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Bundesgerichtshof
Urt. v. 10.06.1970, Az.: IV ZR 1086/68

Inhaberschaft an einem Privatsäuglingsheim; Gewährung von Versicherungsschutz wegen der aus dem Unfall eines Kindes geltend gemachten Schadensersatzansprüche; Verletzung der Anzeigepflicht; Kenntnis der Tatsachen als Voraussetzung der Anzeigepflicht

Bibliographie

Gericht
BGH
Datum
10.06.1970
Aktenzeichen
IV ZR 1086/68
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1970, 11019
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
OLG Frankfurt (Main) - 28.03.1968

Fundstelle

  • VersR 1970, 1045-1046 (Volltext mit amtl. LS)

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Eine "demnächstige" Zustellung der Klage i. S. des § 261b Abs. 3 ZPO ist nur dann auszuschließen, wenn ein fahrlässiges Verhalten der klagenden Partei oder ihres Prozeßbevollmächtigten zu einer nicht unerheblichen Verzögerung der Klagezustellung geführt hat.

  2. 2.

    Die Anzeigepflicht in der Haftpflichtversicherung setzt die Kenntnis des Versicherungsnehmers voraus, daß ein Ereignis eingetreten ist, das einen Schaden herbeizuführen droht, und daß der drohende Schaden ihm gegenüber Haftpflichtansprüche zur Folge haben könnte.

  3. 3.

    Ein Kennenkönnen oder Kennenmüssen dieser Tatsachen reicht nicht aus.

Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat
auf die mündliche Verhandlung
vom 10. Juni 1970
unter Mitwirkung
des Senatspräsidenten Dr. Hauß und
der Bundesrichter Wüstenberg, Dr. Reinhardt
Dr. Bukow und Dr. Buchholz
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 15. Zivilsenats in Kassel des Oberlandesgerichts Frankfurt (Main) vom 28. März 1968 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten des Revisionsrechtszuges zu tragen.

Tatbestand

1

Die Klägerin ist Inhaberin des Privatsäuglingsheimes "He." in N. Sie ist bei der Beklagten haftpflichtversichert. Im Heim der Klägerin war seit dem 25. Februar 1959 das am 20. Januar 1959 geborene landeshilfebedürftige Kind Pia K. untergebracht, das wegen seiner unehelichen Geburt der Amtsvormundschaft des Jugendamts M, untersteht. Am 19. August 1959 fiel das Kind durch anhaltendes Schreien mit anschließender Bewußtlosigkeit auf. Auf ärztliche Anordnung wurde es zunächst in ein Kinderkrankenhaus in K. und von dort am 20. August 1959 in die Universitäts-Kinderklinik nach G. überführt. Dort wurde ein mit einer Hirnblutung einhergehendes Krampfleiden festgestellt, wobei die Röntgenuntersuchung eine Haarfissur des rechten Stirnbeins ergab. Die Hirnschädigung, die das Kind davongetragen hatte, hat zu einer bleibenden Lähmung und Unterentwicklung der linksseitigen Extremitäten und einer Subluxationsstellung des linken Hüftgelenks geführt.

2

Als die Klägerin das Kind am 3. Dezember 1959 aus der Kinderklinik in G. wieder abholte, teilte ihr die entlassende Ärztin mit, daß die Gehirnblutung durch einen Schädelbruch ausgelöst worden sei.

3

Mit Schreiben vom 12. Januar 1961 machte das Jugendamt M. als Fürsorgebehörde die ihm entstandenen und entstehenden Kosten gegen die Klägerin geltend mit der Begründung, daß die Schädelverletzung und ihre Folgen auf das Verhalten einer Hilfskraft der Klägerin zurückzuführen seien. Daraufhin zeigte die Klägerin der Beklagten am 14. Januar 1961 den Schadensfall an. Mit Schreiben vom 29. März 1961 verweigerte die Beklagte der Klägerin jeden Versicherungsschutz mit der Begründung, die Klägerin habe die ihr nach § 5 Ziffer 2 AHB obliegende Pflicht zur Anzeige des Schadens binnen einer Woche vorsätzlich oder zumindest grob fahrlässig verletzt.

