Bundesgerichtshof
Urt. v. 22.09.1982, Az.: IVb ZR 576/80
Restitutionsklage; Restitutionsgrund; Bindungswirkung; Verletzung der Wahrheitspflicht; Zeuge; Restitutionsklage gestützt auf die strafbare Verletzung der Wahrheitspflicht durch einen Zeugen ; Beweislast für Tatsachen, die einen Restitutionsgrund ergeben
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 22.09.1982
- Aktenzeichen
- IVb ZR 576/80
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1982, 12639
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- OLG Hamm - 13.06.1979
Rechtsgrundlagen
Fundstellen
- BGHZ 85, 32 - 39
- JZ 1983, 112-114
- MDR 1983, 119-120 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1983, 230-231 (Volltext mit amtl. LS)
- ZIP 1982, 1486-1489
Amtlicher Leitsatz
- a)
Wird die Restitutionsklage auf die strafbare Verletzung der Wahrheitspflicht durch einen Zeugen gestützt, ist das Zivilgericht bei der Prüfung des Restitutionsgrundes nicht an die rechtskräftige Verurteilung im Strafverfahren gebunden, sondern hat sich selbst davon zu überzeugen, daß die strafbare Handlung begangen worden ist.
- b)
Die Beweislast für die Tatsachen, die einen Restitutionsgrund ergeben, trägt der Restitutionskläger.
Tenor:
Die Revision gegen das Urteil des 5. Senats für Familiensachen des Oberlandesgerichts Hamm vom 13. Juni 1979 wird auf Kosten der Restitutionsklägerin zurückgewiesen.
Tatbestand
Durch rechtskräftiges Berufungsurteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 20. Juni 1975 wurde auf die Klage des Ehemannes (Restitutionsbeklagten) unter Abweisung der Widerklage der Ehefrau (Restitutionsklägerin) die Ehe der Parteien aus dem Verschulden der Ehefrau geschieden. In der Berufungsverhandlung vom gleichen Tage hatte der Zeuge N. beschworen, daß es zwischen ihm und der Ehefrau während eines Sommerurlaubs der Parteien zum Austausch von Zärtlichkeiten gekommen sei.
Wegen dieser Aussage verurteilte das Schöffengericht L. den Zeugen N. durch Urteil vom 15. Juni 1978, rechtskräftig seit dem 29. Juli 1978, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr. Aufgrund seines Geständnisses sowie weiterer Beweise gelangte das Gericht zu der Feststellung, N. habe am 20. Juni 1975 vor dem Oberlandesgericht einen Meineid geleistet; in Wahrheit habe er mit der Ehefrau "nichts gehabt" und habe sie insbesondere nicht geküßt.
Gestützt auf dieses Strafurteil erhob die Ehefrau beim Oberlandesgericht Restitutionsklage mit dem Antrag, das Scheidungsurteil vom 20. Juni 1975 aufzuheben, die Scheidungsklage des Ehemannes abzuweisen und auf ihre Widerklage die Ehe ohne Schuldausspruch zu scheiden.
Das Oberlandesgericht hat darüber Beweis erhoben, ob die Aussage des Zeugen N. falsch war, und hat die Restitutionsklage als unbegründet zurückgewiesen. In den Gründen seiner Entscheidung hat es ausgeführt, es habe nicht die Überzeugung gewinnen können, daß der Zeuge am 20. Juni 1975 falsch ausgesagt habe.
Mit der - zugelassenen - Revision verfolgt die Klägerin ihr Restitutionsbegehren weiter.
Entscheidungsgründe
Das Oberlandesgericht hat die Restitutionsklage für zulässig gehalten, weil eine strafbare Verletzung der Wahrheitspflicht durch einen Zeugen (§ 580 Nr. 3 ZPO) schlüssig behauptet sei und die Voraussetzungen des § 581 Abs. 1 ZPO - hier die rechtskräftige Verurteilung des Zeugen - vorlägen. Die Klage sei aber nicht begründet. Gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 1 EGZPO habe das Zivilgericht selbständig zu prüfen, ob der Zeuge die Straftat begangen habe. Dies könne nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden.
Diese Entscheidung hält der rechtlichen Nachprüfung stand.
1.
