Bundesgerichtshof
Urt. v. 18.04.1961, Az.: VI ZR 166/60
Rechtsmittel
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 18.04.1961
- Aktenzeichen
- VI ZR 166/60
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1961, 14038
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- OLG Bamberg - 06.04.1960
In dem Rechtsstreitverfahren
hat der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs
auf die mündliche Verhandlung vom 18. April 1961
unter Mitwirkung
des Senatspräsidenten Dr. Engels und
der Bundesrichter Dr. Bode, Dr. Hauß, Heinrich Meyer und Dr. Pfretzschner
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts in Bamberg vom 6. April 1960 wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Revision werden dem Beklagten auferlegt.
Tatbestand
Der Kläger fuhr am 6. August 1956 gegen 13 Uhr mit seinem Motorrad (DKW 196 ccm) in G. auf der B. Straße in Sichtung Ortsmitte. Aus der Gegenrichtung näherte sich der Beklagte auf seinem Fahrrad. Er bog, um in die in seiner Fahrtrichtung links der Straße gelegene Einfahrt zu seiner Arbeitsstätte, der Kleiderfabrik D. zu gelangen, nach links in die Fahrbahn des Klägers. Beide Fahrzeuge stiessen zusammen. Die Parteien stürzten und erlitten schwere Verletzungen.
Der Kläger hat mit der Klage Ersatz seines Sachschadens, ein angemessenes Schmerzensgeld sowie die Feststellung verlangt, daß der Beklagte ihm zum Ersatz aller weiteren noch entstehenden Unfallschäden verpflichtet ist. Er hat vorgetragen, der Beklagte sei wenige Meter vor ihm, ohne ein Zeichen zu geben, plötzlich in seine Fahrbahn abgebogen. Trotz seiner mässigen Geschwindigkeit von 20-25 km/st habe er, der Kläger, sein Fahrzeug nicht mehr rechtzeitig anhalten oder ausweichen können.
Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Er hat entgegnet, er habe seine Absicht, nach links einzubiegen, rechtzeitig durch Ausstrecken des linken Armes angezeigt. Der Kläger habe den Zusammenstoß mitverschuldet. Er sei vor dem Unfall mit einer Geschwindigkeit von mindestens 50 km/st gefahren. Dies sei nach der Verkehrslage zu hoch gewesen, weil sich auf der Straße etwa 50 Betriebsangehörige der in der Nähe gelegenen Fabriken befunden hätten und die Fahrbahn daher unübersichtlich gewesen sei. Zur Unfallzeit sei zudem in G. die Geschwindigkeit auf 40 km/st begrenzt gewesen. Der Beklagte hat außerdem gegen die Klageansprüche mit eigenen Gegenforderungen aus dem Unfall aufgerechnet.
Das Landgericht hat dem Kläger als Ersatz für seinen Sachschaden und Schmerzensgeld den Betrag von 8.082,85 DM nebst 4 % Zinsen seit Klagezustellung zugesprochen und die begehrte Feststellung vorbehaltlich des Rechtsübergangs nach § 1542 RVO getroffen.
Im Berufungsrechtszug hat der Beklagte eingeräumt, dem Kläger zur Hälfte der Unfallschäden abzüglich der zur Aufrechnung gestellten Gegenforderungen in Höhe von 2.075 DM ersatzpflichtig zu sein. Er hat beantragt,
ihn in Abänderung des angefochtenen Urteils zur Zahlung von 1.966,45 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 17. Dezember 1959 zu verurteilen und festzustellen, daß der Beklagte dem Kläger die Hälfte allen weiteren Schadens aus dem Unfall vom 6. August 1956 zu ersetzen habe, soweit der Kläger seinen Schadensersatzanspruch nicht an einen öffentlichen Versicherungsträger verloren habe, im übrigen das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen mit der Maßgabe, daß dieser 4 % Zinsen von dem Schmerzensgeld erst vom Tage der Verkündung des erstinstanzlichen Urteils ab zu zahlen hat.
