Bundesgerichtshof
Urt. v. 13.03.1975, Az.: 4 StR 28/75
Körperverletzung durch Emission giftiger Dämpfe von Lacklösemitteln und Weichmachern; Schädigung der Anwohner; Rechtfertigung auf Grund des sogenannten erlaubten Risikos; Vorliegen rechtfertigenden Notstands; Duldung einer Anlage; Ortsüblichkeit; Herstellung von Kronkorken; Vorliegen eines Verbotsirrtums
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 13.03.1975
- Aktenzeichen
- 4 StR 28/75
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1975, 11938
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Frankenthal - 03.09.1974
Rechtsgrundlagen
Verfahrensgegenstand
Fortgesetzte gemeinschaftliche Körperverletzung
Prozessgegner
1. Geschäftsführer - Generaldirektor - Otto B... aus N..., geboren am ... in F... a.M.
2. Technischer Leiter - Diplom-Ingenieur - Ferdinand M ... aus ..., geboren am ... in H...
Redaktioneller Leitsatz
Ist ein bestimmtes Verhalten auf Grund zivilrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Vorschriften erlaubt, so kann auch unter strafrechtlichen Gesichtspunkten die Rechtswidrigkeit entfallen.
Tenor:
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Frankenthal/Pfalz vom 3. September 1974 wird verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels einschließlich der den Angeklagten erwachsenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Entscheidungsgründe
Der Angeklagte B... ist Geschäftsführer der B...-Werke GmbH in F..., der Mitangeklagte M... war deren technischer Leiter. Die B...-Werke stellen seit ihrer Gründung im Jahre 1851 Flaschenverschlüsse her, bei deren Fabrikation ab 1966, seitdem anstelle von Korkscheiben Kunststoff als Dichtungsmittel verwendet wird und nur noch Metallverschlüsse produziert werden, Dämpfe von Lacklösemitteln und sog. Weichmachern auftreten, die durch Abzugsrohre über das Werksdach abgelassen werden. Diese Dämpfe führten bei zahlreichen Bewohnern der zwischen 30 und 300 Metern vom Betriebsgelände entfernten, teilweise erst seit wenigen Jahren erschlossenen Wohngebiete, vor allem bei entsprechender Windrichtung, zu Augentränen, Brennen im Hals, Hustenreiz, Kopfweh, Atem- und Schlafbeschwerden, Brechreiz und Übelkeit. Spätestens seit einer Besprechung am 14. Juli 1971 'hielten die Angeklagten es für möglich und nahmen es in Kauf, daß echte körperliche Beeinträchtigungen schwerwiegender Art vorlagen, schwerer, als sie es möglicherweise bis dahin angenommen hatten' (UA Bl. 21). Vor und nach diesem Zeitpunkt unternommene Versuche, Abhilfe zu schaffen - unter anderem wurde die Fabrikation in eine neu errichtete, von den Wohngebieten weiter entfernte Halle verlegt - blieben erfolglos. Es war technisch nicht möglich, die für den menschlichen Organismus nachteiligen Bestandteile vor allem der Weichmacherdämpfe zu beseitigen, was auch dem Gewerbeaufsichtsamt bei mehrfach mit diesem Ziel erteilten Auflagen bekannt war. Zur Einstellung des Betriebs, der etwa 500 Arbeitnehmer beschäftigt, waren die Angeklagten nicht befugt. Erst eine im Mai 1973 in Betrieb genommene Versuchsanlage zur sog. katalytischen Nachverbrennung der Dämpfe erbrachte ein zufriedenstellendes Ergebnis, worauf die B...-Werke ab April 1974 entsprechende Anlagen montieren ließen.
Das Landgericht hat die Angeklagten von dem Vorwurf, sich durch die Emission der Dämpfe mit den ihnen bekannten Folgen mindestens seit 14. Juli 1971 eines fortgesetzten gemeinschaftlichen Vergehens der Körperverletzung gemäß §§ 223, 232, 47 StGB (a.F.) zum Nachteil der Anwohner schuldig gemacht zu haben, mit der Begründung freigesprochen, sie hätten in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum gehandelt (vgl. die auszugsweise Veröffentlichung des Urteils in BB 1974, 1415). Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft, die Verletzung sachlichen Rechts rügt, hat keinen Erfolg.
1.
Die Strafkammer hat die erwähnten, auf die Lacklösemittel- und Weichmacherdämpfe zurückzuführenden körperlichen Beschwerden, die über lediglich unerhebliche Beeinträchtigungen weit hinausgehen, zutreffend als Gesundheitsbeschädigungen im Sinne des § 223 StGB gewertet. Jedes Hervorrufen oder Steigern eines vom Normalzustand der körperlichen Funktionen abweichenden Zustandes, d.h. einer wenn auch nur vorübergehenden pathologischen Verfassung, erfüllt dieses Tatbestandsmerkmal (vgl. LK StGB 9. Aufl. § 223 Rdn. 11-15 m.w.Hinw.). Zu diesen Gesundheitsbeschädigungen ist es dadurch gekommen, daß die Angeklagten als die für den Produktionsablauf Verantwortlichen die Dämpfe im Wissen um ihre Gefährlichkeit weiter emittierten, d.h. die Produktion nicht einstellten. Nur wenn sie das getan hätten, wären die Körperverletzungen vermieden worden. Ihre Tathandlung bestand also im Fortführen der Produktion so wie sie lief. Keinen rechtlichen Bedenken begegnet auch die Annahme des Landgerichts, die Angeklagten hätten spätestens seit der Besprechung vom 14. Juli 1971, bei der mit Strafanzeige gedroht worden war, mit bedingtem Vorsatz gehandelt.