Nach § 580 Nr. 3 ZPO findet die Restitutionsklage statt, wenn bei einem Zeugnis, auf welches das Urteil gegründet ist, der Zeuge sich einer strafbaren Verletzung der Wahrheitspflicht schuldig gemacht hat. Dies stellt den Restitutionsgrund dar. § 581 Abs. 1 ZPO bestimmt weiter, daß in den Fällen des § 580 Nr. 1 bis 5 die Restitutionsklage nur stattfindet, wenn wegen der Straftat eine rechtskräftige Verurteilung ergangen ist oder wenn die Einleitung oder Durchführung eines Strafverfahren aus anderen Gründen als wegen Mangels an Beweis nicht erfolgen kann. Damit knüpft das Gesetz in diesen Fällen die Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens an eine weitere Voraussetzung, die zu dem Restitutionsgrund hinzutreten muß. Sie ändert nichts daran, daß ein solcher Grund - im Falle des § 580 Nr. 3 ZPO die strafbare Verletzung der Wahrheitspflicht - vorliegen muß, damit es zur Neuverhandlung der Streitsache (sog. judicium rescissorium) kommen kann.
Von dieser Rechtslage, die sich aus dem insoweit eindeutigen Gesetzeswortlaut ergibt, ist das Oberlandesgericht zutreffend ausgegangen. Auch die Revision erhebt insoweit keine Einwendungen.
2.
Das Oberlandesgericht hat die Restitutionsklage abgewiesen, weil es nicht davon überzeugt sei, daß der Zeuge N. am 20. Juni 1975 in der Ehesache der Parteien falsch ausgesagt habe, und daher das Vorliegen eines Restitutionsgrundes nicht feststellen könne.
Die Revision macht demgegenüber geltend, das Oberlandesgericht sei an das Strafurteil gebunden gewesen. Aus § 581 Abs. 1 ZPO sei zu folgern, daß die Prüfung, ob sich der Zeuge durch seine Aussage strafbar gemacht habe, in vollem Umfang den Gerichten und Behörden der Strafrechtspflege übertragen sei. Das Oberlandesgericht habe daher das Scheidungsurteil vom 20. Juni 1975 aufheben und in eine Neuverhandlung der Ehesache eintreten müssen.
a)
Die Frage, wie weit im Wiederaufnahmeverfahren die Bindung des Zivilrichters an ein rechtskräftiges Strafurteil reicht, ist im Schrifttum umstritten. Nach der herrschenden Ansicht enthält § 581 Abs. 1 ZPO nur Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Restitutionsklage in dem Sinne, daß in den Fällen des § 580 Nr. 1 bis 5 ZPO die Behauptung einer strafbaren Handlung nicht genüge, sondern im Regelfall eine rechtskräftige Verurteilung wegen der Straftat hinzutreten müsse. Restitutionsgrund sei aber nicht die Verurteilung im Strafverfahren, sondern die Begehung der Straftat. Nach Bejahung der Zulässigkeit des Wiederaufnahmeverfahrens habe das Zivilgericht daher ohne formelle Bindung an das Strafurteil zu prüfen, ob der Restitutionsgrund vorliege und die Straftat tatsächlich begangen worden sei (vgl. Stein/Jonas/Grunsky ZPO 20. Aufl. § 581 Rdn. 3; Baumbach/Lauterbach/Hartmann ZPO 40. Aufl. § 581 Anm. 1 C; Rosenberg/Schwab Zivilprozeßrecht 13. Aufl. § 161 II 2 und 3 a S. 978 f.; Jauernig Zivilprozeßrecht 19. Aufl. § 76 II; Johannsen in Festschrift für den 45. Deutschen Juristentag S. 91 zu Fn. 30; aus dem älteren Schrifttum: Förster/Kann ZPO 3. Aufl. § 581 Anm. 2; Sydow/Busch ZPO 21. Aufl. § 581 Anm. 1).
Eine weitergehende Bindung des Zivilrichters an das Strafurteil wird demgegenüber insbesondere von Gaul vertreten (Die Grundlagen des Wiederaufnahmerechts und die Ausdehnung der Wiederaufnahmegründe 1956 S. 77 ff.; zustimmend: Arens, Willensmängel bei Parteihandlungen im Zivilprozeß, 1968 S. 69 f.; kritisch: Braun, Rechtskraft und Restitution 1979, S. 271 ff.). Gaul geht davon aus, daß durch das Strafurteil die Grundlage des im Wiederaufnahmeverfahren angegriffenen Zivilurteils in so offenbarer Weise erschüttert werde, daß das Vertrauen der Allgemeinheit in die Rechtspflege Schaden leiden würde, wenn das Zivilurteil aufrecht erhalten bliebe und nicht zunächst aufgehoben würde. Das Strafurteil äußere daher eine Tatbestandswirkung für den zweiten Abschnitt des Wiederaufnahmeverfahrens ("judicium rescindens"). Erst in dessen drittem Abschnitt, der Neuverhandlung der Streitsache, sei das Zivilgericht frei in der Beurteilung, ob die Straftat tatsächlich begangen worden sei (a.a.O. S. 79). Arens pflichtet dem bei mit der Erwägung, die strafgerichtliche Verurteilung sei nicht lediglich Voraussetzung für die Zulässigkeit der Wiederaufnahmeklage, sondern ein unentbehrlicher Bestandteil des Tatbestandes der Restitutionsgründe des § 580 Nr. 1 bis 5 ZPO (a.a.O. S. 70; dagegen auch Zöller/Schneider ZPO 13. Aufl. § 589 Anm. I 1 - s. aber § 581 Anm. I 1 - Thomas/Putzo ZPO 11. Aufl. § 581 Anm. 1; Schönke/Kuchinke Zivilprozeßrecht 9. Aufl. § 80 IV 2 S. 417; Blomeyer Zivilprozeßrecht § 106 III 5 S. 601; RGZ 150, 392, 396).