4

Die Klägerin hat dies in Abrede gestellt und beantragt festzustellen, daß die Beklagte zur Gewährung des Versicherungsschutzes wegen der aus dem Unfall des Kindes Pia K. gegen die Klägerin geltend gemachten Schadensersatzansprüche verpflichtet sei.

5

Die Beklagte hat um Klageabweisung gebeten und hierzu vorgetragen: Die Klägerin habe zunächst schon die in § 10 AHB vorgesehene Klagefrist von sechs Monaten versäumt. Diese sei am 30. September 1961 abgelaufen, die Zustellung der Klage dagegen erst am 4. November 1961 erfolgt. Ferner habe die Klägerin auch ihre Anzeigepflicht aus § 5 Ziffer 2 AHB vorsätzlich oder zumindest grob fahrlässig verletzt, so daß sie, die Beklagte, auch aus diesem Grunde von ihrer vertraglichen Leistungspflicht frei geworden sei.

6

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen mit der Begründung, die Klägerin habe nicht nur die Klagefrist des § 10 AHB versäumt, sondern in grob fahrlässiger Weise auch ihre Anzeigepflicht aus § 5 Ziffer 2 AHB verletzt und dadurch die Feststellung des Versicherungsfalles und der dem Versicherer obliegenden Leistungen nachteilig beeinflußt.

7

In der Berufungsinstanz hat die Klägerin, nachdem im Haftpflichtprozeß des verletzten Kindes gegen die Klägerin rechtskräftig festgestellt worden war, daß die Klägerin verpflichtet sei, dem verletzten Kinde Pia K. den durch diesen Unfall verursachten Schaden zu ersetzen, beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des angefochtenen Urteils zu verurteilen, der Klägerin Versicherungsschutz zu gewähren dadurch, daß die Beklagte

  1. a)

    der Klägerin die ihr im Vorprozeß Kö./Ma. (5 O 121/62 LG Kassel = 15 U 106/66 OLG Frankfurt (Main) 15. Zivilsenat in Kassel) auferlegten Kosten bezahlt und

  2. b)

    die Schadensersatzansprüche befriedigt, die von dem Kinde Pia Kö. auf Grund der Urteile des vorgenannten Prozesses gegen die Klägerin erhoben werden.

8

Das Berufungsgericht hat unter Abänderung des landgerichtlichen Urteils die Beklagte entsprechend diesem Antrag der Klägerin verurteilt.

9

Mit der Revision, um deren Zurückweisung die Klägerin bittet, begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

Entscheidungsgründe

10

1.

Zwischen den Parteien ist unstreitig, daß die Klägerin auf Grund gesetzlicher Haftpflichtbestimmungen privatrechtlichen Inhalts dem Kinde Pia K. Schadensersatz zu leisten hat. Das Berufungsgericht ist zu dem Ergebnis gelangt, daß die Beklagte der Klägerin auf Grund des zwischen den Parteien bestehenden Haftpflichtversicherungsvertrages hierfür Versicherungsschutz zu gewähren hat, da ihre Einwände, die Klägerin habe die Klagefrist versäumt (§ 10 AHB) und ihre Anzeigepflicht vorsätzlich oder zumindest grob fahrlässig verletzt (§ 5 Nr. 2 AHB), nicht durchgreifen. Hiergegen wendet sich die Revision ohne Erfolg.

11

2.

Gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, die Klage sei "demnächst" im Sinne des § 261 b Abs. 3 ZPO am 4. November 1961 zugestellt worden mit der Folge, daß die Zustellungswirkung mit der Einreichung der Klage schrift am 20. September 1961 - also noch vor Ablauf der Klagefrist am 30. September 1961 - eingetreten sei, bestehen keine rechtlichen Bedenken.