Mit der Revision verfolgt der Beklagte den in der Berufungsinstanz gestellten Abweisungsantrag weiter.
Der Kläger bittet um Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
1.
Die Revision rügt ohne Erfolg, das Berufungsgericht habe in Verkennung des Umfangs seiner Prüfungspflicht nach §§ 525, 536 ZPO geglaubt, sich mit der Frage, ob der Beklagte den Unfall verschuldet hat, nicht mehr befassen zu müssen. Das Berufungsgericht hat diese Frage eingehend geprüft und ist zutreffend zu der Auffassung gelangt, daß der Beklagte den Unfall grob fahrlässig verursacht hat. Nach seiner Feststellung ist der Beklagte plötzlich und unversehens in die Fahrbahn des herannahenden Klägers eingebogen, als dieser nur noch wenige Meter entfernt war. Dabei hat er die vor ihm liegende Fahrbahn nicht ausreichend beachtet, sondern nach rückwärts geschaut und kein Richtungszeichen gegeben. Dieses Verhalten wäre auch dann als grob fahrlässig zu erachten, wenn der Beklagte, wie er behauptet hat, ein Richtungszeichen gegeben haben sollte. Auch für die Frage des Mitverschuldens des Klägers ist es nicht entscheidend, ob der Beklagte ein Richtungszeichen gegeben hat; denn auch bei Abgabe eines solchen Zeichens durfte der Kläger darauf vertrauen, daß der Beklagte seine Fahrbahn nicht entgegen seiner gesteigerten Sorgfaltspflicht nach § 17 StVO unmittelbar vor ihm überqueren, sondern ihn vorbeilassen werde. Damit erledigen sich die Verfahrensrügen der Revision gegen die Feststellung des Berufungsgerichts, der Beklagte habe kein Richtungszeichen gegeben. Die Rügen bewegen sich im übrigen auf dem der Revision verschlossenen Gebiet der tatrichterlichen Beweiswürdigung.
2.
Das Berufungsgericht verneint ein Mitverschulden des Klägers. Es hält eine Fahrgeschwindigkeit des Klägers von mehr als 40 km/st nicht für erwiesen. Es führt hierzu aus, nach den Aussagen der Zeugen Hö. und Ba. vor dem Landgericht habe die Geschwindigkeit des Klägers 40-50 km/st betragen. Diese Schätzungen vermöchten aber erfahrungsgemäß keine zuverlässige Grundlage für eine genaue Feststellung der Geschwindigkeit abzugeben; dies gelte umso mehr, als beide Zeugen den herannahenden Kläger nach ihren Aussagen nur einen kurzen Augenblick und in spitzem Winkel beobachtet hätten. Für eine höhere Geschwindigkeit als 40 km/st könne auch nichts aus dem Umstand gefolgert werden, daß nach den Zeugenaussagen der Kläger mit seinem Motorrad nach dem Zusammenstoß auf der Straße noch etwa 2-3 1/2 m weitergerutscht sei. Auch Art und Schwere der Verletzungen des Klägers böten keine zuverlässigen Anhaltspunkte für die Annahme, dieser sei schneller als 40 km/st gefahren. Unter den gegebenen Umständen bestehe kein Anlaß zur Einholung eines Sachverständigengutachtens über die Fahrgeschwindigkeit des Klägers sowie eines solchen über die Zuverlässigkeit der Geschwindigkeitsschätzungen der jugendlichen Zeugen Ba. und Hö. auf der Grundlage von Testversuchen. Derartige Untersuchungen könnten schon deshalb keine sichere Grundlage für die erforderten Feststellungen liefern, weil die zur Unfallzeigt 15 bzw. 17-jährigen Zeugen inzwischen fast 3 3/4 Jahre älter geworden seien und daher auch in der Schätzung von Geschwindigkeiten eine größere Erfahrung gesammelt hätten. Daß der Kläger im August 1953 schon einmal bei schneller Fahrt auf der Autobahn einen Unfall erlitten habe, lasse keinen Rückschluß auf seine Fahrgeschwindigkeit vor dem Zusammenstoß vom 6. August 1956 zu, zumal seine Behauptung, der frühere Unfall sei ausschließlich auf ein technisches Versagen des Motors zurückzuführen, nicht widerlegt sei.
