Bundesgerichtshof
Beschl. v. 03.07.1986, Az.: 2 StR 98/86
Beweiswürdigung; Zeugenaussage; Indizien; Gesamtbetrachtung
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 03.07.1986
- Aktenzeichen
- 2 StR 98/86
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1986, 11792
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Wiesbaden - 22.10.1985
Rechtsgrundlage
Fundstellen
- MDR 1986, 950-951 (Volltext mit amtl. LS)
- StV 1987, 238
Verfahrensgegenstand
Vergewaltigung
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Berechtigte Zweifel an der Richtigkeit einer den Angeklagten belastenden Zeugenaussage können durch das Zusammentreffen mehrerer Umstände auch dann entstehen, wenn jeder einzelne Umstand die Richtigkeit der Aussage noch nicht in Frage stellt.
- 2.
Selbst wenn jedes einzelne entlastende Indiz noch keine Zweifel an der Richtigkeit der den Angeklagten belastenden Aussagen aufkommen läßt, so kann doch eine Häufung solcher Indizien bei einer Gesamtbetrachtung zu berechtigten Zweifeln führen.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat
am 3. Juli 1986
gemäß § 349 Abs. 4 StPO
beschlossen:
Tenor:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Wiesbaden vom 22. Oktober 1985 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Sein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung hat mit der Sachbeschwerde Erfolg:
1.
Dem Angeklagten, einem 28 Jahre alten Polizeimeister, wird u.a. vorgeworfen, im Jahre 1982 die Ehefrau eines Kollegen, die Zeugin O., in ihrer Wohnung vergewaltigt zu haben. Der Angeklagte behauptet, der Geschlechtsverkehr habe im Einvernehmen mit der Zeugin stattgefunden. Diese Einlassung, die durch zahlreiche Indizien gestützt wird, hält das Landgericht auf Grund der Angaben der Zeugin und ihres Ehemannes für widerlegt.
Die Beweiswürdigung, die das Landgericht zu diesem Ergebnis führt, ist jedoch rechtsfehlerhaft:
- Die Strafkammer hält es zunächst für "schwer verständlich", daß die ihrem Ehemann bis dahin treue Zeugin, die "Unannehmlichkeiten und Mühen" eines Geschlechtsverkehrs mit dem angetrunkenen Angeklagten im eiskalten Schlafzimmer auf sich genommen haben sollte, um ihrem Ehemann sein "Fremdgehen" einmal heimzuzahlen.
Sodann erörtert das Landgericht folgende Umstände, sieht in ihnen aber keine Anzeichen für die Richtigkeit der Einlassung des Angeklagten, er habe den Geschlechtsverkehr einvernehmlich mit der Zeugin durchgeführt:
- Nach dem Geschlechtsverkehr brachte die Zeugin den Angeklagten zur Tür;
- sie sprach zunächst mit niemanden über die angebliche Vergewaltigung. Erst als sie bemerkte, daß der Angeklagte ihr Filzläuse übertragen hatte, glaubte sie "die Mitteilung (über den Vorfall) dann nicht weiter aufschieben (zu) können" und informierte ihren Ehemann;
- die frühere Ehefrau des Angeklagten, die Zeugin Sch., hat bekundet, Frau O. habe mit ihr im Februar 1983 über den Vorfall telefonisch gesprochen und gesagt, sie, die Zeugin O., könne nicht mehr verstehen, wie sie so etwas habe tun können, und es tue ihr leid, daß sie (die beiden Frauen) sich deswegen nicht mehr sehen könnten. Die Zeugin O. hat bestätigt, mit der Ehefrau des Angeklagten über den Vorfall gesprochen zu haben. Von einer Vergewaltigung habe sie nichts gesagt, um ihre Gesprächspartnerin nicht aufzuregen. Entschuldigt habe sie sich aber nicht;
- auch nach, der angeblichen Vergewaltigung unterhielten der Angeklagte und seine Ehefrau weiter - wenn auch eingeschränkt - private Beziehungen zu den Eheleuten O.;
- erst als der Angeklagte im Jahre 1984 Lehrer an der Hessischen Polizeischule werden sollte, erstattete der Zeuge O. Anzeige.
Die Strafkammer sieht in diesen Umständen keine Indizien für die Richtigkeit der Einlassung des Angeklagten, denn
- es sei wahrscheinlich, daß Frau O. den Angeklagten "rein gewohnheitsmäßig zur Tür brachte", zumal sie sich hierbei vergewissern konnte, daß er die Wohnung tatsächlich verließ;
- das anfängliche Verschweigen der Vergewaltigung habe die Zeugin glaubhaft damit erklärt, sie habe unkontrollierte gewalttätige Reaktionen ihres Ehemannes befürchten müssen, da er schon einmal aus weitaus geringfügigerem Anlaß einen Teller mit Essen an die Wand geworfen habe;
- die ehemalige Ehefrau des Angeklagten habe den Anruf der Zeugin O. falsch interpretiert, es liege nahe, daß sie sich verhört habe, die Zeugin O. habe nämlich eine "eher leise Stimme";
- daß O. den Angeklagten erst anzeigte, als dieser Lehrer an der Polizeischule werden sollte, sei dadurch zu erklären, daß er den beruflichen Aufstieg des charakterlich ungeeigneten Angeklagten zum Ausbilder verhindern wollte.
Diese Ausführungen lassen zum einen besorgen, daß das Landgericht den Zweifelssatz nicht hinreichend beachtet hat. Rechtsfehlerhaft ist aber vor allem die Wertung, den genannten Umständen komme keine indizielle Bedeutung zu.
Auch wenn jeder einzelne der genannten Umstände sich nach Auffassung der Strafkammer so deuten läßt, daß ihm die Aussage der Zeugin O., der Angeklagte habe gegen ihren Willen mit ihr geschlechtlich verkehrt, nicht widerspricht, so bleibt er doch ein mehr oder weniger für die gegenteilige Einlassung des Angeklagten sprechendes Indiz. Selbst wenn jedes einzelne Indiz noch keine Zweifel an der Richtigkeit der den Angeklagten belastenden Aussagen aufkommen ließe, so kann doch eine Häufung solcher Indizien bei einer Gesamtbetrachtung zu berechtigten Zweifeln führen. Der Möglichkeit einer derartigen Bewertung hat sich das Landgericht aber dadurch begeben, daß es den genannten einzelnen Umständen zu Unrecht jeglichen Beweiswert abgesprochen hat.
Die Verurteilung wegen Vergewaltigung zum Nachteil der Zeugin O. ist deshalb aufzuheben.
2.
Es ist zu besorgen, daß die fehlerhafte Beweiswürdigung auch die Verurteilung wegen Vergewaltigung zum Nachteil der Zeugin M. beeinflußt hat, die der Angeklagte bereits im Jahre 1981 begangen haben soll. Auch hier sprechen im übrigen mehrere Indizien für die Einlassung des Angeklagten, die Frau habe freiwillig mit ihm geschlechtlich verkehrt. So vor allem der Umstand, daß ihn die Zeugin aus "Haß" fälschlich bezichtigt hatte, sie zum Analverkehr gezwungen zu haben.
Das angefochtene Urteil ist deshalb insgesamt aufzuheben.
Maier
Theune
Niemöller
Gollwitzer