12

Wie das Berufungsgericht zutreffend feststellt, hat die Klägerin rechtzeitig vor Ablauf der Klagefrist das Armenrecht beantragt und zugleich eine formell ordnungsmäßige Klageschrift zum Zweck der Klageerhebung eingereicht. Damit hatte sie zur Wahrung der Frist zunächst alles getan, was von ihr erwartet werden konnte. Die mit dem Armenrechtsprüfungsverfahren verbundene Verzögerung der Klagezustellung konnte nicht zu Lasten der Klägerin gehen, da sie nicht auf Umständen beruhte, die von ihr zu vertreten waren (BGH LM § 261 b ZPO Nr. 4). Wenn man im Sinn der neueren Rechtsprechung (BGH LM § 261 b ZPO Nr. 8 a und 10) davon ausgeht, daß die klagende Partei nicht nur Verzögerungen der Klagezustellung zu vermeiden, sondern ihrerseits im Sinne einer möglichsten Beschleunigung zu wirken hat, so ergab sich diese Pflicht für die Klägerin oder ihre Prozeßbevollmächtigte, deren schuldhaftes Verhalten sich die Klägerin anrechnen lassen müßte, erst, als der Prozeßbevollmächtigten der das Armenrecht ablehnende Beschluß am 19. Oktober 1961 zuging. Es kann dahinstehen, ob es dieser als schuldhaftes Verhalten zuzurechnen ist, daß sie erst am 3. November 1961 auf eine beschleunigte Zustellung hinwirkte, die dann am nächsten Tage erfolgte. Jedenfalls läßt sich die Zeitspanne von nur vierzehn Tagen nicht als so erheblich ansehen, daß sie für die Klägerin zu einer Versagung der Rechtswohltat des § 261 b Abs. 3 ZPO hätte führen können. Denn auch nach der neueren Rechtsprechung ist eine "demnächstige" Zustellung im Sinne des § 261 b Abs. 3 ZPO nur dann auszuschließen, wenn ein fahrlässiges Verhalten der klagenden Partei oder ihres Prozeßbevollmächtigten zu einer nicht unerheblichen Verzögerung der Klagezustellung geführt hat. Auch konnten mit der Annahme, daß die Klagefrist mit der Einreichung der Klageschrift am 20. September 1961 gewahrt sei, keine beachtlichen Interessen der Beklagten verletzt werden. Denn die Frist des § 10 AHB soll dem Versicherer lediglich Klarheit darüber verschaffen, ob er noch mit Versicherungsansprüchen zu rechnen hat oder nicht. Nachdem der Beklagten aber eine Abschrift der Klage am 23. oder 24. September 1961, also innerhalb der Klagefrist, zugegangen war, konnte für sie kein Zweifel bestehen, daß mit einer alsbaldigen Durchführung der Klage zu rechnen war.

13

3.

Auch soweit das Berufungsgericht die Leistungsfreiheit der Beklagten wegen Verletzung der Anzeigepflicht durch die Klägerin verneint hat, ist dies im Ergebnis zutreffend.

14

Nach § 5 Nr. 2 Abs. 1 AHB ist jeder Versicherungsfall dem Versicherer unverzüglich, spätestens innerhalb einer Woche schriftlich anzuzeigen. Versicherungsfall ist dabei in der allgemeinen Haftpflichtversicherung ein Schadensereignis, das Haftpflichtansprüche gegen den Versicherungsnehmer zur Folge haben könnte (§ 5 Nr. 1 AHB). Nach der für alle Versicherungszweige geltenden Bestimmung des § 33 Abs. 1 VVG hat der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall unverzüglich anzuzeigen, sobald er von seinem Eintritt Kenntnis erlangt. Die Anzeigepflicht in der Allgemeinen Haftpflichtversicherung setzt mithin die Kenntnis der Tatsachen voraus, aus denen sich der Charakter eines Ereignises als Versicherungsfall ergibt. Die Kenntnis des Versicherungsnehmers muß sich daher nicht nur darauf beziehen, daß ein Ereignis eingetreten ist, das einen Schaden herbeizuführen droht, sondern auch darauf, daß der drohende Schaden ihm gegenüber Haftpflichtansprüche zur Folge haben könnte.

