Schwerbehindertenvertretung
1 Allgemein
Die Schwerbehindertenvertretung fördert gemäß § 178 Abs. 1 SGB IX die Eingliederung schwerbehinderter Menschen in den Betrieb oder die Dienststelle, vertritt ihre Interessen in dem Betrieb oder der Dienststelle und steht ihnen beratend und helfend zur Seite.
Die Schwerbehindertenvertretung besteht aus der Vertrauensperson sowie mindestens einem Stellvertreter.
2 Wahl
Rechtsgrundlage der Wahl ist § 177 SGB IX sowie die Wahlordnung Schwerbehindertenvertretungen (SchwbVWO).
Voraussetzungen ist, dass im Betrieb mindestens fünf schwerbehinderte Arbeitnehmer beschäftigt sind. Es gilt der Betriebsbegriff des BetrVG (§§ 1 und 4 BetrVG). Dabei darf es sich nicht um nur vorübergehende Beschäftigungen handeln. Betriebe mit weniger Arbeitnehmern können für die Wahl mit räumlich naheliegenden Betrieben des Arbeitgebers zusammengefasst werden. Es ist eine Kann-Vorschrift, d.h. die Errichtung nicht zwingend. Aber es besteht die Verpflichtung des Betriebsrats, auf die Wahl hinzuwirken. »Die Gewerkschaften können (…) die Bildung einer Schwerbehindertenvertretung in der Dienststelle fördern und hierfür werben« (BAG 29.07.2009 – 7 ABR 25/08).
Wahlberechtigt sind alle schwerbehinderten und gleichgestellten Arbeitnehmer im Betrieb/Betriebsteil – auch die Leiharbeitnehmer, wenn sie länger als drei Monate im Betrieb eingesetzt wurden, § 7 S. 2 BetrVG.
Wählbar sind alle Arbeitnehmer, die am Wahltag das 18. Lebensjahr vollendet haben und deren Arbeitsverhältnis seit mindestens sechs Monaten besteht, es sei denn, der Betrieb besteht weniger als ein Jahr (§ 177 Abs. 3 SGB IX). Nicht wählbar (§ 177 Abs. 3 SGB IX) sind Leiharbeitnehmer (§ 14 Abs. 2 AÜG) sowie wer kraft Gesetzes dem Betriebsrat nicht angehören kann, z.B. Leitende Angestellte.
Zeitpunkt der Wahl: Die regelmäßige Wahl erfolgt alle vier Jahre (1. Oktober – 30. November): Die nächsten Wahlen werden 2022 sein.
Eine vorzeitige Wahl, d.h. außerhalb dieser Zeitpunkte, wird notwendig, wenn das Amt vorzeitig erlischt und kein Stellvertreter nachrückt oder die Wahl erfolgreich angefochten worden ist sowie bei der erstmaligen Wahl.
Eine vorzeitige Wahl hat grundsätzlich keine Auswirkungen auf die regelmäßige Wahl, d.h. diese findet weiterhin zu den vorgegebenen Terminen statt. Etwas anderes gilt nur, wenn die Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung zum Beginn des für die regelmäßigen Wahlen festgelegten Zeitraumes noch nicht ein Jahr betragen hat. Dann ist die Schwerbehindertenvertretung erst in dem übernächsten Zeitraum der regelmäßigen Wahlen neu zu wählen.
Es bestehen zwei Wahlverfahren:
Vereinfachtes Wahlverfahren:
wenn bisher keine Schwerbehindertenvertretung besteht oder weniger als 50 Wahlberechtigte im Betrieb sind, sofern der Betrieb nicht aus räumlich weit auseinander liegenden Teilen besteht
Einladung zu einer Wahlversammlung:
bei erstmaliger Wahl durch das Integrationsamt, den Betriebsrat oder drei Wahlberechtigte
in den anderen Fällen: spätestens drei Wochen vor Ablauf ihrer Amtszeit durch die Schwerbehindertenvertretung durch Aushang oder sonst in geeigneter Weise
Wahl eines Wahlleiters, der dann die Wahl der Schwerbehindertenvertretung und mindestens eines stellvertretenden Mitglieds im weiteren Verlauf der Versammlung durchführt.
Förmliches Wahlverfahren:
wenn mindestens 50 Wahlberechtigte im Betrieb sind
Einberufung eines Wahlvorstands spätestens acht Wochen vor Ablauf der Amtszeit durch die Schwerbehindertenvertretung bestehend aus drei volljährigen in dem Betrieb Beschäftigten und Berufung eines von ihnen als Vorsitzenden.
Der Wahlvorstand hat die Wahl unverzüglich einzuleiten. Sie soll innerhalb von sechs Wochen, spätestens jedoch eine Woche vor dem Tage stattfinden, an dem die Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung abläuft.