b)
Der Bundesgerichtshof hat die erörterte Frage bisher nicht abschließend entschieden. In einem Falle, in dem eine Partei nach Erlaß des Berufungsurteils rechtskräftig wegen Meineides verurteilt und der Restitutionsgrund des § 580 Nr. 1 ZPO noch mit der Revision geltend gemacht worden war, hat er allerdings in den Gründen des zurückverweisenden Urteils ausgesprochen, das Berufungsgericht habe im weiteren Verfahren ohne Bindung an die Feststellungen der Strafkammer das Vorliegen der Straftat zu überprüfen (BGHZ 3, 65, 70) [BGH 09.07.1951 - IV ZR 3/50]. In der Entscheidung BGHZ 50, 115, in der die entsprechende Anwendung des § 581 Abs. 1 ZPO auf die Klage aus § 826 BGB gegen ein rechtskräftiges Urteil abgelehnt wurde, finden sich lediglich beiläufige Ausführungen zu dieser Frage (S. 118 f., 123).
c)
Der Senat teilt die von der herrschenden Meinung vertretene Rechtsauffassung. Wie bereits eingangs hervorgehoben, läßt § 581 Abs. 1 ZPO die Regelung der Restitutionsgründe in § 580 Nr. 1 bis 5 ZPO unberührt und stellt für diese Fälle lediglich ein zusätzliches Erfordernis auf. Im Gesetzgebungsverfahren ist deutlich zum Ausdruck gekommen, daß eine Bindung des Zivilgerichts an die strafrechtliche Verurteilung bei der Prüfung des Restitutionsgrundes nicht beabsichtigt war. Es heißt in der Begründung zu § 520 des Entwurfs, der dem § 581 ZPO entspricht:
"Wenn die im Strafverfahren erfolgende Verurteilung ... für den Richter im Zivilverfahren auch nicht bindend ist, so kann doch ohne Inkonsequenz die außerordentliche Rechtshilfe der Restitution von einer solchen Verurteilung der Regel nach abhängig gemacht werden. Denn unter allen Umständen ist es ein unerwünschter Zustand, daß im Zivilverfahren über eine strafbare Handlung gestritten wird, zu deren Feststellung das zunächst dafür bestimmte Strafverfahren nicht ausreicht. Auch ist die dem Zivilrichter belassene Freiheit der Beurteilung mehr eine prinzipielle als eine tatsächliche und ein Auseinandergehen der Urteile kann nur unter besonderen Umständen erwartet werden" (vgl. Hahn, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, Band 2 S. 381).
In den weiteren Beratungen wurde im Interesse des Abschneidens nochmaliger Beweiserhebungen über die strafbare Handlung der Änderungsantrag gestellt, daß durch das rechtskräftige Strafurteil voller Beweis der strafbaren Handlung begründet werde. Dieser Antrag setzte sich nicht durch. Es wurde dargelegt, daß § 520 des Entwurfs nur formelle Voraussetzungen für die Restitutionsklage enthalte; ob die strafbare Handlung wirklich begangen sei oder nicht, darüber habe der Zivilrichter nach freiem Ermessen zu entscheiden (vgl. Hahn a.a.O. S. 745). Der Gesetzgeber wollte hiernach das Wiederaufnahmeverfahren von einer Vorprüfung der behaupteten strafbaren Handlung im institutionell dafür bestimmten Strafverfahren abhängig machen in dem Sinne, daß bei einem negativen Ergebnis die Wiederaufnahme von vornherein ausscheidet und bei einem positiven Ergebnis nach allgemeinen Grundsätzen keine Bindung des Zivilrichters an das Strafurteil besteht. Die geltende Regelung der §§ 580 Nr. 1 bis 5, 581 Abs. 1 ZPO, § 14 Abs. 2 Nr. 1 EGZPO entspricht voll diesem Willen des Gesetzgebers.
