Bundesgerichtshof
Beschl. v. 25.05.1976, Az.: III ZB 4/76
Zulässigkeit einer Berufung im Hinblick auf die Beschwer; Wegfall der Beschwer bei Zahlung der Urteilssumme nach Erlass eines vorläufig vollstreckbaren Urteils und vor Einlegung eines Rechtsmittels ; Bestimmung der materiellen Beschwer
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 25.05.1976
- Aktenzeichen
- III ZB 4/76
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1976, 12749
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- OLG Hamm - 16.01.1976
- LG Hagen
Rechtsgrundlagen
Fundstelle
- MDR 1976, 1005 (Volltext mit amtl. LS)
Prozessführer
Herr Robert S., S., W.straße ...,
Prozessgegner
Wohnungsbauförderungsanstalt des Landes Nordrhein-Westfalen, D., K.-A.-Platz ...,
Amtlicher Leitsatz
Zur Frage, ob die Zahlung der Urteilssumme nach Erlaß eines vorläufig vollstreckbaren Urteils und vor Einlegung eines Rechtsmittels durch den Beklagten zum Wegfall der Beschwer führt.
Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat
in der Sitzung am 25. Mai 1976
unter Mitwirkung
des Vorsitzenden Richters Prof. Dr. Kreft und
der Richter Dr. Tidow, Dr. Peetz, Kröner und Boujong
beschlossen:
Tenor:
Auf die sofortige Beschwerde des Beklagten wird der Beschluß des 11. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 16. Januar 1976 aufgehoben.
Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung über die Berufung sowie über die Kosten des Beschwerdeverfahrens an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Gründe
1.
Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Zahlung zusätzlicher Leistungen nach § 25 des Wohnungsbindungsgesetzes in der Fassung vom 24. August 1965 (BGBl I S. 945) in Höhe von 4.843,85 DM nebst Zinsen mit der Begründung in Anspruch, daß der Beklagte eine öffentlich geförderte Wohnung an einen Mieter ohne Wohnberechtigungsbescheinigung vermietet habe. Das Landgericht hat der Klage zum Teil stattgegeben.
Der Beklagte hat gegen das ihm am 6. August 1975 zugestellte Urteil des Landgerichts am 5. September 1975 Berufung eingelegt und diese nach entsprechender Verlängerung der Begründungsfrist am 3. November 1975 begründet.
Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Beklagten durch einen am 16. Januar 1976 verkündeten Beschluß, der den Parteien noch nicht zugestellt ist, als unzulässig verworfen und zur Begründung ausgeführt, der Beklagte sei bei der Einlegung der Berufung nicht mehr beschwert gewesen, weil er nach Urteilserlaß den Urteilsbetrag vorbehaltlos gezahlt habe.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die am 3. Februar 1976 beim Berufungsgericht eingegangene sofortige Beschwerde des Beklagten. Sein Rechtsmittel führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses.
2.
Der nach § 519 b Abs. 2 ZPO ergangene, mit der Verkündung verlautbarte Beschluß des Berufungsgerichts ist anfechtbar. Gegen ein Urteil gleichen Inhalts wäre die Revision zulässig (§§ 519 b Abs. 2, 547 ZPO). Die Beschwerdefrist ist gewahrt, weil sie nicht mit der Verkündung, sondern erst mit der von Amts wegen vorzunehmenden förmlichen Zustellung des Beschlusses beginnt (§ 577 Abs. 2 Satz 1 ZPO; vgl. BGH LM ZPO § 577 Nr. 2). Die Übersendung des Verkündungsprotokolls an die Parteien kann der erforderlichen förmlichen Zustellung nicht gleichgestellt werden.
3.
Im Gegensatz zur Auffassung des Berufungsgerichts ist die Berufung des Beklagten nicht mangels Beschwer unzulässig.
a)
Es bedarf keiner Entscheidung, ob als Rechtsmittelvoraussetzung für den Beklagten eine formelle oder/und eine materielle Beschwer erforderlich ist. Denn beides ist zu bejahen.
Der Beklagte ist in dem zur Entscheidung stehenden Fall formell beschwert, weil er im ersten Rechtszug Klageabweisung beantragt hatte und damit unterlegen war.
Er ist auch materiell beschwert.
Die materielle Beschwer ist nach den Urteilswirkungen zu bestimmen (vgl. das Senatsurteil NJW 1975, 539 mit weiteren Nachweisen). Sie ergibt sich aus dem rechtskraftfähigen Entscheidungsinhalt, soweit er der betreffenden Partei nachteilig ist (vgl. BGH NJW 1955, 545).