Es besteht kein Wahlrecht zwischen beiden Verfahren. Bei Vorliegen der Voraussetzungen ist zwingend eines der Verfahren anzuwenden.
Anfechtung der Wahl: Die Vorschriften über die Wahlanfechtung bei der Wahl des Betriebsrates sind sinngemäß anzuwenden (§ 94 Abs. 6 S. 2 SGB IX). Die Bestimmungen sind »nicht in strikter und ausschließlicher Befolgung ihres Wortlauts anzuwenden, sondern unter Berücksichtigung des mit ihnen verfolgten Zwecks« (BAG 29.07.2009 – 7 ABR 25/08). Es besteht eine Frist von zwölf Arbeitstagen, gerechnet vom Tag der Bekanntgabe des Wahlergebnisses an.
Anzeige der Wahl: Der Arbeitgeber hat dem Integrationsamt und der Agentur für Arbeit die Wahl der Vertrauensperson anzuzeigen (§ 163 Abs. 8 SGB IX).
3 Beteiligungsrechte
3.1 Unterrichtung und Anhörung
Zum 01.01.2018 wurde das folgende Beteiligungsrecht der Schwerbehindertenvertretung in das SGB IX eingefügt:
Der Arbeitgeber hat gemäß § 178 Abs. 2 SGB IX die Schwerbehindertenvertretung in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer ggf. zu treffenden Entscheidung anzuhören.
Beispiel:
Gemäß § 164 Abs. 1 S. 4 SGB IX hat der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung über den Eingang einer Bewerbung eines schwerbehinderten Menschen zu informieren.
Er hat dann der Schwerbehindertenvertretung die getroffene Entscheidung unverzüglich mitzuteilen.
3.2 Anforderungen an das Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren
Die Beteiligung muss vor der Entscheidung erfolgen. Anders als bei der Anhörung des Betriebsrats bei einer Kündigung ist die Beteiligung somit vor dem Entscheidungsentschluss selbst durchzuführen und nicht erst vor dem Ausspruch der Kündigung.
Die Beteiligung erfordert keine bestimmte Form, aber sie muss umfassend sein, d.h. mindestens die Kündigungsgründe müssen mitgeteilt werden. Die bei der Kündigung hinsichtlich Anhörung des Betriebsrats geltenden Grundsätze sind zu beachten. Auf Kündigungsgründe, die nicht mitgeteilt wurden, kann die Kündigung anschließend nicht gestützt werden.
Die Parteien sind gemäß § 182 SGB IX zur engen Zusammenarbeit verpflichtet: Der Arbeitgeber muss die Ansicht der Schwerbehindertenvertretung entgegennehmen und sich inhaltlich mit ihr auseinandersetzen. Es besteht keine feste Frist, bis wann die Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung abgegeben sein muss, aber die Frist muss angemessen sein angesichts der Umstände des Einzelfalls. Ggf. sind die Fristen des § 102 Abs. 2 BetrVG anwendbar, z.B. bei einer Kündigung wären dies:
ordentliche Kündigung: eine Woche
außerordentliche Kündigung: drei Tage
Das Verfahren wird mit der Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung abgeschlossen. Wenn die Schwerbehindertenvertretung nicht innerhalb einer angemessenen Frist eine Stellungnahme abgibt, kann der Arbeitgeber die Entscheidung treffen.
Hinweis:
Siehe auch die Gesetzesbegründung 18/10523 S. 64.
3.3 Folgen der Verletzung der Beteiligungspflicht
Die Durchführung oder Vollziehung einer ohne Beteiligung nach Satz 1 getroffenen Entscheidung ist auszusetzen, die Beteiligung ist innerhalb von sieben Tagen nachzuholen, sodann ist endgültig zu entscheiden.
Aber beachte: Die Kündigung eines schwerbehinderten Menschen, die der Arbeitgeber ohne eine Beteiligung nach Satz 1 ausspricht, ist gemäß § 178 Abs. 2 S. 3 SGB IX unwirksam, eine Heilung nicht möglich. Eine Heilung ist auch nicht mehr möglich, wenn der Arbeitgeber die Zustimmung des Integrationsamtes beantragt hat.
Rechtsfolgen:
Die Schwerbehindertenvertretung kann gegen die fehlerhafte Beteiligung mit dem Beschlussverfahren vorgehen.
Der Arbeitnehmer selbst kann Kündigungsschutzklage erheben.
Die Beweislast für ordnungsgemäße Beteiligung obliegt dem Arbeitgeber.