Die Auffassung von Gaul und Arens, wonach das Zivilurteil wegen des Widerspruchs mit dem späteren Strafurteil "zunächst" aufzuheben sei, begegnet schon deshalb Bedenken, weil sie auf eine unzulässige Ausdehnung der im Gesetz abschließend aufgeführten Restitutionsgründe hinausläuft. Wenn die Verurteilung im Strafverfahren nicht der wahren Sachlage entspricht, liegt einer der Restitutionsgründe des § 580 Nr. 1 bis 5 ZPO tatsächlich nicht vor. Würde dennoch in eine Neuverhandlung der Streitsache eingetreten, geschähe dies allein aufgrund der Verurteilung im Strafverfahren. Diese reicht aber für sich nicht aus. Nur wenn sich das Zivilgericht bei der ihm obliegenden Prüfung, ob der geltend gemachte Restitutionsgrund vorliegt, von der Straftat vergewissert hat, ist nach dem Gesetz eine Neuverhandlung der Streitsache unter Durchbrechung der Rechtskraft des früheren Zivilurteils möglich. An die Bejahung des Restitutionsgrundes kann sich die Aufhebung des früheren Urteils durch ein Zwischenurteil knüpfen (RGZ 99, 168, 169), wenn dies auch nicht unbedingt notwendig ist (BGHZ 43, 239, 242) [BGH 10.02.1965 - IV ZR 39/64]. Verfährt das Zivilgericht so, muß es schon bei dieser aufhebenden Entscheidung davon überzeugt sein, daß die Straftat begangen wurde, und nicht erst bei der abschließenden Entscheidung im Wiederaufnahmeverfahren. Im vorliegenden Fall war nach alledem das Oberlandesgericht nicht gehindert, die Frage des Meineides des Zeugen N. im Scheidungsverfahren nachzuprüfen, bevor es in eine Neuverhandlung der Sache eintrat.
3.
Im Rahmen dieser Nachprüfung hat das Oberlandesgericht den Zeugen N. und den Detektiv B. erneut eidlich einvernommen. Es ist zu dem Ergebnis gelangt, entgegen dem Urteil des Schöffengerichts L. vom 15. Juni 1978 lasse sich nicht mit hinreichender Sicherheit der Schluß ziehen, daß die Bekundungen des Zeugen N. im Scheidungsverfahren falsch gewesen seien. Es hat sich hierbei eingehend mit dem Persönlichkeitsbild des Zeugen und anderen als bedeutsam angesehenen Umständen auseinandergesetzt. An irgendwelche Beschränkungen des Streitstoffs hatte es sich hierbei nicht zu halten, da bei der Überprüfung des Restitutionsgrundes von Amts wegen allen Zweifelsfragen nachzugehen ist (vgl. Rosenberg/Schwab a.a.O. § 162 IV 2; s.a. BGHZ 30, 60, 63) [BGH 29.04.1959 - IV ZR 311/58]. Die Angriffe der Revision, das Oberlandesgericht habe § 286 ZPO dadurch verletzt, daß es eine Reihe von Umständen, die für eine Falschaussage sprechen könnten, nicht berücksichtigt habe, greifen nicht durch. Für eine einwandfreie Beweiswürdigung bedarf es nicht des ausdrücklichen Eingehens auf jeden einzelnen Umstand, der für oder gegen eine bestimmte Annahme sprechen kann, wenn sich nur ergibt, daß eine sachentsprechende Beurteilung stattgefunden hat (BGHZ 3, 162, 175 [BGH 27.09.1951 - IV ZR 155/50] m.w.N.). Dies ist hier der Fall.
Es ist schließlich aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, daß das Oberlandesgericht wegen der verbleibenden Ungewißheit über eine Verletzung der Wahrheitspflicht durch den Zeugen N. die Restitutionsklage abgewiesen hat. Wenn das Gericht trotz Erschöpfung der ein sachdienliches Ergebnis versprechenden Beweismittel nicht die Überzeugung zu gewinnen vermag, daß der geltend gemachte Restitutionsgrund vorliegt, ist die Restitutionsklage unbegründet. Die Beweislast für die Tatsachen, die den Restitutionsgrund ergeben, hat nach allgemeinen Grundsätzen der Restitutionskläger zu tragen, weil er aufgrund dieser Tatsachen eine ihm günstige neue Entscheidung erstrebt (vgl. Rosenberg/Schwab aaO; Zöller/Schneider a.a.O. § 590 Anm. 3; s.a. RGZ 89, 1, 5).
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