2.
Der Tatbestand des § 223 StGB indiziert zwar die Rechtswidrigkeit (vgl. auch Maurach Dt. Str.R. 4. Aufl. AT/S. 286; Lackner StGB 9. Aufl. Vorbem. III 3 vor § 13). Rechtfertigungsgründe schließen dieses Indiz der Rechtswidrigkeit jedoch aus. Den Angeklagten steht indessen kein Rechtfertigungsgrund zur Seite.
a)
Es kann offen bleiben, ob Handlungen, die zwar vom Wortlaut einer Strafbestimmung umfaßt sind, sich aber völlig im Rahmen der normalen, geschichtlich gewordenen sozialen Ordnung bewegen, aus dem Bereich des Unrechts auszuscheiden sind (sog. Lehre von der Sozialadäquanz; vgl. dazu LK vor § 51 Rdn. 19 - 22; Welzel, Das Deutsche Strafrecht 11. Aufl. S. 55 ff), und ob es bei ihnen bereits an der Tatbestandsmäßigkeit fehlt oder ein Rechtfertigungsgrund besteht (vgl. BGHSt 23, 226, 228). Denn der Bereich des sozial Üblichen und deshalb allgemein Anerkannten oder zumindest Geduldeten ist bei so schwerwiegenden und nachhaltigen Rechtsgutsbeeinträchtigungen, wie sie hier festgestellt sind, eindeutig verlassen. Aus dem gleichen Grund braucht auch zu der Frage der Rechtfertigung auf Grund des sog. erlaubten Risikos (vgl. LK aaO vor § 51 Rdn. 23 - 25) nicht Stellung genommen zu werden.
b)
Das Landgericht hat die Frage der Rechtfertigung allein unter dem Gesichtspunkt des rechtfertigenden Notstandes geprüft. Es meint dazu, die Sicherung der Arbeitsplätze sowie die Aufrechterhaltung der Produktion dürfe selbst im Hinblick darauf, daß die Gemeinschaft von der Leistungsfähigkeit der Industrie lebe, nicht dazu führen, daß anwohnende Bürger Körperverletzungen hinnehmen müssen. Die seit dem 1. Januar 1975 geltende Neufassung des Strafgesetzbuches enthält im § 34 eine Kodifizierung der Grundsätze, welche die Rechtsprechung und Lehre unter der Bezeichnung 'übergesetzlicher Notstand' entwickelt haben. Die Voraussetzungen dieser Bestimmung liegen hier in der Tat nicht vor. Zwar kann auch die Aufrechterhaltung der Produktion und die Erhaltung der Arbeitsplätze ein Rechtsgut i.S. des § 34 StGB sein (vgl. die Nachweise bei Dreher StGB 35. Aufl. § 34 Anm. 2). Zum Schutz dieses Rechtsguts haben die Angeklagten die Produktion weiterlaufen lassen. Anders konnte dieses Rechtsgut auch nicht geschützt werden: es befand sich also in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr. Eine solche Gefahr rechtfertigt es aber bei Abwägung der widerstreitenden Interessen nicht, die Gesundheit der Anwohner aufs Spiel zu setzen. Wenn auch die Rangordnung der Rechtsgüter in einer pluralistischen Gesellschaft auf Schwierigkeiten stößt, so geben doch die Reihenfolge der in § 34 StGB genannten Rechtsgüter einen Anhaltspunkt, desgleichen die Grade des strafrechtlichen Schutzes, die ihren Ausdruck in den Strafdrohungen finden (vgl. Dreher aaO § 34 Anm. 3 B). Um die Produktion aufrechterhalten zu können und damit die Arbeitsplätze zu sichern, darf nicht eine Gesundheitsbeschädigung als Mittel zur Abwehr der Gefahr für das geschützte Rechtsgut eingesetzt werden.
c)
Da die Rechtswidrigkeit den Widerspruch zur Rechtsordnung im ganzen ausdrückt, ist sie auch einheitlich für die gesamte Rechtsordnung zu beantworten (LK aaO vor § 51 Rdn. 10 und 27 m.w.Nachw.). Wenn ein bestimmtes Verhalten auf Grund zivilrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Vorschriften erlaubt ist, kann auch unter strafrechtlichen Gesichtspunkten die Rechtswidrigkeit entfallen.
