Bundesgerichtshof
Urt. v. 05.12.1973, Az.: IV ZR 77/72
Anfechtung einer Vaterschaft; Widerlegung der Zeugungsvermutung; Vorliegen "schwerwiegender Zweifel" an der Vaterschaft; Notwendigkeit der Einholung eines erbbiologischen Gutachtens
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 05.12.1973
- Aktenzeichen
- IV ZR 77/72
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1973, 12544
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- OLG Stuttgart - 27.03.1972
- AG Freudenstadt
Rechtsgrundlage
Fundstellen
- MDR 1974, 475 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1974, 1427 (amtl. Leitsatz)
- NJW 1974, 606-607 (Volltext mit amtl. LS)
Prozessführer
Heinz W., ... L., Haus Nr. ...
Prozessgegner
Angelika D., geboren am ... 1960, ... A., P. Straße ...,
gesetzlich vertreten durch das Kreisjugendamt F.
Amtlicher Leitsatz
Treten Umstände in Erscheinung, die Zweifel an der Aussage der Kindesmutter, sie habe keinen Mehrverkehr gehabt, begründen, so kann eine biostatistische Vaterschaftswahrscheinlichkeit von 98,5 % nicht genügen, diese Zweifel auszuräumen. In diesem Fall kann ein erbbiologisches Gutachten einer weiteren Aufklärung dienen, so daß von dessen Erholung nicht abgesehen werden darf.
Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat
auf die mündliche Verhandlung vom 5. Dezember 1973
durch
den Vorsitzenden Richter Dr. Hauß und
die Richter Prof. Johannsen, Dr. Reinhardt, Dr. Bukow und Knüfer
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 16. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 27. März 1972 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die am 30. September 1960 geborene Beklagte ist die nichteheliche Tochter der inzwischen verheirateten Charlotte M. geb. D.. Durch das rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts Freudenstadt vom 17. Februar 1961 - 2 C 12/61 - wurde festgestellt, daß der Kläger als Vater der Beklagten gilt; er wurde zur Zahlung einer Unterhaltsrente an die Beklagte verurteilt.
Mit seiner Klage ficht der Kläger seine auf Grund des Nichtehelichengesetzes anzusehende Vaterschaft zu der Beklagten an (Art. 12 § 3 NEhelG). Er hat hierzu vorgetragen: Er sei zwar im Winter 1959/1960 zweimal mit der Mutter der Beklagten ins Kino gegangen. Zu einem Geschlechtsverkehr sei es mit ihr jedoch nie gekommen. Schon damals habe sie ihm erklärt, sie habe mit einem anderen Mann ein Verhältnis. Es habe sich um den Weinhändler oder Spirituosenvertreter Walter K. in Freiburg gehandelt. Mit diesem habe die Mutter der Beklagten während der Empfängniszeit auch Geschlechtsverkehr gehabt.
Der Kläger hat daher beantragt,
festzustellen, daß er nicht der Vater der Beklagten ist.
Die Beklagte hat um Klageabweisung gebeten und hierzu vorgetragen: Der Kläger habe mit ihrer Mutter im Januar 1960, also innerhalb der vom 3. Dezember 1959 bis zum 2. April 1960 dauernden gesetzlichen Empfängniszeit, geschlechtlich verkehrt.
Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen und festgestellt, daß der Kläger der Vater der Beklagten ist. Die Berufung des Klägers gegen dieses Urteil ist erfolglos geblieben.
Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren, festzustellen, daß er nicht der Vater der Beklagten ist, weiter.
Entscheidungsgründe
1.
Der Kläger ist durch das rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts Freudenstadt vom 17. Februar 1961 zur Erfüllung eines Anspruchs der Beklagten aus § 1708 a.F. BGB verurteilt worden. Nach Art. 12 § 3 Abs. 1 NEhelG ist er daher als Vater der Beklagten im Sinne des Nichtehelichengesetzes anzusehen und nach Art. 12 § 3 Abs. 2 Satz 5 NEhelG besteht die Vermutung, daß er der Kindesmutter in der Empfängniszeit beigewohnt hat. Hiervon ist auch das Berufungsgericht ausgegangen und auf Grund der durchgeführten Beweisaufnahme zu dem Ergebnis gelangt, daß die gesetzliche Vermutung der Beiwohnung vom Kläger nicht widerlegt worden ist. Die Ausführungen des Berufungsgerichts hierzu lassen keine Rechtsfehler erkennen. Sie werden auch von der Revision nicht angegriffen.
2.
Die danach feststehende Beiwohnung begründet gemäß Art. 12 § 3 Abs. 2 Satz 5 2. Halbsatz NEhelG in Verbindung mit § 1600 o Abs. 2 Satz 1 BGB die weitere Vermutung, daß der Kläger die Beklagte gezeugt hat. Diese Vermutung gilt jedoch dann nicht, wenn nach Würdigung aller Umstände schwerwiegende Zweifel an der Vaterschaft verbleiben (§ 1600 o Abs. 2 Satz 2 BGB).