15

In vorliegendem Fall hat die Klägerin zwar gewußt, daß ein Ereignis eingetreten war, das einen Schaden herbeizuführen drohte, nämlich der Schädelbruch des Kindes. Das Berufungsgericht hat sich aber nicht davon überzeugen können, daß die Klägerin bis zu der Zeit, als Ansprüche gegen sie geltend gemacht wurden, auch die für eine Anzeigepflicht vorauszusetzende Kenntnis davon hatte, daß das einen Schaden androhende Ereignis in ihrem Heim und damit in ihrem Verantwortungsbereich eingetreten sei und ihr gegenüber Haftpflichtansprüche zur Folge haben Könnte. Das ergeben die unangreifbaren Feststellungen des Berufungsgerichts, das hierzu ausgeführt hat: Mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit habe die Klägerin die Verletzung des Kindes nicht selbst herbeigeführt. Nach ihrem unwidersprochen gebliebenen und glaubhaften Vortrag sei sie der Auffassung gewesen, daß nach dem Ergebnis übereinstimmender Erklärungen ihres Personals der Schädelbruch des Kindes nicht in ihrem Heim erfolgt sei und deshalb auch ihre Haftung nicht in Betracht komme. Nach ihrem gleichfalls unwidersprochen gebliebenen Vortrag habe ihr überdies auch der für die Belange des Kindes zuständige Beamte erklärt, ihr könne kein Vorwurf gemacht werden, er werde alles regeln, sie selbst brauche nichts zu veranlassen. Schließlich habe selbst der Amtsarzt in seinem Bericht vom 15. August 1961 an den Amtsvormund es für durchaus zweifelhaft gehalten, ob der Schädelbruch des Kindes überhaupt im Heim der Klägerin erfolgt sei, da auch die Möglichkeit bestehe, daß die Erkrankung des Kindes auf Vorgänge vor Aufnahme des Kindes in das Heim der Klägerin zurückzuführen sei.

16

Fehlte es mithin der Klägerin an der positiven Kenntnis des eingetretenen Versicherungsfalles, dann bestand für sie auch keine Anzeigepflicht im Sinne des § 5 Nr. 2 Abs. 1 AHB. Diese trat für sie gemäß § 5 Nr. 2 Abs. 3 AHB erst ein, als Ansprüche gegen sie geltend gemacht wurden. Dieser Anzeigepflicht aber ist die Klägerin unverzüglich nachgekommen.

17

Da die Anzeigepflicht in der allgemeinen Haftpflichtversicherung die Kenntnis der Tatsachen voraussetzt, aus denen sich der Charakter eines Ereignisses als Versicherungsfall ergibt, ist ein Kennenkönnen oder ein Kennenmüssen dieser Tatsachen nicht ausreichend. Auf die Frage, ob die Klägerin fahrlässig nicht erkannt hat, daß sich das den Schaden androhende Ereignis in ihrem Verantwortungsbereich ereignet hat, woraus auch auf die Kenntnis ihrer möglichen haftpflichtrechtlichen Verantwortung zu schließen gewesen wäre, kommt es daher nicht an. Selbst eine auf grober Fahrlässigkeit beruhende Unkenntnis der Klägerin bliebe ohne rechtliche Bedeutung (BGH VersR 1967, 56, 58). Die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Schuldfrage können daher auf sich beruhen. Ihnen ist in tatsächlicher Hinsicht auch nicht zu entnehmen, daß die Klägerin sich vor Erhebung der Schadenersatzansprüche der Möglichkeit einer eigenen haftungsrechtlichen Verantwortung bewußt war.

18

4.

Danach ist die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Dr. Hauß
Dr. Reinhardt
Die Bundesrichter Wüstenberg und Dr. Bukow sind beurlaubt und an der Unterzeichnung verhindert. Dr. Hauß
Dr. Buchholz