3.
Diese Ausführungen werden von der Revision vergebens mit Verfahrensrügen angegriffen. Die Beurteilung der Aussagen der Zeugen Hö. und Ba. hält sich im Rahmen der dem Tatrichter nach § 286 ZPO zukommenden freien Würdigung. Ein Verstoß gegen einen Erfahrungssatz ist nicht ersichtlich. Daß das Berufungsgericht von der Einholung der beiden erwähnten Gutachten abgesehen hat, ist ebenfalls nicht zu beanstanden, da nach seinen zutreffenden Darlegungen keine hinreichenden tatsächlichen Grundlagen für die Erstattung dieser Gutachten gegeben waren.
Zu Unrecht rügt die Revision, des Berufungsgericht habe die Strafakten über den Unfall des Klägers vom August 1953 zum Beweis dafür beiziehen müssen, daß auch dieser Unfall auf eine überhöhte Geschwindigkeit des Klägers zurückzuführen sei. Der Beklagte hatte, wie die Revision selbst einräumt, die Beiziehung der Strafakten zu diesem Beweisthema nicht beantragt, sondern sich mit der Vorlage eines Zeitungsabschnittes und der Ablichtung einer Zeugenaussage im Ermittlungsverfahren begnügt, die von einer überhöhten Geschwindigkeit des Klägers sprach. Unter diesen Voraussetzungen war das Berufungsgericht nicht gehalten, die Strafakten beizuziehen. Es bestand entgegen der Meinung der Revision auch kein Anlaß, nach § 139 ZPO einen Antrag auf Beiziehung dieser Akten anzuregen.
4.
Das Berufungsgericht erachtet die Fahrgeschwindigkeit des Klägers im Hinblick auf die Straßenbeschaffenheit und die gesamte Verkehrslage zur Unfallzeit nicht für zu hoch. Daß die Straße vor dem Unfall von anderen Verkehrsteilnehmern, insbesondere von Fußgängern derart belebt war, daß der Kläger seine Fahrbahn nicht übersehen konnte, hält das Berufungsgericht nicht für bewiesen. Der Zeuge Hö., so führt es aus, habe nicht sagen können, daß sich auf der Fahrbahn überhaupt Fußgänger befunden hätten. Nach der glaubhaften Aussage des Zeugen He. - der den Beklagten mit seinem Motorrad etwa 10 m vor der Unfallstelle überholt hatte - hätten sich vor dem ihm entgegenkommenden Kläger auf der Fahrbahn keine Fußgänger befunden. Aus der Aussage des Klägers in der Hauptverhandlung im Strafverfahren, seine Fahrbahn sei in einer Breite von 0,80-1 m frei gewesen, folgert das Berufungsgericht, es lasse sich nicht ausschließen, daß noch Angehörige der Fabrikbetriebe auf der Mitte der Fahrbahn gegangen seien. Danach hält es das Berufungsgericht entgegen der Meinung der Revision nicht für erwiesen, daß die Fahrbahnhälfte des Klägers auf der an der Unfallstelle gerade verlaufenden, 5 m breiten Straße durch starken Fußgängerverkehr für diesen unübersichtlich gewesen sei. Es stellt weiter, was die Revision übersieht, ausdrücklich fest, daß sich auf der Fahrbahnseite des Klägers vor diesem kein anderes Fahrzeug befunden hat. Danach läßt die Auffassung des Berufungsgerichts, eine Geschwindigkeit des Klägers bis zu 40 km/st sei nach der fesgestellten Verkehrslage gemäß §§ 1, 9 StVO nicht zu hoch gewesen, keinen Rechtsirrtum erkennen. Weder eine Unübersichtlichkeit der Fahrbahn, noch die gebotene Rücksichtnahme auf entgegenkommende Fahrzeuge oder die Sicherheit von Fußgängern auf der Fahrbahnseite des Klägers lassen nach den vom Berufungsgericht für erwiesen erachteten Umständen die genannte Fahrgeschwindigkeit als zu hoch erscheinen.