Das Landgericht hatte der Klägerin die von ihr in Anspruch genommene Rechtsfolge teilweise zuerkannt. Seine rechtskraftfähige Sachentscheidung äußerte insoweit eine für den Beklagten nachteilige inhaltliche Rechtswirkung. Denn mit dem Eintritt der formellen Rechtskraft hätte diese Entscheidung, soweit der Klage teilweise stattgegeben worden war, eine uneingeschränkte Zahlungsverpflichtung des Beklagten zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung, dem maßgeblichen Zeitpunkt für die Bestimmung der zeitlichen Grenzen der sachlichen Rechtskraft, endgültig festgestellt.
b)
An der dem Beklagten nachteiligen Rechtswirkung des von ihm angefochtenen erstinstanzlichen Urteils hat sich durch seine - nach der Verkündung dieses Urteils und vor der Einlegung der Berufung vorgenommene - Zahlung des Urteilsbetrags an die Klägerin nichts geändert. Sie hat weder die materielle Beschwer noch ein rechtsschutzwürdiges Interesse an der Beseitigung dieser Beschwer entfallen lassen.
Das Berufungsgericht mißt der Zahlung des Beklagten an die Klägerin eine streitbeendende und beschwerausschließende Bedeutung bei, die sie nicht hat.
Aus der Tatsache einer Zahlung, einer Geldleistung, ergibt sich allein noch nicht, welchem Zweck sie gedient hat und welche Bedeutung ihr für die rechtlichen Beziehungen zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger zukommt (vgl. Grunsky NJW 1975, 936, Anm. zum Urteil des OLG Hamm NJW 1975, 935).
Das Berufungsgericht hat bei seiner rechtlichen Beurteilung außer acht gelassen, daß der Beklagte erst nach der Verkündung eines vorläufig vollstreckbaren Leistungsurteils gezahlt hat. Zahlungen auf Grund eines vorläufig vollstreckbaren Urteils sind nur vorläufige Leistungen und stellen grundsätzlich weder eine Erfüllung des von der Klägerin geltend gemachten Anspruchs dar noch berühren sie diesen in seinem materiellrechtlichen Bestand (BGH, Urt. vom 31. Mai 1965 - VII ZR 159/64 - WM 1965, 1022). Sie führen nicht zur endgültigen Befriedigung des Gläubigers, sondern sind darauf ausgerichtet, die Geltendmachung des Voll- streckungstitels zu hemmen (Senatsurteil vom 22. April 1968 - III ZR 137/65 - WM 1968, 923). Daher sind sie nicht geeignet, den Rechtsstreit zwischen den Parteien in der Hauptsache zu erledigen und eine materielle Beschwer des Beklagten oder sein rechtsschutzwürdiges Interesse an ihrer Beseitigung im Rechtsmittelverfahren auszuschließen.
Zwar kann ein Beklagter, der nach Erlaß eines vorläufig vollstreckbaren Urteils und vor Einlegung seines Rechtsmittels den Urteilsbetrag zahlt, damit zugleich die vom Kläger geltend gemachte Forderung anerkennen und sie bedingungslos und endgültig tilgen.
Diese rechtliche Bedeutung kommt dem Verhalten des Beklagten jedoch nicht zu.
Die Zahlungsumstände ergeben nicht, daß die Zahlung eine endgültige Erfüllungsleistung statt einer bloß vorläufigen Zahlung auf Grund des für vorläufig vollstreckbar erklärten Urteils darstellt.
Der Beklagte leistete nach seinem Vorbringen nicht in Anerkennung der von der Klägerin geltend gemachten Forderung zur endgültigen Erfüllung, sondern deshalb, weil er der vorläufigen Verurteilung zunächst nachkommen und damit zugleich eine Zwangsvollstreckung vermeiden wollte, ohne auf ein ihm zustehendes Rechtsmittel zu verzichten. Diese Zweckrichtung seines Verhaltens wird durch seinen Brief vom 16. August 1975 an seinen Prozeßbevollmächtigten (Anlage zur Beschwerdeschrift) bestätigt. Nachdem er gleichzeitig seiner Bank den Auftrag erteilt hatte, den Urteilsbetrag an die Klägerin zu überweisen, erklärte er in diesem Schreiben u.a.:
"Den Urteilsbetrag nebst Zinsen habe ich überwiesen, ebenso die Gerichtskosten, und ich halte es für selbstverständlich, daß das keine Anerkennung der Rechtmäßigkeit darstellt".
Die Klägerin ist diesem Vorbringen des Beklagten nicht entgegengetreten. Bei der von Amts wegen vorzunehmenden Prüfung der Beschwer und des Interesses an ihrer Beseitigung geht der Senat daher von der Richtigkeit dieses Vorbringens aus.
Die Klägerin macht demgegenüber geltend, daß die Zahlung des Beklagten als (unbedingte) Erfüllungsleistung anzusehen sei, weil sie die Zahlung aus ihrer maßgeblichen Sicht nur als solche habe verstehen können.
