Bundesgerichtshof
Urt. v. 15.05.1979, Az.: 1 StR 74/79
Gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit vorsätzlichem Vergehen gegen das Waffengesetz; Vorliegen der Voraussetzungen des entschuldigenden Notstandes; Notwehr wegen Vorliegens eines rechtswidrigen gegenwärtigen Angriffs
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 15.05.1979
- Aktenzeichen
- 1 StR 74/79
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1979, 11874
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Karlsruhe - 27.09.1978
Rechtsgrundlagen
Fundstellen
- JA 2006, 806-810 (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
- NJW 1979, 2053-2054 (Volltext mit amtl. LS)
Verfahrensgegenstand
Gefährliche Körperverletzung u.a.
Prozessführer
Diplom-Chemiker Dr. Rolf H. aus P.-Be., geboren am ... 1934 in Ha.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat
in der Sitzung vom 15. Mai 1979,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Pikart,
die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Woesner, Herdegen, Kuhn, Dr. Niepel als beisitzende
Richter,
Erster Staatsanwalt ... als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt Dr. ..., als Verteidiger,
Justizangestellter ... als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 27. September 1978 aufgehoben.
Der Angeklagte wird freigesprochen.
Die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung, begangen in Tateinheit mit vorsätzlichem Vergehen gegen das Waffengesetz, zur Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 80,- DM verurteilt und eine Pistole nebst Munition eingezogen. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten mit der Rüge der Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
I.
Der Schuldspruch wird durch die Feststellungen nicht getragen.
1.
Die Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung (§§ 223, 223 a StGB) kann nicht bestehenbleiben, weil die Prüfung der Voraussetzungen des entschuldigenden Notstandes (§ 35 StGB) ergibt, daß der Angeklagte ohne Verschulden gehandelt hat.
a)
Im Jahre 1975 bemerkten der Angeklagte und seine Ehefrau dreimal, daß ihnen auf unerklärliche Weise aus der Wohnung Geld abhanden kam. Im April 1976 erwachte die Ehefrau des Angeklagten nachts im Schlafzimmer dadurch, daß jemand sie an der Schulter berührte. Sie sah im Halbdunkel einen Mann, der sich alsbald leise entfernte. Der Angeklagte, von seiner Ehefrau verständigt, sah im Wohnzimmer den später Verletzten St. stehen, den er damals nicht kannte. Der Eindringling flüchtete sofort; der Angeklagte setzte ihm nach, konnte ihn jedoch nicht erreichen. Er ließ nach diesen Vorfällen am Gartentor eine Alarmanlage anbringen und erwarb eine Schreckschußpistole.
Etwa sechs Wochen später ertönte abends das Signal der Alarmanlage. Der Angeklagte ergriff die Schreckschußpistole und lief in den Garten. Dicht neben sich bemerkte er denselben Mann, den er früher im Wohnzimmer gesehen hatte. Er gab einen Schuß aus der Schreckschußpistole ab, St. flüchtete wiederum. Der Angeklagte verfolgte ihn, verlor ihn jedoch aus den Augen. Er zeigte die Vorkommnisse der Polizei an, die zum Erwerb eines Waffenscheins und einer Schußwaffe riet. Die Eheleute befürchteten, daß der Eindringling es auf die Ehefrau des Angeklagten oder auf die Kinder abgesehen habe. Ihre Angst steigerte sich derart, daß sie abends fast nie mehr gemeinsam ausgingen, auf Theaterbesuche und die Teilnahme an sonstigen Veranstaltungen verzichteten und keine Einladungen mehr annahmen. Zeitweilig traten bei ihnen Schlafstörungen auf. Frau Dr. H. die eine Arztpraxis betreibt, befürchtete, wenn sie zu nächtlichen Hausbesuchen gerufen wurde, jemand lauere ihr auf. Der Angeklagte ließ nach diesen Ereignissen eine seiner Ehefrau gehörende Pistole in Stand setzen und nahm sie mit deren Einverständnis in Besitz, obwohl er die dazu erforderliche behördliche Erlaubnis nicht hatte.
Am 29. April 1977 ertönte gegen 2.30 Uhr wieder die Alarmanlage. Der Angeklagte und seine Frau verhielten sich ruhig und erbaten telefonisch polizeiliche Hilfe. Bevor diese eintraf, flüchtete der Eindringling. Am 9. September 1977 erwachte der Angeklagte gegen 1.50 Uhr durch ein Geräusch und sah am Fußende seines Bettes einen Mann stehen. Mit einem Schrei sprang er aus dem Bett, ergriff die Pistole und lud sie durch. Der Mann wandte sich zur Flucht, der Angeklagte lief hinterher. Wieder war der Eindringling schneller als er. Der Angeklagte rief mehrfach "Halt oder ich schieße" und schoß schließlich, da St. nicht stehenblieb, zweimal in Richtung auf die Beine des Flüchtenden. Er wollte den Eindringling dingfest machen und so der für die Familie des Angeklagten unerträglichen Situation ein Ende bereiten. Der Angeklagte traf St. in die linke Gesäßhälfte und in die linke Flanke.
