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Bundesgerichtshof
Urt. v. 16.05.1972, Az.: 5 StR 56/72

Strafbarkeit der fahrlässigen Mitverursachung des Todes eines Selbstmörders; Abgrenzung der bewussten Fahrlässigkeit vom Gehilfenvorsatz

Bibliographie

Gericht
BGH
Datum
16.05.1972
Aktenzeichen
5 StR 56/72
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1972, 12272
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
AG Hannover - 22.07.1971

Fundstellen

  • BGHSt 24, 342 - 345
  • MDR 1972, 703 (Volltext mit amtl. LS)
  • NJW 1972, 1476 (amtl. Leitsatz mit Anm.)
  • NJW 1972, 1207-1208 (Volltext mit amtl. LS)

Verfahrensgegenstand

Fahrlässiger Tötung

Prozessführer

Polizeiobermeister Werner D. aus H., geboren am ... 1931 in G.

Amtlicher Leitsatz

Wer fahrlässig den Tod eines Selbstmörders mitverursacht, ist nicht strafbar.

In der Strafsache
hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs
in der Sitzung vom 16. Mai 1972,
an der teilgenommen haben:
Senatspräsident Prof. Dr. Sarstedt als Vorsitzender,
die Bundesrichter Siemer, Schmitt, Herrmann
Bundesrichter Schuster als beisitzende Richter,
Bundesanwalt Dr. ... als Vertreter der Bundesanwaltschaft und Justizangestellte ... als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des erweiterten Schöffengerichts in Hannover vom 22. Juli 1971 aufgehoben.

Der Angeklagte wird freigesprochen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens sowie die in ihm entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten werden der Landeskasse auferlegt.

Gründe

1

Das Schöffengericht hat den Angeklagten, einen Polizeiobermeister, wegen fahrlässiger Tötung verurteilt.

2

Der Angeklagte und Frau S., die in engen Beziehungen zueinander standen, machten mit dem Auto der Frau S. eine Fahrt, bei der Frau S. sich nach dem gemeinsamen Besuch einer Gaststätte und dem Genuß von Alkohol durch einen Schuß aus der Dienstpistole des Angeklagten tötete. Daß Schöffengericht sieht das für den Tod der Frau S. mitursächliche fahrlässige Verhalten des Angeklagten darin, daß er mit ihr die Gaststätte aufsuchte, ohne seine Pistole zu entladen, obwohl er wußte, daß Frau S. oft - vor allem nach dem Genuß von Alkohol - plötzlich bedrückt und schwermütig wurde und bereits mehrere Selbstmordversuche unternommen hatte, und obwohl er seine Gepflogenheit kannte, jedesmal, wenn er sich in das Auto setzte, die Pistole auf das Armaturenbrett zu legen. Als beide nach einem Aufenthalt von ungefähr 5 bis 5 1/2 Stunden die Gaststätte verließen, betrug der Blutalkoholgehalt des Angeklagten 2,5-3,85 %o, derjenige der Frau S. 2-2,25 %o. Der Angeklagte legte, als er in das Auto stieg, seine nach wie vor geladene Pistole auf das Armaturenbrett. Auf der weiteren Fahrt nahm Frau S. während einer Fahrtunterbrechung in einem Augenblick, in dem der Angeklagte es nicht merkte, die Pistole von dem Armaturenbrett und erschoß sich. Ihr Blutalkoholgehalt betrug zu dieser Zeit nur noch 1,45 %o.

3

Die Revision des Angeklagten rügt Verletzung des sachlichen Strafrechts.

4

Das Oberlandesgericht Celle, das über die Revision zu entscheiden hat, beabsichtigt, den Angeklagten freizusprechen. Es ist der Auffassung, daß derjenige, der durch fahrlässiges Verhalten den Tod eines freiverantwortlich handelnden Selbstmörders mitverursacht, nicht strafbar ist. Es sieht sich aber an dieser Entscheidung durch das Urteil des I. Ferienstrafsenats des Bundesgerichtshofs in JR 1955, 104 gehindert, in dem - ohne jede nähere Begründung - eine Bestrafung wegen fahrlässiger Tötung als zulässig bezeichnet wird. Das Oberlandesgericht hat die Sache daher gemäß § 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof vorgelegt. Die Vorlegungsvoraussetzungen sind gegeben. Daß das Urteil, von dem das Oberlandesgericht abweichen will, von einem Ferienstrafsenat des Bundesgerichtshofes erlassen worden ist, schließt die Vorlegungspflicht nicht aus (vgl. BGHSt 17, 360). Der Senat tritt der Rechtsansicht des Oberlandesgerichts Celle bei.