4 Anspruch auf Schulungen
Der Arbeitgeber trägt gemäß § 179 Abs. 4 S. 3 SGB IX die Kosten für Schulungs- und Bildungsveranstaltungen der Schwerbehindertenvertretung, soweit diese Kenntnisse vermitteln, die für die Arbeit der Schwerbehindertenvertretung erforderlich sind.
Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung sind gemäß § 178 SGB IX die Förderung der Eingliederung in den Betrieb oder die Dienststelle, die Interessenvertretung in der Dienststelle und die Beratung und Unterstützung schwerbehinderter Menschen.
Bezüglich der Auslegung des Begriffs »Erforderlichkeit der vermittelten Kenntnisse« kann dabei auf die Rechtsprechung zum Personalvertretungsrecht bzw. dem Betriebsverfassungsrecht zurückgegriffen werden bzw. sonstige Rechtsgrundlagen für die Interessenvertretung können herangezogen werden.
Auslegungshilfen sind geregelt in dem Runderlass des Innenministeriums NRW für die Durchführung des Landespersonalvertretungsgesetzes (Punkt 11: Teilnahme an Schulungs- und Bildungsveranstaltungen).
Nach der Rechtsprechung sind Schulungen dann nicht erforderlich, wenn das vermittelte Wissen lediglich dienlich ist (VGH Hessen 02.12.2004 – 22 TL 558/04):
»…, dienen sie vielmehr zu einem erheblichen Anteil der Persönlichkeitsprägung und Profilierung und haben damit auch einen gewichtigen individuellen Bezug, so dass – auch angesichts der erheblichen Kosten – eine Pflicht der Dienststelle zur Erstattung nicht besteht. Wegen ihres individuellen Bezugs tritt gerade bei derartigen Themen, wie »Gesprächs-, Diskussions- und Verhandlungsführung«, Rhetorikseminare etc. die Personenbezogenheit stark in den Vordergrund.
So hat etwa das Bundesverwaltungsgericht (…) die Teilnahme eines (ersten oder einzigen) Stellvertreters des Personalratsvorsitzenden an Schulungsveranstaltungen für Vorsitzende von Personal- und Betriebsräten mit dem Gegenstand »Vorbereitung und Durchführung von Sitzungen, Verhandlungen und Versammlungen« für nicht erforderlich gehalten, solange nicht feststehe, dass der Betreffende demnächst Vorsitzender werde.«
Das Bundesarbeitsgericht (BAG 20.10.1993 – 7 ABR 14/93) hat ebenfalls die Übernahme von Kosten für ein Soft-Skills-Seminar (»Sprechwirksamkeit - ich als Interessenvertreter in Rede und Gespräch«) als nicht erforderlich abgelehnt.
5 Einsicht in die Personalakte
Der schwerbehinderte Mensch hat gemäß § 178 Abs. 3 SGB IX das Recht, bei Einsicht in die über ihn geführte Personalakte oder ihn betreffende Daten des Arbeitgebers die Schwerbehindertenvertretung hinzuzuziehen.
6 Teilnahme an Sitzungen des Betriebsrats
Die Schwerbehindertenvertretung hat gemäß § 178 Abs. 4 SGB IX das Recht, an allen Sitzungen des Betriebsrats und deren Ausschüssen sowie des Arbeitsschutzausschusses beratend teilzunehmen. Sie kann beantragen, Angelegenheiten, die einzelne oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe besonders betreffen, auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung zu setzen.
7 Amtszeit
Die Amtszeit beträgt vier Jahre und beginnt mit der Bekanntgabe des Wahlergebnisses oder mit Ablauf der Amtszeit der bisherigen Vertretung. Sie erlischt in den folgenden Fällen vorzeitig:
Amtsniederlegung durch Vertrauensmann
Ausscheiden des Vertrauensmannes aus dem Arbeitsverhältnis
Verlust der Wählbarkeit
durch Beschluss des Widerspruchsausschuss des Integrationsamtes:
auf Antrag eines Viertels der wahlberechtigten Schwerbehinderten
Voraussetzung: grobe Pflichtverletzung
Kein Erlöschensgrund liegt in den folgenden Fällen vor:
»Das Amt der Schwerbehindertenvertretung endet nicht vorzeitig, wenn die für ihre Wahl notwendige Mindestanzahl von fünf nicht nur vorübergehend beschäftigten schwerbehinderten Beschäftigten im Betrieb oder in der Dienststelle während der Amtszeit unterschritten wird« (BAG 19.10.2022 – 7 ABR 27/21).
8 Varianten
Varianten der Schwerbehindertenvertretung (§ 22 SchbVWO) sind:
die Gesamtschwerbehindertenvertretung
die Bezirksschwerbehindertenvertretung
die Hauptschwerbehindertenvertretung
die Konzernschwerbehindertenvertretung