b)
Zu Recht lehnt die Strafkammer auf der Grundlage dieser Feststellungen das Vorliegen einer Notwehrlage (§ 32 StGB) ab. Notwehr setzt einen rechtswidrigen gegenwärtigen Angriff voraus. Der Angriff des St. war aber nicht mehr gegenwärtig, denn der Eindringling flüchtete bereits, als der Angeklagte auf ihn schoß. Der Angriff dauerte auch nicht deshalb fort, weil St. etwas entwendet hatte und mit der Beute flüchten wollte (RGSt 55, 82; 63, 221). St. hatte nichts weggenommen, und der Angeklagte wußte das (UA S. 11). Die Befürchtung, St. könne zu einem anderen unbestimmten Zeitpunkt nachts wiederkehren, begründet nicht die Annahme eines gegenwärtigen Angriffs. Daß ein solcher unmittelbar bevorgestanden habe, ist nicht festgestellt.
c)
Ob rechtfertigender Notstand (§ 34 StGB) gegeben ist, wofür nach Lage der Dinge einiges spricht, oder ob im vorliegenden Fall das Festnahmerecht des § 127 StPO den Schußwaffengebrauch rechtfertigt, kann dahingestellt bleiben, denn der Angeklagte handelte gemäß § 35 StGB ohne Schuld.
aa)
Entgegen der Annahme des Landgerichts bestand für die Freiheit des Angeklagten und dessen Ehefrau eine gegenwärtige nicht anders abwendbare Gefahr. Ihr durfte der Angeklagte in der von ihm gewählten Art und Weise begegnen, ohne sich einem Schuldvorwurf auszusetzen. Gefahr im Sinne der Vorschrift ist auch eine Dauergefahr. Sie begründet einen entschuldigenden Notstand, wenn sie so dringend ist, daß sie jederzeit, also auch alsbald, in einen Schaden umschlagen kann, mag auch die Möglichkeit offenbleiben, daß der Eintritt des Schadens noch eine Zeitlang auf sich warten läßt (BGHSt 5, 371, 373). Bei Bestehen einer gegenwärtigen Dauergefahr braucht sich die Abwehr nicht darauf zu beschränken, den sofortigen Eintritt des Schadens zu hindern, die Gefahr also hinauszuschieben; die einheitliche Dauergefahr ist nicht in einen gegenwärtigen und einen zukünftigen Teil zu zerlegen (BGHSt a.a.O. S. 375).
bb)
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Der als "Spanner" bezeichnete Eindringling hatte durch siebenmaliges nächtliches Erscheinen in der Wohnung und im Garten des Angeklagten, insbesondere durch seine auffallende Hartnäckigkeit und Unverfrorenheit, eine fortdauernde Gefährdung der Freiheit der Eheleute geschaffen, die bereits in drastischen Maßnahmen (nächtliche Alarmbereitschaft, Verzicht auf abendlichen Ausgang, Einschränkung ärztlicher Hausbesuche) ihren Ausdruck fand. Zu Recht charakterisiert die Revision die Situation als "Terror, dem das gesamte Familienleben unterlag". Die Gefährdung konnte zum vollständigen Verlust der häuslichen Bewegungsfreiheit führen, wenn es nicht gelang, des Eindringlings habhaft zu werden. Auf den zeitlichen Abstand zwischen den einzelnen Gefährdungen kommt es nicht entscheidend an, wenn feststeht, daß das bedrohte Rechtsgut jederzeit erheblich beeinträchtigt werden kann. Unter diesen Umständen bedarf keiner Entscheidung, ob für die sexuelle Selbstbestimmung der Ehefrau des Angeklagten und damit für deren Freiheit oder für ihre körperliche Unversehrheit eine weitere Dauergefahr bestand. Die Gefahr war, weil alle anderen Maßnahmen, insbesondere die Inanspruchnahme der Polizei und sogar die Abgabe eines Schreckschusses, ohne Erfolg blieben, nicht anders abwendbar. Die Gefährdung auch weiterhin auf sich zu nehmen, war den Eheleuten Dr. H. nicht zuzumuten.
cc)
Ob der Angeklagte bei Abgabe der Schüsse teilweise irrig Umstände annahm, die ihn nach § 35 Abs. 1 StGB entschuldigen würden (§ 35 Abs. 2 StGB), bedarf bei dieser Sachlage keiner Erörterung.
2.
Die Bejahung des entschuldigenden Notstandes gilt entsprechend für das Vergehen nach §§ 53 Abs. 3 Nr. 1 a, 56 WaffG, das damit gleichfalls entfällt.
II.
Da weitere Feststellungen nicht zu erwarten sind, kann der Senat gemäß § 354 Abs. 1 Satz 1 StPO in der Sache selbst durch Freispruch entscheiden.
Woesner
Herdegen
Kuhn
Niepel