. ausgeführten Grund der Aufhebung unterliegt.
Laufhütte
Jähnke
Meyer-Goßner
Richter am Bundesgerichtshof Dr. Brüning ist infolge Urlaubs verhindert, seine Unterschrift beizufügen. Knoblich