Dem kann nicht gefolgt werden. Es bedarf keiner Entscheidung, ob unter dieser Voraussetzung eine Zahlung entgegen dem Willen des Zahlenden als endgültige Erfüllungsleistung und nicht bloß als Zahlung zur vorläufigen Regelung des streitigen Rechtsverhältnisses anzusehen wäre. Denn die Klägerin konnte die Zahlung des Urteilsbetrags nicht als endgültige Erfüllungsleistung ansehen, weil die Verurteilung des Beklagten zur Zahlung vorläufig vollstreckbar, aber noch nicht formell rechtskräftig war. Das erstinstanzliche vorläufig vollstreckbare Leistungsurteil mit dem darin enthaltenen Leistungsbefehl an den Beklagten war somit zum Zeitpunkt der Zahlung noch nicht endgültig, sondern stand noch unter der auflösenden Bedingung der Urteilsaufhebung in der Rechtsmittelinstanz (vgl. das Senatsurteil WM 1968, 923). Die Klägerin mußte daher von der Möglichkeit ausgehen, daß der Beklagte mit seiner Zahlung des Urteilsbetrags nur einem vorläufigen, jedoch mit staatlicher Zwangsgewalt durchsetzbaren Leistungsbefehl nachkommen und entsprechend auf diesen vorläufigen Vollstreckungstitel nur vorläufig zahlen wollte, um die mit einem urteilswidrigen Zahlungsaufschub verbundenen Nachteile zu vermeiden.
Etwas anderes konnte die Klägerin auch nicht dem Vermerk des Beklagten auf dem Überweisungsauftrag entnehmen, in dem der Beklagte den Zahlungszweck neben der Angabe des Aktenzeichens mit den Worten "Klage Landgericht" gekennzeichnet hatte. Der Beklagte gab damit nicht zu erkennen, daß er die Klageforderung als bestehend oder/und das erstinstanzliche Urteil als richtig anerkenne.
Es geht daher nicht an, den Beklagten allein wegen der Zahlung des Urteilsbetrags auf ein noch nicht formell rechtskräftiges, aber für vorläufig vollstreckbar erklärtes Leistungsurteil im Ergebnis so zu stellen, als habe er auf ein ihm zustehendes Rechtsmittel verzichtet (vgl. Grunsky NJW 1975, 936).
c)
Es bedarf keiner Entscheidung, ob die materielle Beschwer oder das Interesse an ihrer Beseitigung entfällt, wenn die Parteien über das Erlöschen des von der Klägerin geltend gemachten Anspruchs durch die endgültige bedingungslose Erfüllungsleistung eines Dritten (vgl. dazu das von der Klägerin angeführte Urteil des Bundesgerichtshofes LM ZPO § 91 a Nr. 4) oder durch die (vorzeitige) Erfüllung des Anspruchs durch den Beklagten (vgl. dazu BGH ZZP 1958, 106) einig sind und der Rechtsmittelführer den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. In diesen Fällen ist das Rechtsverhältnis zwischen den Parteien nicht mehr streitig.
Die zur Entscheidung stehende Sache betrifft dagegen einen anders gelagerten Sachverhalt. Der Beklagte verfolgt mit seiner Berufung sein auf Klageabweisung gerichtetes Begehren mit der Begründung weiter, daß der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch nicht entstanden sei. Mit der formellen Rechtskraft des von ihm angefochtenen Urteils träte auch die materielle Rechtskraftwirkung ein. Dem Beklagten wäre damit jeder Anspruch auf Rückforderung der nach seiner Darstellung nur vorläufig geleisteten Zahlung, auch unter bereicherungsrechtlichen Gesichtspunkten, abgeschnitten, obwohl nach materiellem Recht eine Erfüllung (§ 362 Abs. 1 BGB) voraussetzt, daß der Anspruch materiellrechtlich besteht (vgl. Münzberg in Stein/Jonas, ZPO 19. Aufl. § 708 Bern. I 1 b). Das Rechtsmittel der Berufung stellt für den Beklagten den einzigen von der Rechtsordnung gegebenen Weg dar, den Eintritt der Rechtskraft zu verhindern und sein Rechtsschutzziel durchzusetzen.
d)
Bei dieser Sachlage fehlt auch jeder Anhaltspunkt dafür, daß der Beklagte, der die Berufung alsbald nach seiner Zahlung eingelegt hat, den Rechtsmittelweg unnötig, zweckwidrig oder mißbräuchlich beschritten hat (vgl. hierzu BGHZ 57, 224; das Senatsurteil NJW 1975, 539).
Dr. Tidow
Dr. Peetz
Kröner
Boujong