So könnte die Weiterführung des Betriebs trotz der von ihm ausgehenden wesentlichen Beeinträchtigungen dann nicht als rechtswidrig anzusehen sein, wenn seine Stillegung von den betroffenen Anliegern nicht verlangt werden konnte. Eine solche Duldungspflicht käme möglicherweise in Betracht, wenn die Voraussetzungen des § 26 GewO (dem jetzt § 14 des am 1. April 1974 in Kraft getretenen Bundes-Immissionsschutzgesetzes entspricht) oder des § 906 Abs. 2 BGB vorliegen würden, wonach bei einer behördlich genehmigten Anlage bzw. bei Ortsüblichkeit nicht die Einstellung des Gewerbebetriebs, sondern nur die Herstellung von Schutzeinrichtungen bzw. angemessener Ausgleich/Schadloshaltung verlangt werden kann. Das angefochtene Urteil enthält allerdings weder zur Frage der behördlichen Genehmigung noch zu der der Ortsüblichkeit ausdrückliche Feststellungen. Dem Zusammenhang der Urteilsgründe ist jedoch zu entnehmen, daß es sich nicht um eine genehmigungspflichtige Anlage gehandelt hat. Anlagen zur Herstellung von Kronenkorken bedürfen erst seit der Verordnung über genehmigungsbedürftige Anlagen nach § 16 der Gewerbeordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Juli 1971 (BGBl I S. 888) einer Genehmigung (§ 1 Nr. 10 der Verordnung). Nach § 25 Abs. 3 GewO können zwar auch für die unter § 16 Abs. 4 GewO fallenden, nur anzeigepflichtigen Anlagen nachträgliche Anordnungen über Anforderungen an die technische Einrichtung und den Betrieb der Anlage getroffen werden. Diese müssen aber, wie § 25 Abs. 3 GewO ausdrücklich hervorhebt, nach dem jeweiligen Stand der Technik auch erfüllbar sein. Soweit Auflagen des Gewerbeaufsichtsamts erfüllbar waren, sind die Angeklagten dem aber nachgekommen.
Was die Frage der Ortsüblichkeit angeht, so ergeben die Feststellungen über die Lage des Betriebs, daß die Bender-Werke der einzige Industriebetrieb in dem zum Vergleich heranzuziehenden Bezirk sind und nach den gegenwärtigen Verhältnissen (BGHZ 15, 146; BGH LM Nr. 5 zu § 906 BGB) der Umgebung nicht (mehr) das Gepräge geben, wobei es unerheblich ist, ob dies mit auf entsprechende Planung der Stadt Frankenthal zurückzuführen ist.
Es kann daher offen bleiben, ob selbst bei behördlicher Genehmigung der Anlage oder bei ortsüblicher Benutzung des Grundstücks die Weiterführung des Betriebs gleichwohl dann rechtsmißbräuchlich wäre, wenn sie erkennbar zu erheblichen Gesundheitsschädigungen, unter Umständen sogar mit lebensgefährlichen Folgen, für die Anwohner führt.
3.
Das Landgericht hat deshalb zu Recht die Rechtswidrigkeit des Handelns der Angeklagten bejaht. Es hat ihnen aber mit jedenfalls im Ergebnis zutreffender Begründung einen unvermeidbaren Verbotsirrtum zugebilligt. Nach den Feststellungen sind die Voraussetzungen des § 17 StGB nF erfüllt, d.h. den Angeklagten fehlte bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun; auch konnten sie diesen Irrtum nicht vermeiden. Sie wußten natürlich, daß sie keine Körperverletzungen begehen durften. Darum geht es aber nicht. Die Unrechtseinsicht fehlte ihnen deshalb, weil sie von der verfehlten Rechtsauffassung ausgingen, die Anwohner müßten die körperlichen Beeinträchtigungen hinnehmen, da sonst der Betrieb hätte eingestellt werden müssen, wozu die Angeklagten nicht einmal befugt waren. Sie handelten also in der Annahme, daß ihnen ein Rechtfertigungsgrund zur Seite stünde.
Trotz aller Gewissensanspannung (vgl. dazu BGHSt 2, 194 ff) und Einsatzes ihrer Erkenntniskräfte und sittlichen Wertvorstellungen sind sie dem Irrtum unterlegen, es sei erlaubt, den Betrieb weiterzuführen, auch wenn dies mit Körperverletzungen der Anwohner verbunden war. In dieser Auffassung mußten sie sich dadurch bestärkt sehen, daß auch die Behörden, insbesondere das Gesundheitsamt, trotz Kenntnis der Sachlage keinen Anlaß sahen, auf eine Einstellung des Betriebs zu drängen oder sie anzuordnen. Die Angeklagten hatten zudem aus ihrer Sicht alles getan, um die ihnen erteilten Auflagen zu erfüllen. All das rechtfertigt es hier, die Unvermeidbarkeit des Irrtums zu bejahen. Auf die Frage, ob die Einstellung des Betriebs den Angeklagten aus persönlichen Gründen zumutbar war oder ob sie ihnen als zwecklos erscheinen mußte, weil sie als für den Betrieb Verantwortliche dann abgelöst und durch andere ersetzt worden wären, kommt es dabei entgegen der Ansicht des Landgerichts allerdings nicht an, denn es gibt keinen allgemeinen Schuldausschließungsgrund der Unzumutbarkeit (vgl. Lackner aaO Vorbem. III vor § 32; Wittig JZ 1969, 546).