Das Berufungsgericht hat das Vorliegen schwerwiegender Zweifel verneint. Es hat daher die gesetzliche Vermutung der Erzeugerschaft des Klägers durchgreifen lassen und dessen Vaterschaft festgestellt. Gestützt hat es seine Entscheidung letztlich auf die eidliche Aussage der Kindesmutter, daß es in der gesetzlichen Empfängniszeit nur zwischen ihr und dem Beklagten zum Geschlechtsverkehr gekommen sei. Diese Aussage hat das Berufungsgericht deshalb für glaubwürdig gehalten, weil sie durch den erholten serostatistischen Befund, der nach dem Essen-Möller-Verfahren zu einer Vaterschaftswahrscheinlichkeit von 98,5 % kommt, für nachdrücklich bestätigt angesehen hat. Dem vom Kläger angebotenen Beweis eines erbbiologischen Gutachtens ist es nicht nachgegangen, weil es bei der gegebenen Sachlage die Erholung eines solchen Gutachtens zur weiteren Aufklärung nicht für geeignet gehalten hat.
3.
Mit Erfolg rügt die Revision die Nichterholung des beantragten erbbiologischen Gutachtens.
Der Beweis der Vaterschaft oder Nichtvaterschaft läßt sich unmittelbar nicht führen. Er ist nur mittelbar über Indizien zu führen, die gewisse Rückschlüsse auf die behauptete Vaterschaft oder Nichtvaterschaft zulassen. Der Tatrichter kann daher von der Erholung eines erbbiologischen Gutachtens absehen, ohne daß hierin eine verfahrenswidrige Vorauswürdigung dieses Beweismittels liegt, wenn er davon überzeugt sein kann, ein erbbiologisches Gutachten sei als ein bloßes Indiz nicht geeignet, seine schon auf Grund der bisher festgestellten Tatsachen gewonnene Überzeugung zu beeinflussen.
Hier kommt es daher entscheidend darauf an, ob das Berufungsgericht allein schon auf Grund des biostatistischen Befundes von der Glaubwürdigkeit der Aussage der Kindesmutter, sie habe in der Empfängniszeit der Beklagten keinen Mehrverkehr gehabt, und damit von der Vaterschaft des Klägers überzeugt sein konnte und diese Überzeugung durch ein erbbiologisches Gutachten, gleichgültig wie es auch ausfalle, nicht hätte in Frage gestellt werden können.
Zwar wertet der erbbiologische Befund nur äußere Merkmalskomplexe, die sich weitgehend nur subjektiv erfassen lassen und deren Erbgang sich mit den Mendel schen Gesetzen nicht beschreiben läßt, während dem serostatistischen Befund gut faßbare, gleichbleibende und im klaren Erbgang sich vererbende Einzelmerkmale zugrunde liegen, die eine objektive Bewertung ermöglichen. Ist demnach dem serostatistischen Gutachten auch eine größere Beweiskraft beizumessen als dem erbbiologischen Gutachten, so kann dennoch die Beweiskraft des erbbiologischen Gutachtens nicht so gering eingeschätzt werden, daß sie gegenüber dem serostatistischen Befund in jedem Falle ohne jede Bedeutung bleibt. Vielmehr kann, wie auch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes anerkannt ist, der erbkundliche Sachverständige bei dem heutigen Stand der erbkundlichen Untersuchungsmethoden dazu kommen, die Vaterschaft eines Mannes in bezug auf ein bestimmtes Kind mit einem so hohen Grad von Wahrscheinlichkeit zu bejahen oder zu verneinen, daß sich darauf unbedenklich eine entsprechende Feststellung stützen läßt (BGH NJW 1964, 1179, 1180). Ein Beweiswert wird sich dem erbbiologischen Gutachten gegenüber dem serostatistischen Gutachten daher nur dann absprechen lassen, wenn das serostatistische Gutachten zu einem so hohen Grad von Wahrscheinlichkeit kommt, daß sich darauf unbedenklich die entsprechende Feststellung stützen läßt. Hierbei geht die Ansicht der Wissenschaft dahin, eine Fehlerquote von 0,2 % - das entspricht einer Vaterschaftswahrscheinlichkeit von 99,8 %, in 1000 gleichgelagerten Fällen würde sich der Richter nur zweimal irren - und darunter komme praktisch einer erwiesenen Vaterschaft gleich. Bei einer Vaterschaftswahrscheinlichkeit ab 99 % könne der Richter in der Regel von der Vaterschaft überzeugt sein. Grundsätzlich wird sich daher sagen lassen, daß der Tatrichter, falls nicht ganz besondere Umstände dagegen sprechen, bei einem serostatistischen Befund mit einer Vaterschaftswahrscheinlichkeit ab 99 % davon ausgehen kann, ein erbbiologisches Gutachten könne seine auf Grund dieses serostatistischen Befundes gewonnene Überzeugung nicht beeinflussen. Das Gleiche kann aber nicht gelten, wenn die serostatistische Vaterschaftswahrscheinlichkeit unter 99 % liegt. Auch nach der Ansicht der Wissenschaft kommt es schon bei einer Vaterschaftswahrscheinlichkeit zwischen 95 und 99 % auf die Umstände des Einzelfalles an, ob und in welchem Maße Zweifel begründet sind. In der Regel würden schwerwiegende Zweifel hier nur entfallen können, wenn noch weitere für die Vaterschaft sprechende Indizien hinzukämen. Sei die Vaterschaftswahrscheinlichkeit kleiner als 95 %, so seien schwerwiegende Zweifel an der Vaterschaft begründet (Hummel in Ponsold, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 3. Aufl., S. 555).