5.
Die Revision meint, es müsse dem Kläger als Mitverschulden angerechnet werden, daß er bei der Unfallfahrt keinen Schutzhelm trug. Dem kann nicht gefolgt werden. Das Bewußtsein der Notwendigkeit, zur Vermeidung schwerer Unfallfolgen einen Schutzhelm zu tragen, war jedenfalls zur Unfallzeit, im Jahre 1956, noch nicht in solchem Maße Allgemeingut der Kraftradfahrer, daß man dem Kläger zur Last legen könnte, er habe damals durch Nichtanwendung dieser Vorsichtsmaßnahme diejenige Sorgfalt außer acht gelassen, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt (vgl. Müller, Straßenverkehrsrecht 21. Aufl. § 9 StVG Anm. A II, wo ein Verschulden noch für das Jahr 1959 verneint wird). Ob heute das Nichttragen eines Schutzhelms einem Kraftradfahrer als Mitverschulden anzurechnen ist, braucht hier nicht entschieden zu werden.
6.
Bei der Schadensabwägung geht das Berufungsgericht zutreffend davon aus, daß die Betriebsgefahr des Motorrades des Klägers zu berücksichtigen sei, weil dieser den Entlastungsbeweis nach § 7 Abs. 2 StVG nicht erbracht habe. Mit Rücksicht auf die vom Beklagten durch grobes Verschulden gesetzten Unfallursachen, denen gegenüber nach seiner Auffassung die bloße Betriebsgefahr des Motorrades in ihrer Bedeutung als Unfallursache völlig zurücktritt, hat es aber dem Beklagten die gesamten Unfallschäden, sowohl die des Klägers als auch seine eigenen, angelastet. Da die Schadensabwägung keinen Rechtsfehler erkennen läßt, ist die Schadensverteilung für das Revisionsgericht bindend. Damit entfallen auch die vom Beklagten zur Aufrechnung gestellten Gegenforderungen.
7.
Zur Schadenshöhe rügt die Revision, das Berufungsgericht habe das vom Beklagten in der ersten Instanz beantragte Sachverständigengutachten darüber einholen müssen, daß die Gesundheitsschäden des Klägers auch auf den früheren Unfall vom Jahre 1953 zurückzuführen sein könnten. Die Rüge ist nicht gerechtfertigt. Beide Vorinstanzen haben aufgrund mehrerer ärztlicher Gutachten die Überzeugung gewonnen, daß die Gesundheitsschäden des Klägers auf den hier streitigen Unfall zurückzuführen seien. In den ärztlichen Gutachten ist festgestellt, daß der Kläger durch diesen Unfall u.a. einen Schädelbasisbruch sowie eine 4 × 4 cm große Impressionsfraktur am linken Stirnbein mit Schädigung der Gehirnsubstanz erlitten hat. Demgegenüber hat der Beklagte über Art und Ausmaß der Verletzungen des Klägers bei dem früheren Unfall keinerlei nähere Angaben gemacht. In der von ihm vorgelegten Zeitungsnotiz wird lediglich angeführt, der Kläger sei bei dem Unfall mit Hautabschürfungen davon gekommene Dieser selbst hat jede Verletzung bei dem Unfall bestritten. Wenn unter diesen Umständen das Berufungsgericht in Ausübung seines freien Ermessens nach § 287 ZPO von der Einholung des beantragten Gutachtens abgesehen hat, so ist dies rechtlich nicht zu beanstanden.
Die Revision war danach mit der Kostenfolge aus § 97 ZPO zurückzuweisen.
Dr. Bode
Dr. Hauß
H. Meyer
Dr. Pfretzschner