5

Wer mit Gehilfenvorsatz den Tod eines Selbstmörders mitverursacht, kann nicht bestraft werden, weil der Selbstmord keine Straftat ist. Dabei gehört zum Gehilfenvorsatz, daß der Gehilfe weiß oder zumindest damit rechnet und billigend in Kauf nimmt, es werde zum Tod des Selbstmörders kommen. Schon dies verbietet es aus Gründen der Gerechtigkeit, denjenigen zu bestrafen, der nur fahrlässig eine Ursache für den Tod eines Selbstmörders setzt. Er ist sich - bei bewußter Fahrlässigkeit - wie der Gehilfe der möglichen Todesfolge bewußt, nimmt sie aber im Gegensatz zu jenem nicht billigend in Kauf. Bei unbewußter Fahrlässigkeit fehlt das Bewußtsein der möglichen Todesfolge. Es geht nicht an, das mit einer solchen inneren Einstellung verübte Unrecht strafrechtlich strenger zu bewerten als die Tat desjenigen, der mit Gehilfenvorsatz dasselbe Unrecht bewirkt, nämlich den Tod eines Selbstmörders mitverursacht.

6

Die Gegenmeinung bedeutet zudem, daß in Fällen dieser Art zur sachgemäßen Verteidigung des Angeklagten die Behauptung gehören würde, er habe mit Gehilfenvorsatz gehandelt. Da Gehilfenvorsatz und Fahrlässigkeit einander ausschließen, muß der Tatrichter den Angeklagten freisprechen, sofern er jene Behauptung als wahr oder nicht widerlegt ansieht. Ein Angeklagter, dar nicht behauptet, er habe mit Gehilfenvorsatz gehandelt, läuft, wenn man der Gegenmeinung folgt, Gefahr, wegen fahrlässiger Tötung bestraft zu werden. Eine Rechtsansicht, die zu einem solchen Ergebnis führt, kann nicht richtig sein.

7

Der Senat hat, da der Sachverhalt feststeht, den Angeklagten entsprechend dem Antrag des Generalbundesanwalts freigesprochen.

8

Das Urteil des I. Ferienstrafsenats in BGH JR 1955, 104 zwingt den Senat nicht, die Sache dem Großen Senat für Strafsachen vorzulegen, weil jener Feriensenat nicht mehr besteht (BGHSt 15, 209, 219) [BGH 09.11.1960 - 4 StR 407/60]. Das Urteil des 1. Strafsenats in BGHSt 2, 150 betrifft einen Fall, der wesentlich anders liegt. Die Angeklagte hatte mit Tötungsvorsatz durch pflichtwidriges Unterlassen eine weitere Ursache für den Selbstmord ihres Ehemannes gesetzt. Das Schwurgericht hatte sie wegen unterlassener Hilfeleistung nach § 330 c StGB verurteilt. Der I. Strafsenat hat das Urteil auf die Revisionen der Angeklagten und der Staatsanwaltschaft aufgehoben und die Sache an das Schwurgericht zur Entscheidung darüber zurückverwiesen, ob die Angeklagte sich des Totschlags oder fahrlässiger Tötung schuldig gemacht habe. Dabei hat er die mögliche Fahrlässigkeit allein in einem schuldhaften Irrtum der Angeklagten über ihre Garantenpflicht gesehen. Im übrigen waren Aufhebungsgründe nur die rechtsfehlerhafte Anwendung das § 330 c StGB und die Nichtanwendung des § 212 StGB. Daß die Angeklagte auch wegen fahrlässiger Tötung verurteilt werden könne, wird nur nebenbei erwähnt.

Sarstedt
Siemer
Schmitt
Herrmann
Schuster