Bundesgerichtshof
Urt. v. 09.03.1951, Az.: 4 StR 48/51
Folgen einer Pflichtverletzung durch Zusammenstoßens von Radfahrern i.S.d. § 222 Strafgesetzbuch (StGB)
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 09.03.1951
- Aktenzeichen
- 4 StR 48/51
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1951, 11762
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Hannover - 15.11.1950
Rechtsgrundlage
Verfahrensgegenstand
Fahrlässige Tötung und Verkehrsübertretung
Redaktioneller Leitsatz
Als voraussehbar ist im allgemeinen nicht nur die regelmässige, sondern auch eine nur mögliche Folge des fahrlässigen Verhaltens, zuzurechnen (RGSt 65, 135; 73, 370, 372) (Tod infolge Zusammenstossens von Radfahrern, von denen der Getötete an Rückgratversteifung litt).
In der Strafsache
hat der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs
in der Sitzung vom 9. März 1951,
an der teilgenommen haben:
Senatspräsident Richter als Vorsitzender,
Bundesrichter Dr. Hülle
Bundesrichter Dr. Augustin
Bundesrichter Dr. Jagusch
Bundesrichter Dr. Kleinewefers
als beisitzende Richter,
Oberlandesgerichtsrat ... als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Justizassistent ... als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle,
fürRecht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts in Hannover vom 15. November 1950 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Landgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Anklagebehörde legt dem Angeklagten u.a. fahrlässige Tötung zur Last. Er ist insoweit nur wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 230 StGB) verurteilt. Die Sachrüge der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
Beizutreten ist der Strafkammer, soweit sie die Strassenverkehrsordnung vom 13. November 1937 angewandt hat und das Verhalten des Angeklagten im Strassenverkehr als fahrlässig kennzeichnet. Der Angeklagte hat pflichtwidrig gehandelt, indem er aus dem Hoftor des väterlichen Anwesens mit seinem Fahrrad verhältnismässig rasch auf die Strasse fuhr, ohne die Verkehrslage zu beachten und überhauptüberblicken zu können, statt das Fahrrad bis auf die Strasse zu führen, wie es nach der festgestellten Sachlage zur Vermeidung einer Verkehrsgefährdung nötig gewesen wäre. Dieses fahrlässige Verhalten des Angeklagten im Strassenverkehr hat den Tod des Rentners S. verursacht, wie die Strafkammer ohne ersichtlichen Rechtsirrtum ausführt.
Mit Recht beanstandet die Revision aber die Ansicht der Strafkammer, bei gehöriger Sorgfalt habe der Angeklagte als Folge seiner Fahrlässigkeit nicht den Tod, sondern nach der Sachlage, wie sie sich ihm darstellte, nur eine Körperverletzung des Rentners S. vorhersehen können. Das Urteil führt dazu aus: Nach der Lebenserfahrung pflegten Zusammenstösse von Radfahrern wegen der verhältnismässig geringen Fahrgeschwindigkeit nicht tödlich zu verlaufen, sofern nicht besondere Umstände hinzuträten. Ein solcher besonderer, vom Angeklagten nicht vorhergesehener und auch nicht vorhersehbarer Umstand sei die Rückgratversteifung des Getöteten gewesen, die diesen "wohl" gehindert habe, den Sturz abzuschwächen. Das falle dem Angeklagten nicht zur Last.
Dem ist nicht beizutreten. Der Erfahrungssatz, von dem die Strafkammer ausgeht, besteht nicht. Zwar mögen Zusammenstösse zwischen Radfahrern im allgemeinen keine besonders schweren Folgen haben. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit entfällt aber nur für Unfallfolgen, die so sehr ausser aller Lebenserfahrung liegen, dass sie der Täter nach allen äusseren Umständen und seinen Fähigkeiten und Kenntnissen bei sorgfältiger Überlegung nicht zu berücksichtigen braucht (RGSt 65, 135; 73, 370, 372). Die mögliche Todesfolge liegt aber auch beim Zusammenstoss von Radfahrern, und zwar schon bei gesunden Menschen, keineswegs ausserhalb der Lebenserfahrung. Der Freispruch kann daher auf einer Verkennung des Rechtsbegriffs der Voraussehbarkeit der Todesfolge beruhen, so dass er aufzuheben war. Die Strafkammer wird nunmehr prüfen müssen, ob bei dem Angeklagten etwa besondere Umstände vorliegen, aus denen hervorgeht, dass er entgegen der allgemeinen Erfahrung zur Tatzeit die mögliche Todesfolge etwaausnahmsweise nicht voraussehen konnte.
Die Entscheidung entspricht den Antrage des Oberbundesanwalts.
Dr. Hülle
Dr. Augustin
Jagusch
Dr. Kleinewefers