Es läßt sich daher entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht sagen, daß bei einer serostatistischen Vaterschaftswahrscheinlichkeit von 98,5 %, wie sie hier vorliegt, einem erbbiologischen Gutachten keine Bedeutung zukommen kann. Mag es auch nicht wahrscheinlich sein, so ist es immerhin nicht auszuschließen, daß das erbbiologische Gutachten sich als ein durchaus ernstzunehmendes Indiz gegen die Vaterschaft des Klägers darstellen könnte. Das aber hätte zur Folge, daß dem serostatistischen Befund nicht mehr die Bedeutung für die Glaubwürdigkeit der Kindesmutter hinsichtlich eines Mehrverkehrs beigemessen werden könnte, die ihm das Berufungsgericht beigemessen hat.
Mit seinem Antrag auf Erholung eines erbbiologischen Gutachtens stellt der Kläger mithin (mittelbar) eine Tatsache unter Beweis, die gegen die Glaubwürdigkeit der Kindesmutter hinsichtlich eines Mehrverkehrs sprechen könnte. Daß aber das erbbiologische Gutachten demgegenüber bei der hier gegebenen Sachlage ohne jede Bedeutung bleibt, hat selbst das Berufungsgericht nicht angenommen. Es meint lediglich, daß von einem solchen Gutachten "nur ganz entfernt" eine weitere Aufklärung erheblicher Tatsachen zu erwarten sei. Das kann aber nicht ausreichen, einem solchen Gutachten jeden Wert abzusprechen, wie es das Berufungsgericht im Ergebnis getan hat.
Die Annahme des mangelnden Einflusses eines erbbiologischen Gutachtens hätte sich vielleicht noch rechtfertigen lassen können, wenn sonst keinerlei Umstände ersichtlich wären, die gegen die Glaubwürdigkeit der Kindesmutter hinsichtlich eines Mehrverkehrs sprechen könnten. Hier hat das Berufungsgericht jedoch nicht die Feststellung getroffen, daß es an ersichtlichen Umständen fehle, die Zweifel an der Wahrheit der eidlichen Aussage der Kindesmutter hervorrufen könnten. Zweifel hat es schon an der Verläßlichkeit ihrer Angaben darüber gehabt, ob es überhaupt zwischen ihr und dem Kläger zu einem zeugungsfähigen Geschlechtsverkehr gekommen ist. Nach ihren Bekundungen soll es nach nur kurzer Bekanntschaft mit dem Kläger einmal in dessen Auto zu dem Geschlechtsverkehr gekommen sein. Es sei, so die weiteren Angaben der Kindesmutter, ihr erster Geschlechtsverkehr gewesen. Der Kläger sei mit seinem Geschlechtsteil zumindest ein wenig in ihre Scheide gekommen. Das habe nur wenige Sekunden gedauert. Schmerzen habe sie dabei nicht verspürt. Beischlafbewegungen habe der Kläger nicht vollführt. Ob es bei ihm zum Samenerguß gekommen sei, wisse sie nicht.
Nur weil dem Kläger auf Grund der gesetzlichen Vermutung die Widerlegung des Geschlechtsverkehrs oblag, hat das Berufungsgericht seine Zweifel zu Lasten des Klägers gehen lassen und die Aussage der Kindesmutter dahin gewürdigt, es sei nicht auszuschließen, daß es in der geschilderten Weise zum Geschlechtsverkehr gekommen sei, so daß die Aussage in diesem Punkt zumindest nicht "völlig unglaubwürdig" und somit auch nicht geeignet sei, die gesetzliche Vermutung der Beiwohnung zu widerlegen. Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Kindesmutter konnten sich weiterhin daraus ergeben, daß diese während der Empfängniszeit auch Beziehungen zu einem anderen Mann unterhalten hat, die nach ihren eigenen Bekundungen über ein nur freundschaftliches Verhältnis hinausgegangen sind ("intimere Berührungen"), aber angeblich nicht zu einem Geschlechtsverkehr geführt haben sollen.
Unter diesen Umständen kann die biostatistische Vaterschaftswahrscheinlichkeit von 98,5 % nicht genügen, jegliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Kindesmutter auszuräumen. Sollte der noch zu erholende erbbiologische Befund dazu führen, daß sich Zweifel an einem Mehrverkehr der Kindesmutter nicht ausschließen lassen, so werden die Grundsätze zu beachten sein, die der erkennende Senat in seinem Urteil vom 21. September 1973 - IV ZR 136/72 - (NJW 1973, 2249) entwickelt hat.
4.
Aus den erörterten Gründen ist daher das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Johannsen
Dr. Reinhardt
Dr. Bukow
Knüfer